Читать книгу Robert im Bann des Lapislazuli - Jo Hartwig - Страница 6

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Belastende Beweise

Gleich nach dem Frühstück ruft Robert im Polizeipräsidium an und lässt sich mit dem Hauptkommissar verbinden.

„Robert, so früh schon?“, meldet sich Werner gut gelaunt. „Wo brennt’s denn schon wieder?“

„Gestern Nachmittag hätte es beinahe gebrannt“, erwidert Robert locker. „Bei uns in der Schule. Meine Freunde Chris und Tim konnten den Brandanschlag gerade noch verhindern. Darf ich Ihnen heute Nachmittag Beweismaterial vorbeibringen, das die beiden sichergestellt haben?“ Am anderen Ende tritt eine kleine Pause ein. Dann holt der Hauptkommissar hörbar Luft.

„Nein, Robert, du musst nicht extra ins Präsidium kommen. Ich bin sowieso bei euch auf dem Lerchenberg. Wir stellen ja heute Vormittag die Beute aus Gulays Keller sicher. Ich hol dich wieder von der Schule ab.“

„Okay, bis gegen eins“, sagt Robert. „Das Beweismaterial hab ich dann dabei.“

Auf dem Weg zur Schule wird Robert schon von Tim und Chris erwartet. Die beiden registrieren sofort den Kanister, den er in einer großen Tüte bei sich trägt. Tim platzt beinahe vor Neugier. „Triffst du heute den Hauptkommissar?“

Robert nickt. „Gleich nach der Schule. Ich hab ihm am Telefon schon von dem Brandanschlag erzählt, den ihr verhindert habt. Ihm blieb erst mal die Spucke weg.“

Kurz vor dem Schultor bleibt Robert stehen. Die tiefe Falte auf seiner Stirn zeigt an, dass er ein Problem auf sie zukommen sieht.

„Ihr könnt wirklich super mit „stone“ umgehen“, sagt er zögernd. „Aber wenn ihr in der nächsten Zeit noch ein paar dieser Krawallheinis erwischt und flachlegt, werden sich ganz rasant Legenden um euch bilden. Es wird dann immer schwerer für uns, das Geheimnis zu bewahren. Mein Tipp: drängt euch nicht in den Vordergrund! Wer so ein Zauberwort beherrscht, muss lernen, im Hintergrund zu bleiben.“ Bevor Tim und Chris antworten können, kommt ihnen Direktor Gerlach mit einem breiten Lächeln entgegen. Er geht mit ausgestreckten Händen auf die beiden zu. „Ihr seid die zwei, die gestern diesen Überfall vereitelt haben!“, ruft er aus und schüttelt beiden die Hand. „Frau Niemann hat mir von euerm Einsatz erzählt.“ Robert hat sich zurückgezogen und beobachtet zufrieden die Lobeshymne auf seine beiden Freunde aus einiger Entfernung.

„Nach dem Unterricht müsst ihr mir genau erzählen, was da abgelaufen ist!“ Der Direktor klopft beiden auf die Schulter. „Jetzt schon mal vielen Dank an euch. Wir sehen uns dann kurz nach eins in meinem Büro!“ Verlegen kommen Tim und Chris auf Robert zu. Doch der grinst nur. „Tja, da muss man durch auf dem Weg zum Helden“, zieht er sie auf. Dann setzt er ernst hinzu: „Denkt dran: kein Wort von „stone“ gegenüber dem Direktor!“

