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Kapitel 4

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August 1980. Einmal im Jahr fuhren meine Eltern mit mir und meiner vier Jahre älteren Schwester Stephanie in den Urlaub. Mehr konnten wir uns nicht leisten.

Schon im Januar war klar gewesen, dass wir an die Ostsee reisen würden. Nach Ückeritz. Anfang des Jahres wurden die Urlaubsplätze im Betrieb meiner Mutter vergeben und wer nicht rechtzeitig einen Antrag gestellt hatte, sah in der Röhre.

Die meisten volkseigenen Betriebe, auch die meiner Eltern, bewirtschafteten irgendwo in der kleinen Republik Bungalows oder ein Ferienhotel. Manche waren attraktiv, andere weniger.

Die Ferienhotels trugen Namen wie: FDGB- Ferienhotel Werner Seelenbinder oder wie im Falle der kleinen Bungalowsiedlung in Ückeritz nur den Namen der Betriebe, die dort einen oder mehrere Bungalows an ihre Belegschaft vermieteten, wie beispielsweise: VEB Armaturenwerk Altenburg.

Ich hatte zwei Wochen meiner Ferien im Armaturenwerk, in dem meine Mutter halbtags als Sekretärin arbeitete, an einer Bohrmaschine geschuftet. Die Arbeit war nicht schwierig gewesen, nur eintönig. Meine Aufgabe bestand darin, sieben Löcher in eine Metallplatte zu bohren. Wozu diese Metallplatte mit den sieben Löchern verwendet wurde, wusste ich nicht. Ich bohrte in einer Stunde achtundzwanzig Löcher und gab mich währenddessen meinen Phantasien hin. Mädchen natürlich. Und in jeder Pause rannte ich zum Klo, um zu onanieren.

Ostsee. Ich konnte es kaum erwarten. Bislang waren wir zweimal an der Ostsee gewesen. Einmal in Ahlbeck und einmal in Binz. Da war ich sechs und zehn Jahre alt. Letztes Jahr waren meine Eltern mit uns nach Tatranska Kotlina in der Hohen Tatra gefahren. Das war das erste Mal, dass ich ein anderes Land innerhalb unserer kleinen Reisemöglichkeiten mit eigenen Augen sah. Aber in den Bergen herumlaufen, fand ich anstrengend.

Ich liebte die Ostsee. Ein anderes Meer kannte ich nicht.

Meine Mutter war seit Tagen mit Packen beschäftigt. Am Abend vor der Reise brutzelte sie kleine Hackbällchen, kochte Eier und beschmierte stapelweise Brote. Drei von den Broten bestrich sie mit Erdbeermarmelade. Die waren für mich. Obwohl die Brote nach wenigen Stunden zu Marmeladen-Brot-Brei matschten, liebte ich die Marmeladenbrote meiner Mutter. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich mich ausschließlich von Erdbeermarmeladen-Broten ernährt.

Mein Vater saß am Abend vor der Abreise vor einer Landkarte und notierte sich die Fahrroute auf einen kleinen Zettel, mit dem meine Mutter ihn später navigieren sollte.

Altenburg, Leipzig, Transitstrecke bis Berlin – meine Gelegenheit, Westwagen zu zählen – Dreieck Michendorf, Berliner Ring Richtung Rostock. In Oranienburg auf die F 96, Fürstenberg, Neustrelitz, Neubrandenburg. Dann rüber nach Anklam. Wolgast, Ückeritz.

Mit seinem langen Zeigefinger auf der Landkarte fuhr mein Vater die Strecke entlang, und ich beobachtete ihn dabei.

„Wie viele Kilometer sind das?“, fragte ich.

Mein Vater nahm einen anderen Zettel und kritzelte Zahlen darauf. Zwischen den Städten stand die Entfernung in Kilometern auf der Karte.

„Ungefähr 560.“

Das war wie eine kleine Weltreise.

Das Aufregendste für mich war das frühe Aufstehen vor einer Reise.

