Читать книгу Robert im Bann des Lapislazuli - Jo Hartwig - Страница 7

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Geheimnisvolle Zitadelle

Bevor er sich auf den Weg zur Schule macht, fährt Robert in den Keller und trifft sich mit Alban und Arix. Die beiden Ratten rudern aufgeregt mit den Vorderpfoten. „Robert, allein kannst du dich da unmöglich zurechtfinden!“, piepst Alban sofort los. „Der ganze Hügel, auf dem diese Kirche steht, ist unterhöhlt. Außerdem geht von dort aus noch ein unterirdischer Gang zum Jakobsberg hinüber, auf dem die Zitadelle steht.“

„Aber Cisca wird dir helfen“, wirft Arix ein, und seine schwarzen Augen bekommen einen schwärmerischen Glanz. „Sie ist die schönste Ratte, die ich kenne! Allein ihr glänzend schwarzes Fell ... mmmh, und diese zarten rosa Pfoten!“

„Was ist denn mit dir los?“, braust die weiße Ratte auf. „Du schnurrst ja wie ein verliebter Kater! Wir haben doch verabredet, dass wir sie vergessen wollen, sie hält uns doch nur von der Arbeit ab!“

„Das ändert nichts daran, dass sie mir gefällt.“ Arix stellt sich kampfbereit vor Alban auf. „Du bist ja nur eifersüchtig! Weil du gesehen hast, wie sie sich freut, wenn sie mich sieht. Außerdem passt sie mit ihrem schwarzen Fell vorzüglich zu mir!“

„Unsinn, mich hat sie angestrahlt, du hast gar nicht bemerkt, dass du überflüssig warst! Du bist ja blind wie ein Maulwurf!“

„Sag das noch mal!“

Erregt stehen die beiden Ratten sich gegenüber, die Köpfe geduckt, das Fell gesträubt.

„Halt, Freunde, ist ja gut.“ Robert geht in die Hocke und streichelt den beiden sanft über den Rücken. „Ich werde Cisca treffen und sie von euch beiden grüßen, okay?“

Sie scheinen ihn nicht zu hören. Kampfbereit zischen sie sich an, als wollten sie jeden Moment aufeinander losgehen. Da greift Robert entschlossen zu und hebt sie zu sich hoch, die schwarze Ratte in der linken, die weiße in der rechten Hand.

„He, ihr beiden Hitzköpfe, bisher wart ihr ein Spitzenteam, das soll auch so bleiben! Was bringt es denn, wenn ihr euch gegenseitig das Fell zernagt? Das törnt euer Rattengirl bestimmt nicht an, und uns hilft es auch nicht weiter! Also streitet euch nicht, sondern lasst uns weiter zusammenarbeiten, okay?“

Tatsächlich spürt er, wie sich die Rücken der beiden lockern und langsam die Spannung aus den angriffslustigen Fellkörpern weicht.

„Na also ..., jetzt bin ich aber echt neugierig, diese Cisca kennen zu lernen“, grinst Robert. „Sie muss ja wirklich was Besonderes haben, wenn sie euch beide so in Fahrt bringt.“

Er geht in die Hocke und setzt seine zwei Freunde wieder ab. „Sie ist nicht nur wunderschön, sondern auch sehr intelligent“, fiept Alban stolz.

„So intelligent, dass sie sich selber für ihren Partner entscheiden wird“, seufzt Arix und rückt versöhnlich neben die weiße Ratte.

„Und wo finde ich sie?“, drängt Robert.

„Wenn du zu dieser Kirche kommst, ruf ganz leise nach Cisca. Sie weiß Bescheid und wird sofort da sein. Alles andere kannst du mit ihr direkt besprechen.“

Der Vormittag in der Schule beginnt friedlich. Aber Robert registriert, dass der Hausmeister jetzt öfter als sonst durch die Flure streift und immer wieder im Büro des Direktors verschwindet. Offensichtlich befürchtet der Direktor nach wie vor, dass die Einbrecher es wieder versuchen werden.

In der großen Pause hört Robert lautes Grölen aus einer der hinteren Ecken des Schulhofs. Im Näherkommen sieht er, dass sich da zwei Schüler gegenüberstehen und einander wüst beschimpfen. Ein kleines Rudel von Sensationshungrigen hat sich um die beiden Typen versammelt und hetzt sie weiter auf. In der Zuschauermeute drum herum entdeckt Robert auch Chris und Tim. Unerwartet zieht einer der beiden Streithähne einen mit hellem Leder umwickelten Stahlschläger aus seiner Hosentasche und greift durch die daran befestigte Schlaufe. Er hebt den Arm in Erwartung des Schlages und macht dabei einen schnellen Ausfallschritt auf sein Gegenüber zu. Im selben Augenblick fällt er voll vornüber auf das Pflaster, der Stahlschläger wird unter seinem Körper begraben. Zum ersten Mal erfährt Robert aus nächster Nähe, wie „stone“ auf einen unbeteiligten Zuschauer wirkt. Absoluter Wahnsinn!

Der Bursche bleibt unbeweglich liegen. Er ist so erschrocken, dass er sich erst einmal besinnen muss, was da soeben abgegangen ist. Endlich hebt er den Kopf und blinzelt verblüfft in die Runde. Alle lachen und grölen unbarmherzig über seinen misslungenen Auftritt.

Dr. Bachty, der heute Aufsicht hat, kommt dazu und bereitet dem Spuk energisch ein Ende.

Robert blickt zu seinen beiden Freunden hinüber. Sie haben ihn auch bemerkt. Anerkennend hebt er den rechten Daumen in ihre Richtung. „Stone“ beherrschen seine Freunde wirklich schon perfekt!

Zu Hause nimmt sich Robert kaum Zeit zum Mittagessen, dann saust er schon wieder los und fährt mit dem Bus in die Altstadt. Voller Neugier geht er den menschenleeren Weg zur Zitadelle hoch. Diese Gegend kennt er kaum. Die Kirche an der Ecke zur Wilhelmiter Straße sieht eigentlich gar nicht aus wie eine Kirche. Es ist ein länglicher Flachbau, der sich auf einem Hügel hinter dichten Büschen versteckt und von der Straße aus kaum zu sehen ist. Nur das von der Mittagssonne beschienene Kreuz an der Spitze des Frontgiebels erinnert an eine Kirche, ebenso das große, runde Fenster etwas unterhalb.

Robert schaut sich vorsichtig um, dann steigt er über die breite Treppe aus Natursteinen zur Kirche hoch. Auch diese Treppe ist von dichten Büschen gesäumt. Nach links und rechts gehen dann nochmals Stufen zu zwei kleineren, massiven Holztüren ab, die ins Innere des Gebäudes führen. Aber Robert will zuerst das Umfeld erkunden.

Er folgt dem schmalen, mit Steinen ausgelegten Weg an der linken Tür vorbei und geht vorsichtig bis zur Ecke des Gebäudes vor. Hier ist der Blick nach unten zur Straße hin mit Büschen und Bäumen versperrt. Robert hat eher das Gefühl, er würde sich in einem Wald befinden, als im Zentrum der Altstadt. Cool, eine versteckte Kirche mitten in der Stadt!

An der Längsseite des Gebäudes sind drei schmale Fenster mit bunten Glasmosaiken, durch die schwaches, flackerndes Kerzenlicht schimmert. Merkwürdig nur, dass alle Fenster massiv vergittert sind. Robert duckt sich und schleicht unter den drei dicht nebeneinander liegenden Fenstern vorbei, um nicht gesehen zu werden. Kein Laut dringt aus der Kirche. Robert geht unternehmungslustig an der folgenden fensterlosen Wand entlang weiter zur Rückseite des Gebäudes. Er kommt zu einem breiten Doppeltor, das sich nicht öffnen lässt und geht um die Ecke zur zweiten Längsseite. Diese Wand ist aus Natursteinen geschichtet. Ungefähr in ihrer Mitte fällt Robert eine schwarze, wuchtige Stahltür auf, die einen drohenden Eindruck macht. Von dem dicht bewachsenen Wegrand kommt ein eigenartiger Geruch nach Moder und altem Müll, was die hier wirkende Stimmung noch bedrohlich verstärkt.

Unentschlossen ist Robert wieder an seinem Ausgangspunkt an der Vorderseite der Kirche angelangt und überlegt, ob er jetzt nach Cisca rufen soll. Plötzlich sind Schritte zu hören, die sich schwer die Stufen heraufquälen. Sofort macht er sich mit „invisible“ unsichtbar und stellt sich wartend neben die linke Eingangstür. Zwei ziemlich beleibte Männer keuchen die Steinstufen hoch. Oben verschnaufen sie kurz und kommen dann auf die Tür zu, neben der Robert wartet. Erstaunt schauen sie ihn an, sagen aber nichts, sondern öffnen wortlos die Tür und gehen hinein. Robert ist der Schreck glühend heiß in die Glieder gefahren. Wieso haben die beiden Männer ihn so direkt angeschaut? Er blickt an sich herunter – tatsächlich, er ist wieder vollständig sichtbar! Merkwürdig, was ist da los? Er muss an Frau Niemann denken, die hat auch zuerst auf „remember“ gar nicht reagiert ...