Der Vormittag zieht sich zäh wie Kaugummi. Der Zeiger scheint an der Uhr festzukleben! Roberts Gedanken schweifen immer wieder ab. Ob die Polizeiaktion im Hochhaus erfolgreich über die Bühne gehen wird? Und wie kann er helfen, das Problem mit dem Direktor zu lösen? Was haben die Einbrecher nur in Gerlachs Büro gesucht? Auch Chris und Tim sind abgelenkt. Im Unterricht sind ihre Gedanken bei dem bevorstehenden Gespräch im Allerheiligsten des Direktors, in den Pausen werden sie permanent belagert und müssen immer wieder erzählen, was gestern passiert ist. So gelingt es Robert leicht, sich in der großen Pause unbemerkt von seinen Freunden abzusetzen. Er geht zur Toilette, macht sich dort mit „invisible“ unsichtbar und läuft auf den Flur hinaus zum Direktionsbüro – das heißt, er will loslaufen, aber es scheint, als hätten sich alle Schüler gleichzeitig im Flur versammelt. Durch dieses Gewühl kann man unmöglich durchkommen, ohne einen anderen zu berühren. Vorsichtig schleicht Robert wieder zur Toilette zurück, überzeugt sich davon, dass er allein ist, und macht sich wieder sichtbar. Schon ertönt das Zeichen, dass die Pause vorbei ist. Aber das ist wohl der richtige Weg, denkt Robert: Er muss im Büro rumschnüffeln. Am besten wird er gleich nach dem Gespräch mit dem Hauptkommissar wieder in die Schule zurückkommen, vielleicht findet sich eine Spur. Endlich ist dieser Vormittag zu Ende. Alles drängt erlöst aus der Klasse und ins Freie. Chris und Tim geben Robert Bescheid, dass sie nach dem Gespräch mit Gerlach noch länger auf dem Schulgelände bleiben werden. Sie hoffen natürlich auf neue Zwischenfälle. Der Hauptkommissar wartet schon neben seinem BMW. Robert will sich sofort nach dem Stand der Dinge im Hochhaus erkundigen, aber Werner hebt abwehrend die Hände: „Steig erst mal ein, in diesem Affenzirkus kann sich ja kein Mensch unterhalten!“

Er startet den Motor und fährt ein paar Straßen weiter. Nachdem Werner den Wagen geparkt hat, mustert er sofort die große Plastiktüte mit dem Kanister. Robert folgt seinem Blick.

„Damit sollte wohl die Schule abgefackelt werden. Meine Freunde konnten es gerade noch verhindern“, erklärt er. „Die Täter haben sich verdrückt, aber den Kanister haben sie in der Eile im Büro liegen gelassen. Hoffentlich finden Sie noch Fingerabdrücke von den Burschen darauf!“ „Scheinst ja tüchtige Freunde zu haben. Die haben jedenfalls einiges riskiert“, erwidert der Hauptkommissar anerkennend. „Und offensichtlich habt ihr auch darauf geachtet, dass keine Spuren verwischt wurden. Super, morgen wissen wir mehr.“

Behutsam nimmt er die Tüte mit dem brenzligen Inhalt und legt sie nach hinten. Dann lehnt er sich gemütlich zurück und dreht sich zu Robert hin. „Am Morgen haben meine Leute die Geldkästen im Keller sichergestellt und Cemal Gulay und seinen Bruder Hassan in ihrer Wohnung verhaftet.“ Erleichtert atmet Robert auf. Irgendwie hatte er gefürchtet, dass doch noch etwas dazwischenkommen könnte. Trotzdem wirkt der Hauptkommissar nicht zufrieden.

„Merkwürdig ist, dass sich die beiden angeblich nicht erklären konnten, wie diese vier Metallkästen in ihren Keller gekommen sind. Sie beteuerten immer wieder, nichts davon zu wissen. Müssen grandiose Schauspieler sein!“ Mit einer müden Geste streicht sich Werner über die Stirn und fährt fort: „Aber wir haben ja noch den Mann, der im Geldtransporter gefesselt zurückgelassen wurde. Bei der Gegenüberstellung wird er hoffentlich bestätigen, dass Cemal Gulay der Fahrer war und dass Cemal und ein zweiter Mann, wohl dieser Hassan, ihn matt gesetzt haben und dann mit dem Geld abgehauen sind. Also wird ihnen all ihr Lügen nicht helfen. Aber mich macht es doch etwas nachdenklich, dass die beiden so einen absolut verwirrten Eindruck machen. Das kann doch nicht so einfach gespielt werden!“

In Gedanken vertieft, schaut der Hauptkommissar Robert an. Für eine Weile schweigen beide. Robert sieht wieder die merkwürdig abwesenden Augen der Brüder vor sich. Irgendetwas stinkt da gewaltig!.