Mein Vater pflegte gern mitten in der Nacht loszufahren, um den langen Konvois in Richtung Ostsee, dem Thüringer Wald oder zu den anderen Urlaubsgebieten, in die wir schon gefahren waren, zu entgehen. Einen Wecker brauchte ich nicht. Ich wusste, dass mich meine Mutter wecken würde.

Es war das erste Mal, dass meine Schwester nicht mit uns reiste. Sie hatte seit ein paar Monaten einen Freund und beabsichtigte mit ihm an der Hohenwarte Talsperre zu zelten. Vater und Mutter knirschten zwar eine Weile mit den Zähnen, aber letztendlich mussten sie es akzeptierten. Schließlich war sie gerade Achtzehn geworden.

Für mich war es das letzte Mal, dass ich mit meinen Eltern in den Urlaub fuhr. Nach Ückeritz hatte ich praktisch keine Familie mehr.

Pünktlich um halb Vier stand meine Mutter an meinem Bett und strich mir sanft durch das Haar.

„Aufstehen Philipp. Es geht los!“

„Auf dem Rückweg halten wir in Berlin. Du hast es versprochen!“ Ich saß im Wohnzimmer am Esstisch meinem Vater gegenüber und beobachtete ihn.

Mehrere Tage musste ich darum betteln, meinen Vater dazu zu bewegen, sich mit seinem Trabi in diese Stadt hinein zu wagen. Er hasste große Städte und am meisten hasste er Berlin.

„Die Berliner sind unfreundlich, großmaulig und schnippisch“, pflegte er zu schimpfen, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot.

Ich wollte unbedingt in den Plänterwald. Ein Klassenkamerad, Kai Wagner, hatte davon geschwärmt, dass ich schon Tage vor der Abreise, jede Nacht von der Achterbahn im Plänterwald träumte.

„Wieso musst du unbedingt in diesen dämlichen Plänterwald?“, brummte mein Vater und spülte den Bissen Brötchen mit einem Schluck Kaffee herunter. Meine Mutter hantierte in der Küche, füllte eine längliche Thermokanne mit Kaffee. Sie würde mindestens dreimal durch die Wohnung rennen, um nachzusehen, ob die Fenster geschlossen wären, die Pflanzen genügend Wasser hatten, alle Wasserhähne überprüfen und ob der Gashahn abgestellt war.

„Den gleichen Mist gibt es doch auch auf der Leipziger Kleinmesse.“

„Papa, auf der Kleinmesse gibt es keine Achterbahn.“

„Was hast du immer nur mit deiner Achterbahn?“

Damit war das Gespräch beendet. Trotzdem wusste ich, dass er mir meinen Wunsch erfüllen würde. Das tat er immer, wenn er es konnte. Selbst einen Hund hätte er mir gekauft, wäre meine Mutter nicht so halsstarrig dagegen gewesen.

Mein Vater und ich warteten über eine halbe Stunde, bis meine Mutter endlich am Auto erschien.

„Ich musste doch noch gucken, ob der Gashahn abgestellt ist.“

Natürlich! Jeden Tag explodierte irgendwo eine Wohnung in der Stadt.

Ich kletterte auf die Rückbank und machte es mir so bequem wie möglich. 1980 war das Anschnallen in der DDR noch nicht Pflicht und der papyrusweiße Trabant 601 besaß hinten ohnehin keine Gurte.

Ich legte meine Beine nach oben, schob mir ein paar klobige Kopfhörer über die Ohren, die aussahen wie ein in der Mitte durchtrenntes Straußenei und warf meine Lieblingskassette in den Radiorecorder. Der Radiorecorder war nagelneu. Das Plastikgehäuse mattschwarz, die rote Aufnahmetaste ganz rechts und über dem Kassettendeck stand mit moderner Schrift Radio Recorder Babett. Das Gerät besaß einen Trageriemen, so dass ich es sogar über die Schulter hängend herumtragen konnte, wenn ich wollte. Auf dem Tape war CrO2 gedruckt und STOP und AUTOMATIK. CrO2 bedeutete, dass der Tonkopf für die neue Generation Kassetten geeignet war. Das einzige Problem war die Effizienz der Batterien. Nach drei vier Stunden begannen die Kassetten zu leiern und Mick Jagger klang, als würde ihm bei Satisfaction die Lust am Singen vergehen.