Soll das vielleicht heißen, dass seine Zauberkräfte schwinden? Robert gibt sich einen Ruck. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt zum Grübeln! Er will sich lieber im Inneren der Kirche ein wenig umsehen. Aber als Unsichtbarer eine Tür zu öffnen, von der er nicht weiß, was, und vor allem wer ihn dahinter erwartet, ist zu riskant. Also entscheidet er sich für „pierce“. Mit leicht vorgebeugtem Kopf geht er auf die Tür zu und sagt leise sein Zauberwort. Der Schock trifft ihn diesmal doppelt stark. Mit dem Kopf voran knallt Robert mit voller Wucht gegen das raue Holz der Tür. Es ist, als ob er einen Schlag gegen Stirn und Nase bekommen hätte. Auch seine linke Hand prallt heftig gegen das Holz, es gibt einen lauten, dumpfen Schlag. Robert taumelt zurück und wäre fast über die erste Steinstufe nach unten gefallen. Erschrocken setzt er sich auf die Stufe. Was ist denn jetzt geschehen? Er spürt ein warmes Rinnsal auf seinen Augenbrauen, das weiter nach unten tropft. Seine Finger sind rot, als er sie vor die Augen hält. Blut!

Hinter ihm öffnet sich die Tür. Robert dreht sich alarmiert um und sieht einen hageren, großen Mann im schwarzen Anzug auf sich zukommen.

„Um Himmels Willen, was ist denn mit dir passiert?“, sagt der Schwarzgekleidete freundlich und beugt sich zu Robert hinunter. Er zieht ihm die Hand vom Gesicht weg und sieht, dass Robert stark blutet.

„Magdalene, holen Sie bitte ein Pflaster, wir müssen dem Jungen helfen!“, ruft er über die Schulter zurück. Zu Robert gewandt sagt er mit leiser Stimme: „Komm mit hinein, wir kriegen das schon wieder hin.“ Robert ist immer noch so geschockt, dass er einfach wortlos aufsteht und sich von dem Mann ins Gebäude führen lässt. Seine Gedanken überschlagen sich. Er hat sich unsichtbar gemacht, das hat aber nicht funktioniert, denn die beiden Männer haben ihn angestarrt, als sie an ihm vorbeigegangen sind. Und „pierce“ war auch wirkungslos, das hat er gerade mehr als deutlich zu spüren bekommen. Nur langsam gewöhnen sich seine Augen an das dämmerige Licht der Kerzen im Innern des Gebäudes. Es ist wirklich eine Kirche. In der Mitte steht der Altar, über dem ein schlichtes Holzkreuz hängt, dahinter endet der Raum mit einer schwarzen Wand. Erst als Robert näher kommt, erkennt er, dass die ganze Wand mit schwarzem Stoff bespannt ist. Links und rechts im Raum sind jeweils die drei schmalen Fenster, die Robert schon bei seinem Erkundungsgang außen herum gesehen hat. An den Wänden zwischen den Fenstern hängen Bilder, die Szenen aus der Bibel darstellen. Oben auf der Empore, unter dem runden Fenster, sind Orgelpfeifen zu sehen.

Vollkommen leer stehen die Bankreihen da. Wo sind die beiden dicken Männer, die eben in die Kirche gegangen sind? Robert schaut sich suchend um, aber er entdeckt keine andere Tür im Raum als die, durch die er hineingekommen ist. Er wischt sich über die Augen. Die Wunde auf seiner Stirn blutet stärker. Als er sich wieder umdreht, sieht er gerade noch, wie sich eine Öffnung hinter dem Altar schließt. Diese Tür hinter dem lockeren Stoff hat er zuvor gar nicht wahrgenommen! Eine kleine, dunkelhaarige Frau kommt mit einer flachen Metallschale auf ihn und seinen Begleiter zu.

„Du blutest ja stärker, als ich angenommen habe.“ Sanft zieht sie Roberts Hände von seinem Gesicht weg und betrachtet ihn aufmerksam. „Komm mit nach innen, wir müssen die Wunde reinigen.“ Roberts Stirnfalte vertieft sich. Wieso sagt sie nach innen und nicht nach hinten?

„Meister, so können wir ihn nicht gehen lassen. Das Blut vom Boden wische ich gleich danach weg.“ Ihre Stimme klingt unterwürfig. Robert hat den Eindruck, sie würde sich am liebsten noch vor dem Schwarzgekleideten verbeugen. Mit milder Stimme und einem warmen Lächeln stimmt der Mann zu. „Gut, Magdalene, ich komme mit und werde mich mit dem Jungen noch etwas unterhalten.“

Neugierig folgt Robert der Frau hinter den Altar. Sie drückt auf eine unauffällige Knopfleiste, worauf sich eine mit Stoffbahnen getarnte Tür beiseite schiebt. Robert stellt sich darauf ein, in einen völlig finsteren Raum zu kommen, denn bei seinem Rundgang um das Gebäude war in dieser hinteren Hälfte des Hauses kein Fenster zu sehen. Doch als die Tür den Blick auf den Raum freigibt, wird Robert von hellem Sonnenlicht geblendet. Ganz schön raffiniert angelegt: Dieser Raum hat zwar kein Fenster, aber dafür ist das Dach aus Glas, so dass das Tageslicht ungehindert Einlass findet. Sanft wird Robert von hinten weitergeschoben. Im Vorbeigehen nimmt er flüchtig wahr, dass eine Menge Menschen an Tischen, die in kleinen abgeteilten Kabinen stehen, versammelt sind. Was sie dort genau tun, kann er nicht erkennen.

Schon geht es nach links durch eine Tür und danach weiter über eine Wendeltreppe eine Etage tiefer. Erstaunt registriert Robert den hell erleuchteten Vorraum, von dem mehrere Türen abgehen. Magdalene öffnet die ihnen gegenüberliegende, und sie kommen in einen Raum, der wie eine Arztpraxis eingerichtet ist: weiß und klinisch sauber. Fenster ist keines zu sehen. Robert erinnert sich an die Auskunft seiner Ratten, dass der ganze Hügel unter der Kirche ausgehöhlt sei. Welche Räume mögen sich hier noch verbergen?

Robert ist mit Magdalene allein in diesem Zimmer. Während er sich auf eine weiße Liege setzt, bringt sie schon eine Schüssel mit warmem Wasser und beginnt vorsichtig, sein Gesicht zu säubern. Das macht sie sehr sanft und sichtlich bemüht, ihm keine Schmerzen zuzufügen. Als sie ihm das Blut sorgfältig aus seiner tiefen Stirnfalte wischt, ergreift er seine Chance. Er schaut ihr direkt in die Augen und flüstert leise: „remember“

Ihr voller Mund verzieht sich zu einem Lächeln. „Was hast du gesagt? Tut mir Leid, ich habe dich nicht verstanden.“

Fast hat Robert damit gerechnet, aber trotzdem trifft es ihn gewaltig. Was ist da bloß los, wieso funktionieren seine Kräfte nicht mehr? Magdalenes blaue Augen, die immer noch fragend auf ihn gerichtet sind, bringen ihn wieder in die Wirklichkeit zurück.

„Nein, nein, schon gut, es ist nichts!“ Sie gibt sich damit zufrieden. Ohne weiter nachzufragen wäscht sie sein Gesicht ab und klebt ihm ein breites Pflaster auf die Stirn. „So, das wär’s!“ Sie fasst Robert leicht bei der Schulter und schiebt ihn in Richtung Tür. „Der Meister wartet schon auf dich.“ Vom Vorraum öffnet Magdalene eine Tür auf der linken Seite und lässt Robert, an sich vorbei, eintreten. Diesmal kommt Robert in ein dunkel und gemütlich wirkendes Büro. Die Wände sind rundum mit dunklem Holz verkleidet, die gegenüberliegende Fläche wird fast gänzlich von einer riesigen Bücherwand eingenommen, und davor dominiert ein großer Schreibtisch. Rechts neben der Tür lädt eine gemütliche Sitzgarnitur zum Lümmeln ein, links neben dem Schreibtisch ist die Wand halb geöffnet, doch lässt sich nicht erkennen, was dahinter ist.

„Mein Name ist Golubkardian.“ Lächelnd kommt der Schwarzgekleidete auf Robert zu, legt einen Arm um seine Schulter und führt ihn zu einem der tief gepolsterten Sessel. „Jetzt sag mir, wie du heißt und wieso du hier an unserer Pforte warst.“ Seine dunklen Augen ruhen forschend auf Robert. Robert spürt, dass von diesen Augen ein starker Zwang ausgeht. Er kann sich kaum aus diesem Blick lösen.

„Mein Name ist Robert, ich ... ich wollte mir nur diese Kirche anschauen.“ Robert versinkt tief in dem riesigen Rückenkissen. „Aber vor der Tür bin ich gestolpert und mit dem Gesicht gegen das Holz gefallen. Vielen Dank, dass Sie mir geholfen haben.“ „Das ist doch selbstverständlich, Robert.“ Der Mann lässt sich auf der Couch gegenüber nieder. „Diese Kirche ist unser Heim. Unsere Mitglieder üben hier eine äußerst interessante Tätigkeit aus. Nachdem du nun schon einmal hier bist, werde ich dir noch einiges zeigen, was dich interessieren wird.“ Damit geht er zu seinem Schreibtisch und nimmt einen kleinen Gegenstand aus der Schublade. Der dicke Teppichboden verschluckt seine Schritte. Lautlos kommt er zurück und hält seine geschlossene Hand vor Robert hin. „Zuerst gebe ich dir ein kleines Andenken mit, das dich immer an uns erinnern wird.“ Robert stemmt sich erstaunt aus dem bequemen Sessel. Die Faust seines Gegenübers öffnet sich langsam, und im diffusen Licht der indirekten Beleuchtung sieht Robert ein dunkles Etwas in der schlanken Hand liegen.