„Der kleine weiße Renault gehört übrigens Hassan, aber auch er will nichts von einem Überfall auf einen Geldtransporter wissen.“ Werner seufzt resigniert. „Wirklich verrückt: Auf der einen Seite ist für uns alles klar, der Schuldige steht fest... auf der anderen Seite ist dieser Fall noch immer ziemlich undurchsichtig!“ Werner strafft sich und schaut Robert direkt an. „Hast du Lust, mit aufs Präsidium zu kommen und dir die beiden mal anzuschauen? Vielleicht fällt dir noch etwas Ungewöhnliches auf?“

„Logo“. Robert nickt zustimmend „Fahr’n wir los!“

Im Präsidium bringen die Beamten zunächst Hassan Gulay in das Büro des Hauptkommissars hoch. Robert sitzt hinter einem schnell hingestellten Wandschirm, so dass Hassan ihn nicht sehen kann. Werner und zwei Beamte nehmen mit dem unbeteiligt dreinblickenden Türken am runden Tisch Platz. Eben bieten sie ihm eine Zigarette an, als das Telefon, das vor ihnen auf dem Tisch steht, klingelt. Werner nimmt ab, lauscht kurz, dann hält er Hassan den Hörer hin. Gleichzeitig schaltet er den Lautsprecher an: „Herr Gulay, ein Gespräch für Sie.“

Teilnahmslos, ohne eine Miene zu verziehen, nimmt Hassan den Hörer entgegen. Robert wundert sich, dass der Hauptkommissar ihm, ohne nachzufragen, so einfach den Höhrer gibt. Er muss sich doch fragen, wer Gulay so einfach im Präsidium anrufen will. Kaum gedacht, hört er schon die eintönige Stimme des Mannes: „Ja, wer ist da?“ Alle im Raum hören gespannt zu.

„Adebar!“, sagt eine dunkle, raue Stimme.

Nur dieses eine Wort, danach ertönt sofort wieder das Freizeichen. Der Anrufer hat aufgelegt.

Alle schauen sich verblüfft an.

„Was war d...?“

Werner bleibt das Wort im Halse stecken, denn Hassan ist abrupt aufgesprungen und wirft den Telefonhörer weg. Sein Stuhl kippt nach hinten und fällt mit Gepolter zu Boden.

Robert beugt sich vor und sieht gerade noch, wie Hassan zum geschlossenen Fenster läuft und ohne zu zögern mit voller Wucht gegen die Scheibe springt. Mit lautem Klirren splittert das Glas, als der schwere Körper dagegen prallt. In einem Regen von Scherben verschwindet Hassan nach unten. Das alles hat sich innerhalb von Sekunden abgespielt, bevor irgendjemand eingreifen konnte. Einige blutverschmierte Glassplitter sind auch nach innen gefallen.

Voller Entsetzen sprinten die beiden Beamten zum Fenster und starren hinunter, während der Hauptkommissar reaktionsschnell von seinem Platz aus zum Telefon greift und die Rettung alarmiert. Dann ruft er die zwei vom Fenster weg.

„Holen Sie mir sofort diesen Cemal Gulay! Sagen Sie ihm aber noch nicht, dass sein Bruder eben aus dem zweiten Stock gesprungen ist. Bringen Sie ihn in den Nebenraum.“

Besorgt wendet er sich Robert zu. „Verdammt, das hätte ich dir gern erspart, das ist keine Kost für einen Vierzehnjährigen. Wie fühlst du dich? Bist du einigermaßen okay?“

Robert gibt sich gewollt lässig: „Keine Sorge, Herr Werner, ich bin doch kein Baby mehr“, wehrt er schnell ab. „Ich frag mich nur, was da gerade abging.“

„Hmm….schaut stark nach mentaler Beeinflussung aus“, erwidert der Hauptkommissar und schaut ihn nachdenklich an. „Es könnte so etwas wie ein posthypnotischer Befehl gewesen sein. Wir haben nur das Wort „Adebar“ gehört, und sofort ist der Mann wortlos, wie eine aufgezogene Puppe, aufgestanden und aus dem Fenster gesprungen!“

Werner legt Robert beruhigend eine Hand auf die Schulter und begleitet ihn zur Tür.