Ich hatte auf zwei Weihnachts- und zwei Geburtstagsgeschenke verzichtet und wegen des noch fehlenden Geldes die letzten Wochen im Betrieb meiner Mutter geschuftet, nur, um mir dieses für mich absolut moderne Gerät kaufen zu können. Und nun genoss ich meine Mitschnitte auf der hinteren Sitzbank unseres Trabants so stolz wie ein König.

Auf meiner neuen CrO2- ORWO-Kassette befanden sich Mitschnitte von diversen Radiosendungen. Ich hörte fast ausschließlich Bayern 3 oder Radio Luxemburg. Am liebsten Pop nach Acht auf Bayern 3 – eine Sendung, die von Thomas Gottschalk und Fritz Egner moderiert wurde. Wir hatten Glück – Altenburg lag nicht im Tal der Ahnungslosen wie beispielsweise Dresden. Und obwohl mein Vater Mitglied der SED war, sahen wir zu Hause Westfernsehen und hörten Westradio. Nur Verwandte im Westen hatten wir keine. Die einzige Levis, die ich damals besaß, hatte ein kleines Vermögen gekostet und war inzwischen über und über mit Flicken übersät. Meine absolute Lieblingshose. Meine Mutter schimpfte jedes Mal beim Waschen und schüttelte den Kopf, aber nähte sie immer wieder zusammen, wenn sie irgendwo einen neuen Riss bekommen hatte. Sobald die Hose gewaschen war, zog ich sie an und manchmal zog ich sie sogar an, wenn sie noch feucht war und an der Haut klebte. Selbstverständlich trug ich sie auch heute und würde sie den gesamten Urlaub tragen.

In Leipzig ermahnte mich mein Vater das erste Mal, nicht so laut zu singen. Ich sang einen Beatles-Song mit: Yesterday. Die Beatles gab es schon eine Weile nicht mehr und meine Sangeskünste waren ziemlich dürftig.

Bis Ückeritz ermahnte mich mein Vater sechs oder siebenmal, nicht so laut zu singen, aber nie verlor er die Geduld oder wurde wütend.

Mein Vater! Ich liebte meinen Vater. Er war einer meiner besten Freunde, als ich Vierzehn war. Nein, er war der Beste.

Ich erinnere mich, wie er monatelang an einer elektrischen Eisenbahn auf dem Dachboden unseres Miethauses herumgewerkelt hatte. Er klebte und hämmerte alles selbst zusammen, bemalte die Rückwand aus Sperrholz mit einer Landschaft, verlegte künstlichen Minirasen und baute jedes kleine Häuschen aus Modellbaukästen zusammen. Er verlegte Schienen und unendliche Ströme kleiner Elektrokabel. Wenn etwas nicht funktionierte, fing er geduldig von vorne an. Eine Sisyphusarbeit. Weihnachten 1973 bekam ich sie dann geschenkt und jedes Jahr eine Lok, ein paar Güterwagons oder einen Personenzug von ihm dazu.

Diese Modelleisenbahn begleitete mich meine gesamte Kindheit. Wenn ich einmal vor Ungeduld zu platzen drohte, weil erst der 21.12. war und es bis zur Bescherung noch Monate zu dauern schien, steckte er mir einen kleinen Modellgüterwagon vorzeitig in die Tasche.

„Aber sag nichts der Mama!“ Ich strahlte. „Niemals!“ Wir waren eine verschworene Gemeinschaft.

Später sollte ich mich an diesen Erinnerungen wie ein Schiffsbrüchiger an einen Rettungsring klammern. Den Schmerz allerdings, der manchmal meinen Körper vergiftete, konnten sie nicht lindern.