„Du kannst es ruhig anfassen“, lächelt der Schwarzgekleidete, „es wird dich nicht beißen.“

Robert nimmt den Gegenstand und hält ihn neugierig gegen das Licht, das von der Decke reflektiert wird. Ein blauer Stein, der die Form einer halben Kugel hat. Die glatte Fläche hat einen Durchmesser von ungefähr fünf Zentimetern. Irgendetwas ist da eingeritzt, aber Robert kann es nicht richtig erkennen. „Herr Golub...“ Robert stockt. Der Name war zu kompliziert, um ihn sich beim ersten Hören zu merken.

Sein Gegenüber lächelt wieder. „Schon gut, Robert, sag einfach Meister zu mir, wie alle anderen auch.“ „Nein, ich krieg Ihren Namen schon hin.“ Robert ist das zu blöd. Wie kommt er dazu, einen Fremden als Meister anzureden? „Sagen Sie ihn mir bitte einfach noch mal.“

„Golubkardian“, sagt der Mann mit ernster Miene und wiederholt langsam und eindringlich: „Golubkardian.“

„Herr Golubkardian, das ist ein wunderschöner Stein!“, sagt Robert und blickt fasziniert auf die glatte, kühle Halbkugel in seiner Hand. „Was ist das?“

„Ein Lapislazuli. Dieser hier kommt aus Afghanistan. Der Lapislazuli war der erste Edelstein, den Menschen zu Schmuck verarbeitet haben. Sein Träger steht unter dem Schutz des Himmels und der Sonne. Dieser Stein nimmt alle Ängste und fördert den Gemeinschaftssinn.“ Der Meister schaut Robert durchdringend an. „Napoleon hat bei seinem Ägyptenfeldzug einen Skarabäus aus Lapislazuli getragen. Trage auch du ihn, er wird dir Glück bringen.“

„Wow!“, sagt Robert aufrichtig beeindruckt. Aber zugleich ist da dieses beklemmende Gefühl, das wie ein feuchter Lappen über seinem Gemüt liegt. Und wie kommt dieser unbekannte Mann dazu, ihm etwas so Kostbares zu schenken?

„Vielen Dank, aber ich kann das nicht annehmen.“ Robert reicht ihm den Stein zurück. „Sie kennen mich gar nicht und wollen mir so ein tolles Geschenk machen. Das geht nicht!“

Der Mann winkt lässig ab. „Vergiss es, Robert, und steck den Stein ein. Aber jetzt etwas anderes, komm mit, ich zeig dir was!“ Schon geht er voran in den Vorraum. „Willst du wissen, was unsere Leute hier lernen und üben?“ Das lässt sich Robert nicht zwei Mal sagen. Gespannt folgt er Golubkardian. Der Meister öffnet eine Tür links neben seinem Büro, lässt Robert den Vortritt und schließt die Tür wieder. Robert staunt. Das ist kein Zimmer, in das er hier kommt, sondern fast eine Höhle. Überall sind Stoffe gespannt, als Vorhänge und als Wandverkleidung. Der Boden ist mit dicken hellbraunen Teppichen ausgelegt, und alles ist in ein dämmriges, geheimnisvolles Licht getaucht. Von irgendwoher tönt eine monotone, rhythmische Melodie.

Golubkardian bleibt mit Robert an der Wand neben der Tür stehen. Schweigend beobachten sie die drei Frauen und zwei Männer im Raum. Alle haben lockere, bunte Gewänder an und sind scheinbar in Trance, denn sie haben nicht bemerkt, dass soeben zwei Personen den Raum betreten haben. Eine junge Frau liegt mit geschlossenen Augen und völlig steif nur mit dem Hinterkopf und den Schultern auf einem Stuhl, während ihre Fersen auf einem zweiten Stuhl aufliegen. Dazwischen ist nichts, nur Luft. Trotzdem ist ihr Körper ganz ruhig und gerade in dieser unbequemen Lage. Eine der beiden anderen Frauen steht aufrecht auf den Oberschenkeln der Liegenden, während die dritte eben dabei ist, sich auf den Oberkörper der jungen Frau zu platzieren. Unmöglich, dass dieser zierliche Körper dieses Gewicht aushalten kann, schießt es Robert durch den Kopf. Da ist doch überhaupt keine Stütze, das geht doch gar nicht. So starke Bauchmuskeln kann diese zarte Frau gar nicht haben, um dieses Gewicht zu tragen. Als hätte Golubkardian Roberts Gedanken erraten, geht er auf die Gruppe zu und flüstert mit den beiden Männern. Die beiden unterbrechen ihre Sitzung und helfen den beiden Frauen von dem bewegungslosen Körper herunter. Einer klatscht kurz in die Hände, und die steif daliegende Frau rutscht zwischen den beiden Stühlen zu Boden. Kaum sieht sie den Meister, springt sie auf und stellt sich abwartend neben die vier anderen.

„Diese Übung ist sehr gefährlich und muss genau überlegt sein!“ Golubkardian spricht ruhig mit sonorer Stimme. „Sehr leicht kann beispielsweise ein Bandscheibenschaden auftreten. Also lasst die Finger von dieser Vorführung, sie könnte zu bleibenden gesundheitlichen Schäden führen. Abgesehen von dem Muskelkater, den unsere junge Freundin bald haben wird.“ Er geht zurück zu Robert und legt ihm eine Hand auf die Schulter. „Das ist unser junger Freund Robert. Er wird in Zukunft auch bei uns mitmachen.“ Robert versteift sich ablehnend und schüttelt die Hand des Mannes neben sich ab. Golubkardian nickt den fünf Mitarbeitern freundlich zu. „Übt weiter, wir sprechen uns nachher wieder.“ Damit verlässt er mit Robert den Raum.

„Herr Golubkardian, ich habe nicht gesagt, dass ich bei ihnen mitmachen möchte!“ Robert schaut den Fremden fest an. „Erstens habe ich keine Zeit und außerdem keine Lust.“

Der Schwarzgekleidete lächelt nur leicht und schaut Robert aus tiefschwarzen Augen an.

„Robert, nimm die halbe Kugel, die du von mir bekommen hast, und schau sie dir mal genau an.“ Die Stimme ertönt hohl in Roberts Ohren, er denkt nicht mehr an Widerspruch, sondern zieht automatisch den Stein aus der Hosentasche. Gebannt schaut er auf die glänzende, blaue Fläche. Jetzt, wo er direkt unter einem Strahler steht, erkennt er auf der glatten Schnittfläche der Kugel ein eingeritztes Symbol. Es ähnelt einem griechischen Buchstaben. Golubkardian, der Roberts Blick gefolgt ist, erklärt: „Das ist unser Emblem, der griechische Buchstabe Phi. Wir alle leben unter diesem Zeichen.“ Er zieht einen identischen Stein aus seiner Tasche und deutet auf die Gravierung. „Dieses Oval und der senkrechte Strich durch die Mitte zeigen an, dass jeder, der den Stein besitzt, innerhalb unserer Organisation gut beschützt ist. Rundum beschützt! Und die vertikale Linie durch die Mitte bedeutet, dass wir gegenüber allem, was von außen kommt, offen sind.“ Er steckt seinen Stein wieder weg und öffnet die Tür zu seinem Büro. „Robert, komm noch einmal mit mir herein.“ Er setzt sich an seinen Schreibtisch. „Ich will, dass du siehst, was wir hier tun“, sagt er mit einer Stimme, der man einfach zuhören muss. „Du wirst bei uns lernen, mit Hypnose umzugehen. Sinnvoll umzugehen, denn falsch eingesetzt kann viel Schaden angerichtet werden, wie du eben sehen konntest.“ Er macht eine abwertende Handbewegung. „Diese „kataleptische Brücke“, die wir eben beobachtet haben, kann zu schweren Schäden in den Gelenken führen, sobald die Körperstarre vorbei ist. Und dass gleich zwei Personen auf das Medium steigen wollten, das konnte ich nicht durchgehen lassen!“ Robert nickt und spitzt aufmerksam die Ohren. Etwas über Hypnose zu lernen, findet er verlockend. Er hat schon einiges darüber gehört, auch über Schauveranstaltungen, bei denen Menschen zu willenlosen Witzfiguren gemacht wurden.

„Normalerweise muss gefragt werden, ob die Person, die als Medium dient, irgendwelche Operationen hinter sich hat oder sonstige Körperschäden, bevor sie in Hypnose versetzt wird“, fährt Golubkardian fort. „Gefährlich ist auch ein zu niedriger Blutdruck. Das kann dann zum Kreislaufkollaps führen.“ Golubkardian macht eine Pause und schaut Robert zwingend an.