„Tut mir Leid, ich wollte dich selbst nach Hause fahren, aber jetzt kann ich unmöglich hier weg. Einer meiner Leute bringt dich zum Lerchenberg hoch. Ich rufe dich an, sobald wir mehr Klarheit haben.“

Erst als Robert nach Hause in die Wohnung kommt, holt ihn das, was er soeben erlebt hat, mit voller Wucht ein. Dass ein Mensch eben noch ganz normal mit anderen zusammen am Tisch gesessen hat, und plötzlich steht er auf und springt ohne erkennbaren Grund aus dem Fenster – das lässt sich nicht so einfach abschütteln! Gespenstisch war die Lautlosigkeit, in der sich das alles abgespielt hat. Der Mann lief einfach zum Fenster und sprang hinaus, so mir nichts, dir nichts, als wäre es das Normalste auf der Welt. Wie in Zeitlupe sieht Robert noch einmal vor sich, wie der Körper voll gegen das Glas prallte und einige Glassplitter sich in die Haut bohrten, bevor er nach unten verschwand. Es war einfach grotesk und unheimlich.

Robert merkt, dass er unbedingt etwas tun muss. Jetzt allein in der leeren Wohnung hocken und grübeln, das wäre Gift! Ohnehin muss er ja noch mal zur Schule und im Büro des Direktors nachschauen, ob da irgendetwas Auffälliges zu finden ist.

Bevor er sich auf den Weg macht, schaut er noch schnell in die Küche. Das kalte Huhn, das seine Mutter ihm bereitgestellt hat, reizt ihn nicht sonderlich. Dafür hat er plötzlich unbändige Lust auf den Schokoladenpudding, der ihm aus dem Kühlschrank entgegenlacht. Während Robert sich hungrig darüber hermacht, spürt er, wie seine Lebensgeister wiederkehren.

Gestärkt und ruhiger startet er in Richtung Schule. Kurz vor dem Schulgebäude macht er sich unauffällig mit „invisible“ unsichtbar. An der Eingangstür zögert er kurz. Eine Tür, die sich öffnet, ohne dass ein Mensch zu sehen ist, das würde bestimmt auffallen, sollte zufällig jemand im Flur sein. Also zieht er es vor, mit „pierce“ einfach hindurchzugehen.

Flur und Treppenhaus sind leer. An den Geräuschen, die durch die Tür dringen, hört Robert, dass Frau Niemann noch im Büro ist. Er wundert sich, dass die Schulleitung nach diesen Überfällen immer noch so sorglos ist und die Sekretärin ganz allein im Büro arbeiten lässt. Wenigstens der Hausmeister könnte doch irgendwo zu sehen sein! Wieder verwendet Robert „pierce“ und steht gleich darauf vor dem Schreibtisch der Sekretärin. Sie blickt nicht einmal auf. Jetzt, da sie sich unbeobachtet fühlt, sitzt sie bequem, nur in Strümpfen, hinter ihrem Schreibtisch, arbeitet in irgendwelchen Akten und schiebt sich ab und zu eine Praline in den Mund. Ihre Schuhe stehen neben dem Papierkorb.

Robert juckt es in den Fingern, ihr einen kleinen Streich zu spielen. Er beugt sich leise vor und legt die braunen, hochhackigen Damenschuhe in den Papierkorb. Frau Niemann hebt nicht einmal den Kopf. Was wird sie später denken, wenn sie ihre Schuhe wieder anziehen will? Schade, denkt Robert, dass Tim und Chris nur das eine Zauberwort „stone“ vom Amulett bekommen haben! Zu dritt hätten sie bestimmt auch riesig Spaß mit „invisible“ und „pierce“!