Kurz hinter Neubrandenburg kam der Urlauberverkehr zum Erliegen. Ein Mann hatte sich mit seinem Barkas- Kleintransporter um eine Linde gewickelt. Inzwischen war es Mittag geworden und die Sonne knallte auf die Plastikkarosse unseres kleinen Autos, dass ich fürchtete, dass sie irgendwann einfach schmolz.

Der schwerverletzte Mann wurde abtransportiert und nach knapp zwei Stunden war die Unfallstelle geräumt. Der Verkehr schleppte sich wieder in Richtung Norden.

Im Fond herrschten langsam tropische Temperaturen. Ich beschwerte mich und bat meine Mutter, mich eine Weile nach vorne setzen zu dürfen, weil es hinten keine Scheibe zum herunterkurbeln gab, aber sie überhörte meine Bitte. Stattdessen steuerte mein Vater den nächsten Waldweg an, stoppte den Trabi und wir kletterten ächzend und schwitzend aus dem winzigen Käfig.

Der Kofferraum war bis auf den letzten Millimeter vollgestopft mit Dingen. Es bedurfte schon eines ausgeklügelten Systems, um darin das Gepäck für drei Personen zu verstauen. Außerdem besaß mein Vater die Angewohnheit, ein halbes Ersatzteillager auf jeder noch so kleinen Reise mitzuschleppen.

„Man kann ja nie wissen“, meinte er immer, wenn meine Mutter über den Kofferrauminhalt ihr volles braunes Haar schüttelte.

So befanden sich natürlich auch auf der Fahrt nach Ückeritz neben unseren Koffern und der Provianttüte, diverses Werkzeug, um, davon war ich überzeugt, den Trabant einmal auseinander und wieder zusammen zu schrauben. Zündkerzen, eine funktionsfähige gebrauchte Lichtmaschine, zwei Keilriemen, Unmengen Ersatzlampen, Vergaserteile und natürlich das Ersatzrad.

Die Aufgabe meiner Mutter war es, die Koffer für uns alle zu packen. Aufgabe meines Vaters war es, all diese Dinge dann in den Kofferraum zu stopfen.

Ich hatte eigentlich nichts anderes zu tun, als die Wetterberichte der verschiedenen Kanäle zu hören und diese dann zu vergleichen. So wie es aussah, sollten die nächsten zwei Wochen sehr warm werden und es so gut wie keinen Regen geben.

Es gab Leute, die fuhren mit so einem kleinen Auto bis an den Balaton nach Ungarn und schleppten dann auch noch die Verpflegung für vierzehn Tage mit. Wie das funktionierte, war mir ein Rätsel.

Meine Mutter kramte nach der Provianttüte und verteilte die Brote, die Fleischbällchen, die hart gekochten Eier und den Kaffee. Die Apfelstückchen hatten wir schon unterwegs gegessen.

Wir ließen uns im Gras nieder und machten Picknick. Das Essen war köstlich.

Der Wald rings um uns roch wie Wald riecht, wenn er langsam vertrocknet. Seit Tagen war die höchste Waldbrandstufe ausgerufen worden und meine Mutter verbot meinem Vater das Rauchen.

Dass ich in ein paar Tagen selbst mit dem Rauchen anfangen sollte, ahnte ich noch nicht und musste Grinsen, als mein Vater leise vor sich hin fluchend in den Trabi kroch, um dort zu rauchen. Während der Fahrt herrschte ebenso Rauchverbot wie im Wald.

Nachdem wir uns gestärkt und ein bisschen die Beine vertreten hatten, verstaute mein Vater den Rest des Proviants im Kofferraum und wir reihten uns wieder in die endlos scheinende Schlange Autos in Richtung Ostsee ein.

Dreieinhalb Stunden später standen wir neben unserem Bungalow. Dem Bungalow Nummer Zwanzig. Alle Bungalows trugen neben der Zahl Namen wie Urlaubsfreude, Feierabendglück oder gar Völkerfreundschaft. Unser Bungalow hieß Campingfreund und war lindgrün.

Als ich gerade den letzten Koffer zur Tür wuchtete, sah ich sie das erste Mal. Tanja!