„Wir wollen hier unbedingt vermeiden, dass Menschen zu Schaden kommen“, fährt er dann leise und eindringlich fort. „Ein krasses Beispiel ist etwa die Erzeugung von Brandblasen durch reine Suggestion, hast du davon schon gehört? Bei vielen Hypnosevorführungen wird der Zustand „heiß“ suggeriert. Das kann so weit gehen, dass dem Gehirn eine Verbrennung gemeldet wird. Daraufhin wird der normale Schutzvorgang im Körper ausgelöst: Das Gehirn meldet zurück, dass an der angeblich verbrannten Stelle Wasser angesammelt werden soll, um die unteren Hautschichten zu schützen. Es entsteht die berühmte Brandblase. Genauso gefährlich sind suggerierte Stromschläge, die theoretisch zum Herzstillstand oder zu Muskelkrämpfen führen können. Du siehst, Robert, dass es hier die vielfältigsten Möglichkeiten gibt, und du hast die Chance, dich bei uns zum Hypnotiseur ausbilden zu lassen. Du bist in unserem Kreis jederzeit herzlich willkommen.“

Golubkardian steht auf und geht zum Ausgang. Ganz selbstverständlich scheint er zu erwarten, dass Robert ihm folgt. Doch Robert schafft es endlich, sich aus dem Bann dieser eindringlichen Stimme zu lösen und wieder an die Fragen zu denken, wegen denen er eigentlich hierher gekommen ist.

„Herr Golubkardian, gehört Frau Niemann auch zu Ihrem Verein?“, fragt er direkt.

Golubkardian bleibt so abrupt stehen, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Langsam, wie in Zeitlupe, dreht er sich um und schaut Robert mit starren Augen an. Endlich kommt er wieder zum Schreibtisch zurück. Immer noch wortlos mustert er sein Gegenüber. Robert fühlt sich unbehaglich, irgendwie stören ihn diese starren Augen jetzt gewaltig.

„Lieber junger Freund, es war also doch kein Zufall, dass du hierher gekommen bist.“ Plötzlich wirkt Golubkardians Gesicht wie eine Maske: „Ich wollte dich langsam für uns gewinnen, aber jetzt muss ich andere Seiten aufziehen. Sag mir ganz ehrlich, wer dich zu uns geschickt hat!“

Robert fühlt sich wie die Maus in der Falle. Angst schleicht in ihm hoch. Hier unten kommt er nicht raus, da sitzt er wie im Gefängnis! Und das Amulett kann ihm auch nicht helfen, das hat er ja schon bei Magdalene und zuvor oben am Eingang erleben müssen. „Mich hat niemand geschickt, ich wollte mir nur diese Kirche anschauen.“ Seine Stimme klingt ängstlich und unsicher, er hört es selber und ärgert sich darüber. „Und was soll dann die Frage nach Frau Niemann?“, fragt sein Gegenüber kalt.

„Sie ist unsere Schulsekretärin. Zufällig habe ich gesehen, wie sie hier in die Kirche gegangen ist. Das hat weiter nichts zu bedeuten ...“

„Wann?“ Wie ein Peitschenknall fliegt Robert die Frage um die Ohren.

„Gestern ...“

„Und warum kommst du erst heute hier herein, wenn du schon gestern vor der Kirche warst?“ Golubkardian schaut ihn mit einem durchdringenden Blick an. „Ich – ich hatte gestern keine Zeit dafür, wir hatten so viele Hausaufgaben auf.“ Die Ausrede kommt Robert selbst kindisch und unglaubwürdig vor, und Golubkardian wirkt auch nicht gerade überzeugt.

„Gut, Robert, setz dich wieder hin und hol deinen Stein aus der Tasche.“ Seine Stimme klingt jetzt wieder monoton und leise. Robert lässt sich unwillkürlich wieder in die weichen Kissen sinken und holt den blauen Stein aus seiner Hosentasche.

„Schau dir noch mal die glatte Fläche an. Was fühlst du jetzt?“

Robert hat ein Gefühl, als ob er sich außerhalb seines Körpers befinden würde.

„Ich – ich schwebe über mir. Das ist ganz eigenartig und lustig.“ Das Gefühl vertieft sich und zugleich kann Robert an nichts anderes mehr denken, als dass er unbedingt hören muss, was Golubkardian jetzt sagen wird. „Sehr gut so, Robert, du gehst jetzt wieder nach Hause und vergisst alles, was du hier gesehen hast. In Zukunft, wenn du spürst, dass der Stein in deiner Tasche warm wird, nimmst du ihn in deine Hand. Alles andere wirst du dann schon erleben.“

Mit einem Mal hat Robert das Gefühl, aus einem tiefen Schlaf zu erwachen. Was geschieht hier mit mir, denkt er.Verschwommen sieht Robert diesen komischen Mann, der ihm gegenübersitzt und spürt etwas Undefinierbares in seinem Kopf. Ein Ruck geht durch seinen Körper und er springt aus seiner bequemen Sitzposition auf. Blitzschnell wirft er den blauen Lapislazuli über Golubkardians Kopf gegen die Wand und flüstert gleichzeitig: „ invisible!“

Es war beklemmend! Er hat intensiv gespürt, wie sich etwas in seinen Kopf geschlichen hat. Irgendetwas wollte von ihm Besitz ergreifen, aber dann war es, als ob das Ding ausgerutscht wäre und seinen Kopf wieder verlassen musste. Das war der Augenblick, in dem er wieder selbst entscheiden konnte und sich sofort unsichtbar machen wollte. Fast gleichzeitig fällt ihm ein, dass er sich vor Fremden nicht unsichtbar machen darf. Niemand darf doch davon wissen! Die Bewegungen in seinem Kopf haben ihn voller Panik reagieren lassen, sodass er nur ohne nachzudenken insinktiv gehandelt hat.

Golubkardian ist unbeweglich sitzen geblieben und blickt Robert nur starr an. Er hat überhaupt nicht reagiert, als der Stein über seinem Kopf an die Wand knallte. Er schaut nur weiter starr auf Robert. Der steht leise auf und geht vorsichtig zur Eingangstür, um gleich mit „pierce“ durch die Tür zu gleiten. Rasch dreht er sich nochmals um und will sehen, was der Mann tut. Da durchfährt Robert ein eisiger Schreck. Der Meister blickt ihn ruhig an, dann umspielt ein leicht ironisches Lächeln seine schmalen Lippen. Er schaut ihm direkt in die Augen. Wieso kann er ihn sehen?

„Ich sehe schon, so geht das nicht.“ Golubkardians Stimme klingt jetzt eiskalt. Mit einem schneidenden Unterton fährt er fort: „Diese Albernheiten kann und will ich nicht dulden. Hol dir den Stein wieder und setz dich.“ Verzweiflung packt Robert, als er sich über die Stirn wischt. Er kann und will es einfach nicht glauben, dass seine Kräfte hier nicht wirken. Schnell wispert er „pierce“ und streckt vorsichtig seinen rechten Arm vor. Noch glaubt er es nicht, dass hier seine Grenzen aufgezeigt werden. Nein, es klappt nicht, nichts geht. Er drückt mit der Hand gegen festes, unnachgebiges Holz.

„Irgendetwas stört unsere Beziehung“, stellt Golubkardian zynisch von der Couch her fest. „Das werden wir gleich herausfinden.“ Robert gibt seinen Widerstand auf. Er geht auf die Knie und krabbelt am Boden herum, findet den kleinen Stein wieder und setzt sich damit folgsam auf die Couch. Verstohlen schaut er den Mann an und atmet auf, als Golubkardian sich wieder normal benimmt. Robert ist froh, dass seine Versuche, die Zauberkräfte einzusetzen, nicht aufgefallen sind. Golubkardian nickt zufrieden, als Robert wieder auf der Couch sitzt und geht zu der halb offenen Wand, die Robert gleich zu Beginn aufgefallen ist. Jetzt ist zu sehen, dass sie nicht in einen angrenzenden Raum führt, sondern nur eine Öffnung verschließt. Golubkardian zieht die Wand ganz auf, und Robert erkennt in Hüfthöhe des Meisters einen in die Wand eingelassenen verschlossenen Tresor. Er ist quadratisch, die Tür hat ungefähr einen Meter Seitenlänge. Golubkardian holt eine Scheckkarte aus seiner Anzugtasche und steckt sie in einen Schlitz auf der linken Seite des Tresors. Mit leisem Summen schwingt die massive Stahltür nach außen. Robert sieht noch, dass sich auch ein Zahlenschloss in der Tür befindet. Im Inneren hat sich plötzlich eine Beleuchtung eingeschaltet, das Licht fällt auf den Oberkörper des Meisters.