Doch dann ermahnt er sich an sein Vorhaben. Es geht hier schließlich nicht um dumme Jungenstreiche! Er schiebt sich schnell an der Wand entlang zur Tür ins Nebenzimmer und gleitet lautlos mit „pierce“ ins Büro des Direktors. Dort setzt er sich erst mal auf die Couch und lässt seine Blicke durch den Raum schweifen. Wo könnte noch etwas versteckt sein, was nicht andere schon gefunden haben? An der Wand hinter dem großen Schreibtisch hängt eine Tafel mit sämtlichen Stundenplänen. Dann steht da noch ein Schrank mit halb geöffneten Türen. Er ist fast leer – wenn einer was verstecken wollte, wäre das mit Sicherheit nicht der richtige Platz. Das große, vollgestopfte Bücherregal erscheint Robert schon interessanter. Ja, das könnte eventuell als Versteck dienen. In der Masse der Bücher, die sich da stapeln, lässt sich leicht einiges verbergen! Robert will eben zur Bücherwand gehen, als draußen bei Frau Niemann das Telefon läutet. Vorsichtshalber läuft er zur Tür und steckt mit „pierce“ seinen Kopf hindurch. Er sieht, wie die Sekretärin den Hörer abhebt, dann urplötzlich erstarrt und wieder auflegt. Sie steht auf und beugt sich zu dem Papierkorb hinunter.

Robert gleitet jetzt ganz durch die Tür und schleicht neugierig näher. Jetzt kann er sehen, wie die Sekretärin gleichmütig ihre Schuhe aus dem Papierkorb nimmt, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Sie fragt sich nicht, wieso ihre Schuhe plötzlich im Papierkorb stehen. Danach kramt sie ein kleines Paket unter dem Altpapier hervor und steckt es in ihre Handtasche. Ihre Bewegungen rufen bei Robert sofort wieder das Bild von Hassan Cemal in Gedächtnis: die gleichen stereotypen Abläufe! Allerdings springt sie nicht aus dem Fenster, sondern schlüpft in ihre Schuhe, geht mit ihrer Handtasche aus dem Büro und schließt hinter sich zu.

Einen Moment wartet Robert noch ab, dann gleitet er mit „pierce“ durch die verschlossene Tür und sieht gerade noch Frau Niemann die Treppe hinuntergehen. Was plant diese Frau? Bisher hat er sie immer für völlig normal und unauffällig gehalten. Aber dieses roboterhafte Verhalten, das ist alles andere als normal! Sie verlässt das Gebäude und stöckelt direkt zu ihrem kleinen grünen Corsa auf dem Parkplatz. Robert läuft um die Ecke des Schulgebäudes, wo ihn niemand sehen kann, und macht sich mit „invisible“ wieder sichtbar.

„Dulgur, komm schnell!“, ruft er leise. Er muss nicht lange auf die kleine Taube warten. Schon hört er ein kurzes Flattern, und Dulgur sitzt vor ihm. Freundlich gurrend schaut sie zu ihm auf. Vom Parkplatz her ertönt das Geräusch des startenden Motors. Robert muss sich beeilen!

Er geht rasch in die Hocke und streicht über den Kopf der kleinen Taube.

„Dulgur, schnell, kannst du das kleine grüne Auto beobachten, das gerade startet? Sag mir, wohin es fährt! Ich bin sofort im Hochhaus in meinem Zimmer, mein Fenster ist offen!“

Dulgur fragt nicht lange, sondern steigt ohne zu zögern auf und folgt dem kleinen Auto. Beruhigt macht sich Robert auf dem Weg nach Hause. Auf seine Tiere ist Verlass!

Der Anrufbeantworter hält eine Nachricht bereit: Der Hauptkommissar bittet um Rückruf.

„Wir sind in einer eigenartigen Situation“, beginnt Werner sofort. „Hassan Gulay wurde ins Krankenhaus überführt. Sein Zustand ist bedenklich, darüber werden wir morgen mehr Informationen haben. Aber jetzt kommt’s. Sein Bruder Cemal hat angeblich überhaupt keine Ahnung, was da geschehen sein soll. Er macht einen total verstörten Eindruck und fragt uns immer wieder, wieso er hier ist. Verrückterweise fragt er auch nach seinem Dienstwagen, dem Geldtransporter, den er gefahren haben will.“

„Wie haben die beiden denn heute Vormittag reagiert, als sie in ihrer Wohnung verhaftet wurden?“, fasst Robert nach.