Sie sah aus, als wäre sie geradewegs meinen Träumen entstiegen. Mir stockte sofort der Atem.

Am liebsten hätte ich den Koffer fallen gelassen, wäre zu ihr geeilt und hätte sie für den Rest meines Lebens in die Arme geschlossen. Aber ich war Vierzehn, gut in ein paar Monaten Fünfzehn, und mit Vierzehn oder Fünfzehn tut man so etwas nicht. Ein Vierzehn- oder Fünfzehnjähriger, den ein solches Gefühl überkommt, errötet. Also errötete ich bis zu den Fußsohlen, wie mir schien.

Tanja sah kurz zu mir herüber, lächelte und verschwand in einem der Bungalows. Mein Körper machte den Eindruck, als würde ich mich nie wieder von der Stelle rühren können und die nächsten Jahrhunderte vor einem lindgrünen Bungalow stehen bleiben müssen.

„Philipp?“ Meine Zunge war schon versteinert.

„Philipp!

„Ja?“

„Wo bleibst du mit den Koffern?“ Meine Mutter erschien in der Tür und fuchtelte mit den Armen.

Mir ist gerade die Liebe begegnet, und ich kann mich nicht mehr bewegen! Das sagte ich natürlich nicht. Ich war Vierzehn. Und ein Vierzehnjähriger spricht mit seiner Mutter niemals über solche Dinge.

„Ja, verdammt noch Mal. Ich bin doch kein Koffergully!“ Dieses Wort gefiel mir. Koffergully. Ich hatte es in irgendeinem Roman gelesen.

„Papa wartet schon. In diesem Koffer ist sein Rasierzeug. Würdest du dich also bitte bequemen, ihn herzubringen.“

Koffergully!

„Wir sind im Urlaub. Warum muss er sich jetzt rasieren? So was Überflüssiges.“

Ich kannte meinen Vater nicht anderes, als absolut korrekt rasiert. Bisweilen rasierte er sich wegen seines starken Bartwuchses sogar zweimal am Tag.

„Ich fühle mich nicht wohl, wenn ich unrasiert bin: nicht wegen der Leute, sondern meinetwegen. Ich habe das Gefühl, ich werde zu etwas wie eine Pflanze, wenn ich nicht rasiert bin, und greife unwillkürlich an mein Kinn. Ich fühle mich dann wie Gras“, erwiderte er stets, wenn ich oder meine Schwester Stephanie spotteten.

Später las ich diese Sätze in Homo Faber von Max Frisch und wunderte mich darüber, wie Max Frisch zu den Sätzen meines Vaters gelangt war. Wahrscheinlich war es wohl eher umgekehrt.

Die Sachen waren verstaut, die Betten bezogen und mein Vater frisch rasiert. Wir gingen die Ostsee begrüßen. Das war ein sorgsam gehegtes Ritual, das ich bis zum heutigen Tag zelebriere. Wann und wo auch immer ich in der Nähe ein Meer weiß, suche ich es auf, um es zu begrüßen und wenn es warm genug ist, darin zu baden.

Ein kleiner Trampelpfad begann hinter einer schmalen Straße und führte durch die Dünen.

Es war Mittag und es war heiß. Ich trug natürlich meine geliebte Levis und ein Nicki mit einem darauf gedruckten Foto von Led Zeppelin. Das hatte ich von Kai Wagner gegen ein Pornoheft getauscht, das ich für dreißig Mark von Ralf Zschiedrich gekauft hatte. Ralfs Vater war Volkspolizist und hatte irgendwann einen ganzen Stapel dieser Hefte konfisziert. In unserer Klasse gab es zahlreiche solcher Geschäfte.

Ich schwitzte. Insgeheim hoffte ich, dass mein Traummädchen uns entgegen kam und da der kleine Weg so schmal war, wir uns dann zwangsläufig berühren mussten. Stattdessen versperrte uns ein fetter Urlauber den Weg und schubste mich beinahe in die Büsche.