Was sich im Tresor befindet, kann Robert von seinem Platz aus nicht erkennen. Er nimmt nur wahr, wie sich der Körper Golubkardians schlagartig versteift und sein Gesicht einen verklärten Ausdruck bekommt, als er sich noch näher zu der Öffnung beugt. Es hat den Anschein, als wäre der Mann völlig im Bann von irgendetwas, das sich in diesem Tresor befindet. Endlich kommt wieder Bewegung in seinen Körper. Er richtet sich auf und winkt Robert zu sich. Was Robert jetzt zu sehen bekommt, raubt ihm fast den Atem. Hier liegt ein großer, wunderschöner Lapislazuli im Urzustand! Umgeben von einer dünnen Schicht Granit ist es ein Stein von ungefähr siebzig Zentimetern Durchmesser. Ein Riesenbrocken! Eine etwa kopfgroße Fläche dieses rohen, unbehauenen Edelsteins ist spiegelglatt geschliffen und leuchtet in einem so intensivem Blau, wie es Robert noch nie gesehen hat. Einem Blau, das Robert völlig gefangen nimmt! Jetzt erst sieht er auch hier ein großes Phi eingraviert. Irgendetwas fügt sich hinter seiner Stirn ein, aber das ist kein unangenehmes Gefühl, im Gegenteil, Robert fühlt sich so glücklich wie lange nicht. Es ist so, als ob er endlich etwas Verlorenes wiedergefunden hätte. Er hat den Begriff für Zeit verloren, er weiß nicht, wie lange er schon von den Strahlen gefangen ist, als er eine warme, angenehme Stimme in seinem Kopf vernimmt.

„Robert, ich freue mich, dass du nun zu uns gehörst. Du wirst jetzt mithelfen, dass sich alles zum Guten wendet und du wirst stolz darauf sein. Der kleine blaue Stein, der dich jetzt begleiten wird, wird dich als Teil von mir unterstützen und stark machen. Wir werden immer Kontakt haben.“ Eine Hand zieht Robert sanft aus dieser paradiesischen Stimmung. Noch kann er seinen Blick nicht von dem kostbaren Stein im Tresor wenden, da gleitet die Stahltür mit einem satten Seufzen zu. Unglaublich schön war das! Noch nie hat Robert so eine große Sehnsucht empfunden wie jetzt. Es drängt ihn mit allen Fasern seines Wesens danach, Phi wiederzusehen, koste es, was es wolle! Golubkardian führt Robert zurück zu seinem Sessel.

„Robert, du brauchst nicht zu verzweifeln, ein Hauch dieses überirdischen Glücks ist immer bei dir“, sagt er milde lächelnd. „Wenn deine Sehnsucht zu groß wird, umschließe einfach den Stein fest mit deiner Hand, er wird dir Trost geben. So bleibst du auch mit uns in Verbindung. Und denke daran: Immer wenn der Stein sich erwärmt, wirst du von uns gerufen.“

Roberts Hand krallt sich verzweifelt um den kleinen blauen Stein.

Golubkardians Lächeln vertieft sich. Lautlos geht er zum Schreibtisch, nimmt eine Mappe aus einer der Schubladen und kommt damit wieder zur Sitzgruppe zurück.

„Ich zeige dir jetzt, was unsere Aufgabe ist “, sagt er und öffnet die Mappe. „Wir müssen das Land verändern, dazu brauchen wir Geld, viel Geld. Also beschaffen wir es uns.“

Er unterbricht sich und beobachtet Robert aufmerksam, als erwarte er Widerspruch. Doch er sieht nur einen hochgewachsenen blonden Jugendlichen, der gierig und gespannt seinen Worten lauscht.

„Wenn du in der Geschichte zurückblickst, liest du immer nur von Kriegen und vielen Toten. Die Politiker kümmern sich vorwiegend um ihre eigene Karriere, vor jeder Wahl versprechen sie alles, was die Leute hören wollen. Wenn sie aber erst einmal die anstehende Wahl gewonnen haben, ist das Versprochene vergessen. Genauso ist es mit den Kriegen. Sie werden vorwiegend geführt, damit die Verursacher ihren Machtbereich vergrößern.“ Er erhebt sich, um mit vor mit Inbrunst strahlenden Augen hinzuzufügen: „Die Menschen brauchen eine übergeordnete Macht, die langsam die Fehler der Regierenden korrigiert. Und diese Macht werden wir sein!“ Triumphierend, mit hoch erhobenen Kopf , steht er vor Robert.

Robert schaut alarmiert zu ihm auf. Es ist, als hätte das Wort „Macht“ sein Gehirn plötzlich wieder zum Denken gebracht. Dieser Verein braucht Geld, viel Geld, um Macht ausüben zu können ... Wie passt das aber mit dem angeblichen Nutzen für die Menschen zusammen, wenn das Geld nur mit kriminellen Methoden beschafft werden kann?

„Hat der Überfall auf den Geldtransporter auch mit Ihnen zu tun?“, fragt er ernüchtert.

Golubkardian lässt sich wieder im Sessel nieder und schlägt lässig die Beine übereinander.

„Ja, der Fahrer und sein Bruder waren unter Hypnose und haben willenlos unsere Befehle ausgeführt“, gibt er wie selbstverständlich Auskunft.

„Warum ist Hassan während der Vernehmung bei der Polizei aus dem Fenster gesprungen?“

Der Meister macht eine wegwerfende Handbewegung. „Dieser Hassan war schon die ganze Zeit ein unzuverlässiger Kandidat. Genauso diese Svenja Gerlach, sie benimmt sich zu auffällig und zieht das Interesse der Öffentlichkeit und somit auch der Polizei auf sich. So eine durchgeknallte Hippibraut können wir in unserer Gemeinschaft nicht gebrauchen. Noch müssen wir sehr vorsichtig sein.“

„Aber was war mit Hassan?“, hakt Robert nach.

Golubkardian zuckt nur gelangweilt die Achseln. „Alle unsere Schüler haben eine Programmierung bekommen. Wenn sie dann ihr Codewort hören, nutzen sie jede Gelegenheit, um sich selbst zu töten.“

„Genial“, Robert ist aufrichtig beeindruckt.

Aber warum erzählt ihm der Meister das alles plötzlich so offen? Zuvor wäre er beinahe ausgeflippt, als Robert ihn nach Frau Niemann fragte.

„Und Svenja?“, setzt Robert nach, immer in der Erwartung, dass sein Gegenüber solche Fragen jeden Moment abblocken könnte. Doch Golubkardian scheint gar nicht daran zu denken. Er muss sich wirklich äußerst sicher sein, dass Robert zu ihnen gehört.

„Dieses Mädchen hat ein außerordentliches Verbrechen begangen“, erklärt er ohne zu zögern. „Sie hat uns Rauschgift gestohlen. Natürlich haben wir es uns wieder zurückgeholt. Aber dabei ist auch einiges schief gelaufen, was unliebsame Aufmerksamkeit geweckt hat. Leider haben wir noch zu viele unfähige Mitarbeiter, die nicht logisch denken können.“ Er schüttelt missbilligend den Kopf. „Svenja bekommt gerade eine hübsche kleine Lektion erteilt. Dieses Mal hat sie noch Glück, aber noch einmal lassen wir ihr das nicht so glimpflich durchgehen!“

„Wieso sagen Sie mir das alles so offen?“, platzt Robert jetzt endlich heraus.

„Ganz einfach.“ Ein leichtes Lächeln spielt um Golubkardians Lippen. „Phi hat dein Potenzial erkannt und mich informiert, dass du der ideale Nachwuchs für unsere Organisation sein wirst. Damit vertraue auch ich dir völlig, denn Phi irrt nicht.“

Was ist das denn?, denkt Robert. Eben noch hatte er keine Ahnung, dass es so etwas wie Phi überhaupt gibt, und jetzt gilt er schon als Nachwuchs für diese Organisation! Wann hat Golubkardian überhaupt erfahren, was Phi über ihn denkt? Spielt sich das alles im Kopf, in den Gedanken ab? So wie er selbst die Botschaft von Phi bekommen hatte, als er vor dem Tresor stand? „Und Frau Niemann?“ Jetzt will Robert wissen, was da wirklich gelaufen ist. „Gehört sie auch zu Ihren Mitarbeitern?“

Golubkardian winkt ab: „Diese Frau ist ein absolut kleines Licht, sie hat keine Ahnung! Sie hat lediglich den hypnotischen Befehl bekommen, das Rauschgift, das Svenja gestohlen hatte, wieder hierher zu bringen. War eine Kleinigkeit für mich, ein Telefonat hat genügt.“ Selbstgefällig lehnt er sich zurück. „Danach hat sie alles vergessen. Diese Frau können wir für unsere Zwecke absolut nicht gebrauchen.“

Robert rutscht unbehaglich in seinem Sessel vor. Irgendwie beschleichen ihn jetzt doch leise Zweifel, ob das alles so richtig und gut ist, was hier geschieht.

„Diese Lektion für Svenja Gerlach“, fragt er mit skeptischer Stirnfalte, „was meinen Sie damit eigentlich?“ Golubkardian steht auf und geht erneut zu seinem Schreibtisch.

„Das werde ich dir gleich zeigen, bevor du gehst. Aber zuvor gebe ich dir noch etwas Hübsches mit.“ Mit einer kleinen Schatulle kommt er zur Sitzgruppe zurück. „Damit kannst du unseren Wirkungskreis noch vergrößern.“ Er öffnet die kleine, mit blauem Samt ausgelegte Schatulle, und Robert sieht eine Menge wunderschöner blauer Taler, in die das Zeichen Phi eingeritzt ist.