„Überhaupt nicht, sie wirkten völlig teilnahmslos und haben sich, ohne auch nur den geringsten Widerstand zu leisten, einfach abführen lassen.

„Aber“,… die Stimme des Hauptkommissars hebt sich ein wenig, als hätte er gerade eine Eingebung erhalten, „das fällt mir jetzt gerade auf: Wie hypnotisiert wirkten sie! Das passt komplett mit ihrem Verhalten hier im Präsidium zusammen.“ Plötzlich hat Werner es eilig. „Robert, ich muss weitermachen, wir hören voneinander!“

Robert setzt sich nach dem Gespräch an seinen Schreibtisch und beginnt mit den Hausaufgaben. Doch seine Gedanken schweifen immer wieder ab. Seit er das Amulett um den Hals hängen hat, bestimmen die Ereignisse fast immer seinen Tagesablauf. Robert empfindet das nicht als Belastung, sondern irgendwie ist das alles sehr spannend. Abgesehen davon, dass er sich auch bei der Polizei einen guten Namen gemacht hat, was er aber nicht wirklich beabsichtigt hat, hat er sehr viel gelernt. Er hat gelernt, mit seinen Problemen alleine fertig zu werden. Er darf sich ja bei keinem Menschen Rat holen, er darf ja niemandem sagen was er weiß. Immer wieder ist seine Kreativität gefragt, immer wieder muß er selbst Lösungen herbeiführen. Gut, seine Zauberkräfte und die Tiere helfen ihm, aber er darf nichts sagen! Das ist wirklich nicht einfach. Genauso ist es jetzt wieder. Erst sah es nur nach einem Überfall auf den Direktor aus, aber nun scheint alles irgendwie miteinander in Zusammenhang zu stehen: der Geldraub, die beiden Gulays und jetzt auch noch Frau Niemann ...

Ob Svenja Gerlach die Schlüsselfigur ist? Was hat Svenja getan, dass die Fremden das Büro ihres Vaters überfallen haben? Und was genau haben die dort gesucht? War es wirklich Rauschgift? Es fällt verdammt schwer, sich bei so vielen offenen Fragen auf Goethes „Faust“ zu konzentrieren! DieLiteraturaufgabe ist, eine Charakterisierung des Doktor Faustus zu schreiben. „Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor ...“, liest Robert und denkt: Das passt auch auf mich. Mit der Magie hatte Faust es auch. Und mit dem Teufel. Wer weiß, welche teuflische Kraft bei den Gulays und Frau Niemann im Spiel ist? Mit rechten Dingen kann das jedenfalls kaum zugehen! Jetzt fühlt sich Robert dem alten Faust schon etwas näher, und er beginnt zu schreiben. Keine halbe Stunde später ist er fertig.

Jetzt nur noch seine zwei Englischvokabeln des Tages: „convince“ ‚überzeugen’ und „conversion“ ‚Verwandlung’. Robert kann die Wörter gerade noch einmal wiederholen, als sich Dulgur flatternd auf dem Fensterbrett niederlässt. Erleichtert klappt er seine Unterlagen zu und schaut die kleine Taube erwartungsvoll an. Sie trippelt aufgeregt hin und her. „Das kleine grüne Auto ist zum Zitadellenweg gefahren. Eine Frau ist ausgestiegen und in die kleine Kirche gegangen, Ecke Wilhelmiter Straße. Leider konnte ich ihr da hinein nicht folgen!“ Schuldbewusst senkt Dulgur das Köpfchen. Robert streichelt ihr leise lächelnd über die zarten Federn am Hals. „Danke, Dulgur, du hast mir wieder mal sehr geholfen!“ Damit stehen die nächsten Schritte fest: Als Erstes will Robert zu der kleinen Kirche fahren, um zu sehen, was da los ist. Und dann muss er sich unbedingt diese Svenja näher anschauen.