Meine Mutter war vom Strand entzückt, mein Vater war vom Strand entzückt. Ich war darüber entzückt, dass sich keine zweihundert Meter von unserem Strand entfernt ein FKK-Strand befand. Das Paradies eines Fast-Fünfzehnjährigen. An einem geheimen Ort in meinem Zimmer zu Hause, hatte ich ein kleines Heftchen mit Fotos von nackten Frauen versteckt. Die Fotos stammten aus dem Magazin oder der Funzel – einer Seite aus dem Eulenspiegel. Diese harmlosen Nacktfotos spielten natürlich mehr oder weniger kleine oder größere Rollen in meiner Phantasie. Außerdem besaß ich noch eins von den konfiszierten Pornoheften, mit riesigen Aufnahmen auseinander gezogener Schamlippen oder ejakulierenden Schwänzen, aber das kleine Heftchen mit den Bildchen mochte ich lieber.

Was ich hier sehen könnte, übertraf alles, was ich jemals zu Hause unter meiner Bettdecke herbei phantasiert hatte. Hier spielten sogar nackte Frauen Volleyball. Ich bekam sofort eine schmerzhafte Erektion.

Das Thema FKK war für meine Eltern tabu. In diesen Dingen waren sie beide ähnlich schamhaft wie Pubertierende. Niemals würden sie eine Sauna ohne Badebekleidung betreten oder etwa nackt am Strand herumlaufen. Als ich meinen Vater das erste Mal unbekleidet sah, war ich Neun. Das war unter der Dusche in der Altenburger Schwimmhalle und wir waren, glaube ich, beide ein bisschen verlegen. An eine eventuelle Nacktheit meiner Mutter erinnere ich mich überhaupt nicht.

Gab es irgendwo im Fernsehen eine Liebesszene, in der eine entblößte Frauenbrust zu sehen war, hätte man die Luft in unserem Wohnzimmer knistern hören können.

An unserem Strand gab es ebenfalls einen Volleyballplatz, wo mit Badehose, Badeanzug oder Pulli gespielt wurde. Eine Gruppe Mädchen, Jungen, Männer und Frauen sprangen hoch oder hechteten nach dem Ball. Unter ihnen waren Ramona, Andreas, Silvio, Markus und seine Schwester Christiane. Schon bald sollten sie in diesem Urlaub meine besten Freunde werden.

Statt der Ostsee die gebührenden Aufmerksamkeit zu widmen, wie es mein Vater und meine Mutter taten, warf ich schon mal verstohlene Blicke hinüber zum FKK Strand. Ich konnte so tun, als suchte ich Steine am Strand und mich so langsam diesem Paradies nähern.

Ein guter Plan! Ein verdammt guter Plan!

Zurück im Bungalow machte sich meine Mutter sofort an der kleinen Kochnische daran, das Essen zuzubereiten. Das Wasser zum Kochen und zum Waschen musste ein paar Schritte entfernt von unserem Bungalow geholt werden. In der Mitte eines kleinen Platzes ragte ein Rohr mit einem gusseisernen Hahn einen halben Meter in den Himmel. Das war die Wasserversorgung der Bungalowsiedlung. Diese Arbeit erledigte mein Vater. Als die Spaghetti und die Tomatensoße kochten, gingen wir zu dem Tisch, der zwischen unserem und dem Bungalow unserer Nachbarn in den Sand einbetoniert war, setzen uns auf eine der drei Bänke und aßen unter freiem Himmel. Meine Eltern tranken Bier, ich eine Vita-Cola.

Vor dem Einschlafen musste ich zweimal zur Toilette rennen, um zu onanieren und erschlug dann zwölf Mücken in meinem Zimmer. Die Hälfte davon lauerte schon an der Wand über meinem Kopfkissen.

Noch 240 Stunden bis zur Katastrophe.

In der Nacht träumte ich von nackten Volleyballspielerinnen, die mit weit gespreizten Beinen über das Netz sprangen …

Es gab noch keine Vorwarnung, kein Zeichen. Nicht das Kleinste.

Operativer Vorgang: Seetrift

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