„Die darfst du großzügig unter deinen Bekannten verschenken. Jeder, der so einen kostbaren Taler von dir bekommt, wird sich darüber freuen und dir dankbar sein.“ Ein verschmitztes Lächeln tritt auf Golubkardians Gesicht. „Und wir haben wieder einen Ansprechpartner mehr. Denn wir können jedermann jederzeit einen hypnotischen Befehl geben, wenn er so einen Taler hat. Er wird alles tun, was wir ihm auftragen, und was noch wichtiger ist: Er wird keinem Menschen davon erzählen, dass er so einen schönen, wertvollen Taler hat!“

Roberts Unbehagen wächst zunehmend. Irgendetwas stimmt doch an der Geschichte nicht!

„Wieso haben Sie mir diesen schönen großen Stein gegeben, wenn alle anderen nur einen Taler bekommen?“, fragt er misstrauisch.

„Das war der Auftrag von Phi“, erwidert Golubkardian. „Deinen Besuch hat Phi mir übrigens schon vorhergesagt, bevor du da warst. Du solltest von Beginn an gut gerüstet sein und ich sollte dich testen. Phi will, dass du künftig unsere innere Organisation verstärkst. Weil um dich etwas Besonderes ist, eine eigenartige, starke Schwingung.“

Robert ist jetzt noch mehr verwirrt. Was ist los mit ihm? Was spielt sich da in seinem Kopf ab? Das Amulett hat ihm Fähigkeiten gegeben, die aber hier nicht mehr wirken, und zusätzlich wühlt Phi in seinem Kopf herum. Der blaue Lapislazuli spürt sicher, dass bei Robert irgendetwas anders ist, als bei normalen Menschen, deshalb redet er von einer eigenartigen, starken Schwingung. Golubkardian übergibt Robert die Schatulle mit dem blauen Inhalt.

„Sei großzügig und denke daran: Jeder, der einen Taler bekommt, bedeutet für uns wieder einen Schritt nach vorne! Und jetzt komm mit, ich zeige dir Svenja.“

Gespannt folgt Robert Golubkardian in den Vorraum hinaus und durch die gegenüberliegende Tür. Es öffnet sich ein Gang nach rechts, der an einer weiteren verschlossenen Tür vorbeiführt, und dann geht es nochmals einige Stufen nach unten. Im grellen Licht der Deckenstrahler erstreckt sich ein weiterer Gang vor ihnen, dessen Ende gar nicht zu sehen ist. Robert erinnert sich an die Information seiner Ratten, dass ein unterirdischer Gang vom Komplex der Kirche bis hinüber zum Jakobsberg geht. Das könnte dieser lange, schnurgerade Gang sein. Nach einiger Zeit, sie müssen sich schon unter der Zitadelle befinden, öffnet Golubkardian eine Tür an der linken Seite. Er lässt Robert den Vortritt. Robert sieht erst einmal nur ein diffuses rötliches Leuchten, in dem nichts zu erkennen ist. Schon will er fragen, was das soll, als das grelle Oberlicht angedreht wird.

Voller Entsetzen zuckt Robert zusammen. Mitten in einem kleinen, absolut kahlen Raum mit flammend rot gestrichenen Wänden, Fußboden und Decke, steht ein Mensch, ganz in einen roten Kittel gehüllt. Er bewegt sich nicht, lange Haare hängen ihm wirr ins Gesicht. Erst auf den zweiten Blick erkennt Robert, dass es Svenja Gerlach ist. Er hat sie noch nicht oft gesehen, und dieses Licht und der lange rote Kittel lassen ohnehin alles ganz anders wirken.

Zögernd geht Robert näher heran. Svenjas Gesicht ist tränennass. Verzweifelte Augen blicken Robert um Hilfe flehend entgegen.

„Das ist ihre kleine Lektion“, flüstert Golubkardians Stimme. „Sie steht hier in Hypnose erstarrt und kann sich nicht rühren. Aber sie spürt natürlich die schmerzvolle Müdigkeit ihrer Glieder und hat keine größere Sehnsucht als die, sich endlich hinlegen zu können.“

Robert läuft es kalt über den Rücken. „Wie lange hält dieser Zustand denn noch an?“, bringt er rau hervor.

„Noch siebzehn Stunden. Insgesamt dauert die Lektion zwei Tage. Das müsste für einen ersten Lerneffekt genügen!“ Robert dreht sich entsetzt zu Golubkardian um. Er schaut in ein unbewegliches Gesicht, in dem nicht die geringste Spur von Mitleid zu sehen ist.

„Das ist keine Lektion, das ist reine Folter!“, braust er auf und greift unwillkürlich nach dem Lapislazuli in seiner Hosentasche. Zugleich spürt er, wie sich etwas in seinem Kopf rührt und beruhigend auf ihn einwirkt. Seine Wut legt sich blitzartig. So schlimm findet er diese Maßnahme plötzlich gar nicht mehr. Eigentlich ist Svenja doch noch ganz gut davongekommen. Diese zwei Tage werden ihr eine Lehre sein, damit sie sich künftig kooperativ verhält. Golubkardian legt eine Hand auf Roberts Schulter, während er ihn wieder auf den Gang hinausführt und die Tür hinter ihnen verschließt.

„Manche junge Leute sind heute nicht leicht zu erziehen“, sagt er mit ruhigem Lächeln. „Doch ich bin überzeugt, Svenja wird in Zukunft nicht mehr auf dumme Gedanken kommen.“

Robert nickt und genießt die beruhigende Strömung, die von seinem Stein auf ihn einwirkt.

„Coole Idee mit der Lektion!“, erwidert er anerkennend. „Müssen Sie so was öfter machen?“

„Nein, Robert, so etwas kommt selten vor. Und Svenja wird jetzt geheilt sein, das wissen wir aus Erfahrung. Sie wird nie wieder gegen irgendwelche Anordnungen verstoßen.“

Schweigend gehen sie zurück, am Büro des Meisters vorbei und über die Treppe wieder nach oben. Im Kirchraum bleibt Golubkardian neben ein paar flackernden Kerzen stehen und schaut Robert eindringlich an.

„Robert, du kennst jetzt unsere Ziele und wirst alles tun, um Phi zufrieden zu stellen“, sagt er, und seine klangvolle Stimme hallt merkwürdig in dem menschenleeren Raum. „Beginne sofort damit, die zehn Abbildungen von Phi, die du in der Schatulle hast, zu verteilen. Aber gib sie nur an Menschen weiter, die eine wirtschaftlich gute Position haben, und an solche, die für dich nützlich sind!“ „Ich habe verstanden, Herr Golubkardian! Jeder, der einen dieser blauen Taler bekommt, wird sich automatisch für die Ziele von Phi einsetzen.“

Golub nickt zufrieden und begleitet Robert zum Ausgang.

„Geh nun direkt nach Hause und denke nicht lange darüber nach, was du hier gesehen hast! Und verteile so schnell wie möglich die Lapislazulitaler!“, prägt er ihm noch einmal ein.

Er gibt Robert zum Abschied einen aufmunternden Klaps auf den Rücken, dann zieht er sich wieder in das Innere des Gebäudes zurück.

Benommen blinzelt Robert in das ungewohnte Tageslicht. Die Sonne steht schon schräg, und das Gebäude hinter ihm wirft einen langen Schatten. Robert registriert es nur am Rande, seine Gedanken sind noch bei Phi. Was für ein Wahnsinnsgefühl war das, vor diesem großen Lapislazuli zu stehen und ganz in seine märchenhafte Farbe einzutauchen, sich förmlich in diesem Meer von Blau zu baden! Nie zuvor hat er solch ein Glück verspürt. Und ein Hauch davon durchströmt ihn immer noch.

Jetzt erst bemerkt er, dass er die blaue Halbkugel nach wie vor in seiner Hand hält, und unwillkürlich drückt er sie noch fester. Was für ein Glück, dass er sie hat! Kurz zuvor noch war er ganz verunsichert, weil seine Zauberkräfte plötzlich nicht mehr funktionierten. Aber dieser wunderbare blaue Stein gibt ihm wieder Sicherheit und die Gewissheit, dass ihm alles gelingen wird, was er auch anfasst. Er darf sogar noch Lapislazulitaler verschenken! Tim und Chris werden natürlich jeder einen bekommen. Und seine Eltern. Und Hauptkommissar Werner ...

Dieser Gedanke bringt Robert in die Gegenwart zurück. Von hier aus ist es gar nicht weit zum Polizeipräsidium, überlegt er. Er könnte schnell dort hinlaufen und den Hauptkommissar mit diesem einmaligen Geschenk überraschen. Wenn er Glück hat, wird er dort auch seinen Freund Fred Jarosch antreffen, den Undercover-Agenten. Der würde sich mit Sicherheit auch über so einen Taler freuen...

Schon schlägt Robert den Weg in die Innenstadt ein. Im Polizeipräsidium lässt er sich bei Hauptkommissar Werner anmelden und wird sofort in dessen Büro vorgelassen. Der Hauptkommissar sitzt tatsächlich gerade mit Fred Jarosch im Gespräch zusammen.