Ob Frau Niemann noch mal zur Schule zurückgefahren ist? Robert holt seine Inliner und fährt wieder mit dem Fahrstuhl nach unten. Draußen wird es schon dunkel. Eher unwahrscheinlich, dass die Sekretärin so spät noch in ihrem Büro ist, denkt Robert und überlegt schon, ob er nicht doch lieber gleich in die Altstadt fahren soll. Aber jetzt ist es nicht mehr weit zur Schule, und schon als er um die Ecke rollt, sieht er unerwartet den kleinen grünen Flitzer auf dem Schulparkplatz stehen. Verdammt, jetzt hat er die Skates an den Füßen, damit kann er nicht geräuschlos sein! Schnell zieht er sie aus und legt sie hinter den Kasten mit dem Streusand, der auf dem Schulhof steht. Auf Socken läuft er wieder mit „pierce“ durch das Schultor, springt, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hoch, macht sich oben vor dem Sekretariat mit „invisible“ unsichtbar und huscht geschmeidig mit „pierce“ durch die Tür. Frau Niemann sitzt genau so da wie am Nachmittag, die Schuhe neben dem Papierkorb, und arbeitet. Robert stellt sich vorsichtig vor ihrem Schreibtisch auf und sagt „remember“ zu ihr. Die Sekretärin schaut freundlich in seine Richtung, als ob sie ihn sehen würde, und lächelt dabei.

„Frau Niemann, Sie wurden gerade zuvor angerufen und sind weggefahren“, sagt Robert ihr auf den Kopf zu. „Was haben Sie in dieser Kirche gemacht?“

„Ich war nicht weg“, gibt sie freundlich, aber erstaunt, zurück. „Und mich hat niemand angerufen!“ Robert ist fassungslos. Das kann doch nicht sein! Bisher hat jeder Mensch, den er mit „remember“ angesprochen hat, exakt Auskunft gegeben, er war gar nicht fähig zu lügen. Und jetzt das! Er hat es doch mit eigenen Augen gesehen, wie sie aufgestanden ist und mit einem Päckchen das Büro verlassen hat!

„Ich war auch in keiner Kirche“, unterbricht Frau Niemann seine Gedanken. „Ich habe hier so viel aufzuarbeiten, dass ich mir gar nicht erlauben kann herumzutrödeln!“ Das Zauberwort versagt total! Sie beantwortet zwar freundlich alle seine Fragen, aber von ihrem Ausflug weiß sie nichts. Robert beschließt, einen zweiten Test zu machen.

„Können Sie mir sagen, wo ich die Tochter unseres Direktors erreichen kann?“

„Ja gerne, einen kleinen Augenblick.“

Die Sekretärin steht auf, geht zu einem Schrank und zieht eine Schublade auf.

„Da haben wir es schon“, lächelt sie und zieht eine Karteikarte hervor. „Svenja wohnt nicht mehr bei ihren Eltern, sondern in der Wilhelmiter Straße 11. Das ist in der Altstadt, gleich bei der Zitadelle.“

Sie geht wie selbstverständlich an ihren Platz zurück und vertieft sich wieder in ihre Akten.

Was war das denn?, grübelt Robert, während er aus dem Büro schlüpft. „Remember“ hat also gar nicht versagt, sondern die Frau wusste wirklich nichts von ihrem Ausflug in die Kirche. Aber wieso nicht? Da wird ja immer interessanter! Zurück im Hochhaus sucht Robert sofort seine beiden Ratten auf.

„Freunde, ich brauche bis morgen wieder eine Information von euch!“ Alban und Arix spitzen freudig ihre Ohren. „An der Ecke Zitadellenweg und Wilhelmiter Straße ist eine kleine Kirche“, erklärt er. „Ich brauche einen Lageplan von dem Gebäude, und vor allem muss ich wissen, ob dort irgendwelche verborgenen Räume sind!“

„Kein Problem für uns! Morgen früh kannst du den Plan abholen“, versichern beide eifrig im Chor.

Robert im Bann des Lapislazuli

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