„Hallo Robert, schön dich zu sehen!“ Fred ist wie immer tipp topp gekleidet und so braun gebrannt, als käme er gerade aus der Karibik. Nichts erinnert mehr an seinen langen Krankenhausaufenthalt vor einigen Monaten, als er im Koma lag. Belustigt fragt sich Robert, wieso Fred schon wieder so braungebrannt ausschaut. Da war wohl das Sonnenstudio am Werk! Fred zieht noch einen Stuhl an Werners Schreibtisch: „Komm, Robert, hau dich hin.“

Der Hauptkommissar freut sich ihn zu sehen und greift nach einer Mappe auf seinem Tisch.

„Robert, das trifft sich gut, ich wollte dich schon anrufen!“ Wie immer kommt er ohne lange Vorrede zur Sache: „Die vier Metallkästen mit dem wertvollen Inhalt haben wir bei uns gelagert, bis sie ihren Eigentümern wieder zurückgegeben werden. Das Problem ist jetzt der tote Hassan. Und der totale Blackout seines Bruders! Offenbar kommt dieser Cemal über den Selbstmord seines Bruders nicht hinweg. Immer noch ist der Mann vollständig verwirrt und weiß nicht, was da vorgegangen ist.“

Im ersten Moment erschrickt Robert, also ist Hassan an seinen Verletzungen gestorben! Unbemerkt drückt er den Lapislazuli in seiner Hosentasche und spürt die Wärme, die davon ausgeht. Allmählich legt sich seine Furcht. Jetzt findet er es ganz in Ordnung, dass dieser unzuverlässige Mensch bestraft werden musste.

„Bevor Hassan gesprungen ist, kam ja dieser mysteriöse Anruf, wie mir Herr Werner erzählt hat“, redet Fred weiter und zupft an seiner dunklen Cargohose. „Das deutet klar auf eine Beeinflussung hin. Aber bisher konnten wir noch keine Verbindung zu irgendwelchen Sekten oder ähnlichen Organisationen herstellen. Cemal ist uns dabei auch keine Hilfe. Wir haben ihn eingehend von unserem Psychologen untersuchen lassen, und der ist auch davon überzeugt, dass der Bursche wirklich völlig ahnungslos ist.“ Er schaut Robert direkt an: „Kannst du uns irgendwie helfen?“ Auch der Hauptkommissar blickt aufmerksam zu Robert. Jetzt ist es heraus, was sie beide wohl von Anfang an von ihm wissen wollten. Robert befindet sich in einem grotesken Zwiespalt. Auf der einen Seite versteht er die beiden Polizeibeamten nur zu gut und kann ihre Sorgen nachempfinden, auf der anderen Seite hat er hier einen Auftrag zu erfüllen. Langsam zieht er die Schatulle mit den Talern hervor und öffnet den Deckel.

„Ich habe hier womöglich die Lösung unserer Probleme!“

Er nimmt zwei glänzend blaue Taler heraus und legt sie vor dem Hauptkommissar auf den Tisch.

„Das ist ja ein tolles Ding!“ Erstaunt greift Werner nach einem Taler und betrachtet ihn genauer. „Genau so eine kleine blaue Scheibe haben wir im Anzug von Hassan gefunden! Wir haben sie Cemal übergeben ...“

Fred hat den zweiten Taler an sich genommen, und plötzlich geht alles ganz leicht. Die beiden stecken wortlos die kleinen Scheibchen mit dem Phi-Zeichen in ihre Taschen und blicken Robert so erwartungsvoll an, als ob er ihnen die Lösung des Falles gleich auf einem Silbertablett servieren würde. Robert ist fasziniert. Selbst mit diesen kleinen Talern hat Phi offensichtlich eine so starke Ausstrahlung, dass es sofort die Macht über die beiden Polizeibeamten übernommen hat. Es ist gar nicht mehr nötig, viel zu reden. Die Gesichter der beiden lassen keinen Zweifel daran, dass sie alles tun werden, was von ihnen verlangt wird.

Tief im Inneren meldet sich nun doch ein unheimliches Gefühl bei Robert. Es kommt ihm so vor, als hätte er seine Freunde betrogen. Zugleich schleicht sich bei ihm ein Gedanke ein: Die beiden Beamten könnten jetzt, da sie unter dem Einfluss von Phi stehen, die vier Metallkästen mit dem Geld wegschaffen, und wenn sie wieder zu sich kommen, müssten sie als verantwortliche Polizisten wieder danach suchen!

„Sag ihnen, dass sie die vier Metallkästen zur Zitadelle bringen sollen.“ Jetzt steht der Befehl klar vor seinen Augen.

Robert zögert und greift automatisch nach der glatten Lapislazulihalbkugel in seiner Hosentasche. Je länger er sie in seiner Hand spürt, desto mehr ist er davon überzeugt, dass es richtig ist, den Befehl weiterzugeben.

Das Telefon auf dem Schreibtisch des Hauptkommissars läutet. Werner hebt ab, lauscht kurz und gibt den Hörer wortlos an Robert weiter. Es ist Golubkardian.

„Robert, was du hier tust, ist ganz ausgezeichnet! Ich schicke dir gleich einen braunen Lieferwagen mit der Aufschrift Partner-Service. Er wird gegenüber dem Polizeipräsidium warten. Sag den beiden Beamten, sie sollen die Geldkisten ruckzuck dort einladen. Außerdem sollen sie sich jetzt sofort die Akte Gulay und die eures Schuldirektors bringen lassen und dir geben.“ Golubkardians Stimme wird fordernder: „Und du, Robert, kommst gleich wieder in unsere Zentrale und bringst die Akten persönlich vorbei!“ Damit legt er auf. Der Hauptkommissar und sein bester Mann, Fred Jarosch, haben dem Telefonat mit unbeteiligter Miene zugehört und warten allem Anschein nach auf weitere Anweisungen. Robert gibt zuerst den Auftrag weiter, die gewünschten Akten zu besorgen. Sofort greift Werner zum Hörer und veranlasst alles Nötige. Die Wartezeit erscheint Robert viel zu lange. Ungeduldig schaut er immer wieder aus dem Fenster und sehnt den Lieferwagen herbei. Doch es ist absolut unnötig, sich Sorgen zu machen. Der Bürobetrieb im Polizeipräsidium läuft weiter wie gewohnt. Eigenartigerweise wird Robert von seinen beiden Freunden überhaupt nicht beachtet. Sie tun so, als wäre er gar nicht im Raum. Der Hauptkommissar telefoniert gerade, als ein Beamter die gewünschten Akten in den Raum bringt und Fred übergibt.

Fred schaut fragend zu Robert hin. Der steckt vorsichtig die schmale Schatulle mit den restlichen Talern unter sein Hemd, dann nimmt er Fred den kleinen Stapel Akten ab und wendet sich zur Tür.

„Fred, ich muss jetzt weg! Wenn Herr Werner mit seinem Telefonat fertig ist, dann bring mit ihm zusammen die vier Geldkassetten zu dem braunen Lieferwagen, der jeden Moment vor dem Präsidium auftauchen wird. Weiter braucht ihr euch nicht darum zu kümmern. Vergesst danach diesen Vorfall ganz einfach.“ Fred hat wortlos zugehört und nickt nur zustimmend, während Robert mit den Akten unterm Arm das Büro verlässt. Als er durch das Hauptportal auf die Straße tritt, sieht er auch schon den braunen Lieferwagen gegenüber halten.

Es ist inzwischen Abend geworden, die Lichter der Stadt zeichnen sich immer mehr ab vor dem dunkler werdenden Himmel. Während Robert, das Bündel Akten fest unter den Arm geklemmt, durch die Altstadt in Richtung Zitadelle läuft, fällt ihm zum ersten Mal ein, dass er noch seine Hausaufgaben für morgen erledigen muss. Merkwürdig, dass er daran bisher noch keinen Gedanken verschwendet hat. Das ist ihm sonst nie passiert. Er fühlt, dass da irgendetwas nicht stimmt, aber sobald er intensiver darüber nachdenken will, gleiten ihm die Gedanken wie glitschige Fische im Wasser weg, er kann sie einfach nicht festhalten.

Endlich ist er bei den Stufen zur Kirche angelangt. Die schmalen Fenster zwischen den beiden Eingängen sind hell erleuchtet, und aus dem Innern ertönt Gesang. Robert hält inne. Da wird eine Messe gehalten! Wie soll er jetzt ungesehen hinter den Altar kommen?

Aber kaum hat er die erste Stufe der Treppe betreten, als sich oben aus dem Schatten die schmale Figur Golubkardians löst und ihm die Stufen hinab entgegenkommt. Wie aus dem Nichts ist er plötzlich aufgetaucht, mit seinem schwarzen Anzug war er von unten nicht zu erkennen.

Wieder fühlt sich Robert unbehaglich. Es ist nicht zu glauben, diesen Mann hat er erst vor einigen Stunden zum ersten Mal in seinem Leben gesehen, und nun übergibt er ihm streng vertrauliche Informationen zu polizeilichen Ermittlungen, die ihm der Hauptkommissar überlassen hat! Doch das dumpfe Gefühl legt sich schnell wieder, als Golubkardian seine Hand auf Roberts Schulter legt und ihn rechts am Eingang zur Kirche vorbei um die Ecke führt. Von seinem ersten Erkundungsgang her kennt Robert das Umfeld und weiß, dass hinter den drei eng zusammenliegenden schmalen Glasfenstern noch ein seitlicher Eingang durch das schwarze Tor ist.

„Wir haben einen echten Priester, der immer die Messe liest, aber von unseren Aktivitäten nichts ahnt. Er ist darauf programmiert, sich um nichts sonst zu kümmern“, erklärt Golubkardian, während er Robert an dem schwarzen Tor vorbei weiter nach hinten führt. „Wir müssen nur darauf achten, dass wir nicht von den Menschen, die zur Messe gehen, bemerkt werden. Darum benutzen wir immer während eines Gottesdienstes den hinteren Eingang.“ Er huscht geräuschlos an Robert vorbei um die Ecke, öffnet die Hälfte des metallenen Doppeltors, das von der Rückfront in das Gebäude führt, und schaltet Licht an. Robert sieht einen kurzen, mit Teppichboden belegten Gang vor sich, der frontal zu einer weiteren Doppeltür führt. Links und rechts sind nochmals zwei Türen zu sehen. Das Handy seines Begleiters meldet sich. Aus dem Gespräch schließt Robert, dass Golubkardian mit dem Fahrer des braunen Lieferwagens redet und ihn zu irgendeinem Platz dirigiert, den Robert nicht kennt. Dann lässt Golubkardian das Handy wieder in seinen Anzug verschwinden.

„Robert, du hast gehört, dass der Geldtransport bald da sein wird. Komm gleich mit, dann kannst du sehen, ob alles so ankommt, wie du es den beiden Polizisten aufgetragen hast.“

Damit öffnet er die Tür zur Linken und Robert sieht eine Treppe in die Tiefe führen.

„Die Kirche hier steht auf einem Hügel gegenüber dem Jakobsberg“, erläutert Golubkardian, während er vor Robert die Treppe hinabsteigt. „Der Jakobsberg ist rundherum befestigt, die alten Mauern sind noch sehr gut erhalten und dienen heute als viel besuchte Touristenattraktion. Sie umschließen die alte Zitadelle, die früher das Zentrum der Verteidigungsanlagen von Mainz war. Zwischen unserem Hügel und der Zitadelle liegt eine wild wuchernde Grünzone, die kaum von Fremden wahrgenommen wird. Sie wird nicht vom städtischen Grünamt gepflegt, hier überlässt man die Natur sich selbst.“

Sie sind die Treppe hinabgestiegen und gelangen nun in einen hallenartigen Raum, in dem mehrere Autos parken. Robert staunt. Sie befinden sich in einer richtig großen Tiefgarage im Verborgenen, wo niemand so etwas vermuten würde!

Golubkardian öffnet das Tor nach außen. Davor ist es schon ziemlich dunkel, doch Robert erkennt einen kurzen Feldweg, der sich durch das dichte Gebüsch schlängelt. Schon kommt ein Motorengeräusch näher, und der braune Lieferwagen taucht mit abgeblendeten Scheinwerfern hinter den Büschen auf. Nachdem er in die Garage herein gefahren ist, schließt Golubkardian das Tor wieder. Fahrer und Beifahrer steigen aus und öffnen, ohne ein Wort der Begrüßung zu sagen, die Hecktüren des Fahrzeuges. Da stehen sie, die vier Kästen, die Robert schon im Keller der Gulays gesehen hat. Darin muss eine Riesensumme verstaut sein.

„Okay, bringt die Kästen in Raum vier.“ Damit dreht sich Golubkardian wieder zu Robert hin. „Du hast uns einen großen Schritt vorwärts gebracht, aber das war auch nicht anders zu erwarten. Ich sage ja: Phi irrt sich nicht.“

Golubkardian bringt Robert wieder zur Treppe und nimmt ihm endlich die Polizeiakten ab. „Du weißt ja: Um unsere Ziele zu erreichen, brauchen wir viel, viel Geld“, sagt er und schaut Robert intensiv an, „diese großen Geldsummen zu besorgen, wird uns noch einige Zeit beschäftigen! Banken, Industrie und vermögende Privatleute werden uns das nötige Geld geben, und auch mit Rauschgift lassen sich tolle Geschäfte machen. Das ist immer noch die erste Stufe, danach geht es weiter, aber bis dahin wirst du eine Top Ausbildung bekommen. Und jetzt, Robert, fahr nach Hause, es ist spät geworden. Wenn du mich brauchst, rufe mich jederzeit an.“ Golubkardian gibt ihm eine Karte mit seiner Telefonnummer und ermahnt ihn nochmals, die blauen Taler weiter an wichtige Menschen zu verteilen. Dann öffnet er wieder die Tür auf der Rückseite des Gebäudes und entlässt Robert.

In tiefe Gedanken versunken geht Robert langsam zur Bushaltestelle. So vieles ist seit Mittag auf ihn eingestürzt, so vieles, was er noch immer nicht versteht ... Was ist jetzt und was war vorher? Irgendetwas läuft doch jetzt anders, ganz anders als bisher! Was ist eigentlich bei Herrn Werner und Fred geschehen? Einerseits erscheint es Robert ganz natürlich, dass die beiden die Geldkassetten herausgegeben haben und dass das Geld jetzt in der Phi-Zentrale ist. Aber trotzdem stimmt da etwas nicht! Unmittelbar kommen fühlbar positive Impulse von seinen Lapislazulis: von den vielen Talern aus der Schatulle dicht an seiner Haut und von seiner wunderschönen glänzenden Halbkugel. Plötzlich fühlt Robert sich wieder glücklich und mit sich im Reinen. Auf dem Lerchenberg steigt er aus dem Bus und geht lässig zum Hochhaus. Es ist mittlerweile wirklich sehr spät geworden, aber er ist wegen seiner Eltern absolut nicht beunruhigt. Was sollen sie schon sagen, wenn er so spät ankommt?

Erst als er mit dem Fahrstuhl in den elften Stock hochfährt, bemerkt er, dass er keinen Wohnungsschlüssel dabei hat. Er muss mehrmals lange läuten, bis endlich sein Vater die Tür öffnet.

„Komm rein“, knurrt er seinen Sohn missmutig an und lässt ihn in die Wohnung.

Im Morgenmantel kommt seine Mutter aus dem Schlafzimmer und will gerade zu einer Strafpredigt ansetzen. Doch Robert kommt ihr rasch zuvor. Entschlossen zieht er die schmale Schatulle mit den blauen Talern aus dem Hemd und öffnet sie.

„Ich habe hier etwas für euch, was euch beiden gefallen wird.“ Damit nimmt er einen der blau schimmernden Taler heraus und legt ihn auf den Wohnzimmertisch.

„Oh, wie schön! Der ist ja märchenhaft!“

Fasziniert schauen seine Eltern auf den blauen Taler, der im Licht der Stehlampe ein geheimnisvolles Leuchten ausstrahlt. Dieses Blau muss einfach jeder lieben, der es sieht. Roberts Eltern lassen sich auf der Couch nieder und versinken ganz im Anblick des Talers. Dass sie eigentlich mit ihrem Sohn schimpfen wollten, weil er so spät nach Hause gekommen ist, haben sie ganz vergessen.

Robert fühlt sich nun absolut sicher und überlegen. Als er später aus dem Bad kommt und beide noch immer ganz verzückt im Wohnzimmer sitzen, geht er hin und verdeckt den Taler mit der Hand. Benommen blicken seine Eltern auf. Sie sehen aus, als wären sie eben aus einem tiefen Schlaf aufgewacht. „Das ist ganz fantastisch, was du uns hier mitgebracht hast.“ Sein Vater streicht ihm anerkennend über den Kopf.

„In der Küche haben wir noch Essen für dich aufgehoben“, sagt seine Mutter und nimmt den Taler an sich. „Wir beide gehen wieder ins Bett. Gute Nacht!“

In dieser Nacht wird Robert, die Lapislazuli-Halbkugel in der Hand, von schlimmen Träumen gequält. Das Amulett erscheint in dem vertrauten milden Licht vor ihm und will mit ihm reden, doch bevor es etwas sagen kann, wird es plötzlich von einem grellen Blitz überstrahlt und versinkt in einem blauen Leuchten, das Robert sehr bekannt vorkommt. Er fühlt sich wohl in diesem blauen Licht und kann nicht verstehen, warum von dem blasser werdenden Amulett so schauderhafte Schreie kommen, die schließlich mit dem immer schwächeren Leuchten verstummen. Robert hat plötzlich das schreckliche Gefühl, dass er einen wertvollen Freund verliert, aber der Gedanke gleitet sofort wieder weg. Kaum ist es wieder dunkel geworden und das Blau verschwunden, schwebt schon wieder das Amulett im milden Licht auf ihn zu.

„Robert, du bist in großer Gefahr, trenne ...“

Ein greller Blitz überdeckt erneut das schwache Leuchten, dann wird Robert von intensivem Blau eingehüllt. Wieder hört er schreckliche Schreie, doch jetzt nur gedämpft, denn sofort kommen die Gedanken an Phi, die ihn voll ausfüllen. Sie wirken beruhigend auf Robert ein und geben ihm Sicherheit. Es ist ein fantastisches Gefühl, und Robert ist unendlich dankbar, dass Phi sich um ihn kümmert und ihn beschützt.

Robert im Bann des Lapislazuli

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