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Kapitel 6

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Mein Vater war ein guter Schwimmer. Er liebte das Meer, und er liebte das Schwimmen. Jeden Morgen nach dem Frühstück während unseres Urlaubs in Ückeritz, schnappte er sich sein Badezeug und ging schwimmen. Und manchmal ging er, wenn der Mond aufgegangen war, noch einmal zum Meer, um zu schwimmen.

Als er mir das Schwimmen beibrachte, war ich Neun.

Er selbst hatte es in der Mulde gelernt – kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Eilenburg wurde von den Amerikanern besetzt, und im Hof meiner Großeltern, in einem kleinen Dorf, acht Kilometer von Eilenburg entfernt, schlugen sie für diese Gegend ihr Hauptquartier auf. Im Großen und Ganzen waren sie zu den Menschen dort freundlich und besonders die Kinder waren von den Amerikanern begeistert. Ein amerikanischer Sergeant, George Miller, der selbst keine Kinder hatte, mochte meinen Vater. Er lernte ihm amerikanische Lieder, brachte ihm einige englische Wörter bei und steckte ihm an und an Schokolade zu. Im Juli 1945 nahm er meinen Vater mit an die Mulde und lernte ihm das Schwimmen. Das war nicht ungefährlich, und meine Großmutter hatte bestimmt ein paar schwere Stunden. Mein Großvater befand sich zu dieser Zeit noch in russischer Gefangenschaft, aus der er erst drei Jahre später zurück kehren sollte.

Ein paar Monate später verließen die Amerikaner Eilenburg und stattdessen kamen die Russen. Das Potsdamer Abkommen war unterschrieben worden. Für die Menschen auf dem Hof meiner Großeltern wurde es schwieriger, nur mein Vater verstand die ganze Aufregung nicht. Er fühlte sich stark, denn er hatte an einem einzigen Tag schwimmen gelernt.

Und weil ihn das sosehr beeindruckte, wie der amerikanische Sergeant ihm das Schwimmen beigebracht hatte, wandte er die gleiche Methode Jahre später bei mir an.

Wir gingen zusammen in ein städtisches Freibad – ins Nordbad, denn in Altenburg gab es zwei.

Im Nordbad flößte mir ein drei Meter hoher Turm Respekt ein und im Südbad einer, der sogar zehn Meter maß. Ich hatte oft als kleiner Junge beobachtet, wie Leute von dort oben ins Wasser sprangen und mich jedes Mal vor Ehrfurcht und Unbehagen geschüttelt.

Ich war neun Jahre alt und hatte mich immer in den ersten drei Schuljahren erfolgreich vor dem Schwimmunterricht in der Schule gedrückt. Mal war mir aus irgendeinem Grund plötzlich schlecht geworden, mal vergaß ich die Badehose, mal schmerzte ein entzündeter Zahn, mal bekam ich Durchfall und manchmal drehte ich auf dem Weg zur Schwimmhalle einfach um. Nicht nur die beiden Sprungtürme in den Freibädern nötigten mir nämlich einen gehörigen Respekt ab, sondern Wasser an sich, soweit ich darin nicht mehr stehen konnte.

Mein Vater stellte sich neben mich vor das Schwimmerbecken, sagte einfach nur: „Vertraue und konzentriere dich!“ Und stieß mich hinein.

Ich ging unter, schluckte Wasser, kam wieder hoch und schwamm. Erst ein paar Meter, dann die ganze 50 Meter Bahn. Mein Vater lief neben mir her und jubelte. So einfach war das.

Meine Mutter diskutierte zwei Nächte danach mit ihm über seine Grobheit und Leichtsinnigkeit.

Zuerst hasste ich ihn dafür, dann beruhigte ich mich und dann war ich stolz.

Am Abend, bevor mich Tanja ihren Freunden vorstellen wollte, gingen mein Vater und ich gemeinsam in der Ostsee schwimmen.

Die Temperaturen draußen waren noch immer mild und das Meer lag wie ein flacher dunkler Teller vor uns. Hunderte Grillen übertrumpften sich gegenseitig und die Mücken nervten. In der Ferne lief eine kleine menschliche Silhouette am Strand entlang. Ich erschrak kurz, weil ich einen Moment lang glaubte, Tanja zu erkennen. Aber ich hatte mich geirrt.

Tanja verschwand gerade mit ihrem Stiefvater an einer anderen Stelle zwischen den Dünen. Sie waren auf dem Weg zu ihrem Bungalow. Die beiden hatten ebenfalls im Meer gebadet. Im Gegensatz zu uns allerdings nackt.

Am Horizont leuchteten die Lichter von mehreren Schiffen. Reisesehnsucht stieg in mir hoch, und ich dachte kurz darüber nach, vielleicht Matrose zu werden.

Ich trug einen Bademantel über meiner Badehose. Mein Vater hatte sich über seine nur ein Handtuch um die Hüfte gewickelt.

Glücklicherweise hatte ich seit der drastischen Methode meines Vaters, mir das Schwimmen beizubringen, jegliche Scheu vor tiefem Wasser verloren.

Noch im selben Sommer schaffte ich die erste Schwimmstufe, im Sommer darauf die Zweite und die Dritte. Beim Schwimmunterricht war ich fortan immer der Erste unter der Dusche und der Letzte, der aus dem Schwimmbecken kletterte. Bei der Spartakiade gewann ich mehrere Silber- und sogar eine Goldmedaille im 100 Meter Brustschwimmen.

Mit Zwölf stand ich das erste Mal auf dem Zehn-Meter-Turm im Altenburger Südbad und sprang, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Das Jahr darauf wagte ich sogar von dort oben einen Kopfsprung. Dieser Sprung war zwar nicht besonders graziös, aber ich schaffte es wenigstens, mir nicht weh zu tun. Als ich wieder auftauchte, spendeten einige Badegäste Applaus. Ein tolles Gefühl. Schade, dass es in der Ostsee keine Sprungtürme gab.

Mein Vater machte ein paar Lockerungsübungen, und ich wartete, bis er damit fertig war.

„Sag mal“, fiel mir plötzlich ein; „hat dich dieser amerikanische Sergeant damals auch einfach so in die Mulde geschubst?“

„Bist du verrückt“, mein Vater war mit den Oberkörperdehnungen fertig und dehnte jetzt die Beinmuskulatur, „da wäre ich bestimmt ertrunken. Nein, er band mir sein Koppel um die Hüfte, knüpfte daran ein Seil, sagte: Are you ready? Und warf mich dann ins Wasser. Mit einen amerikanischem Koppel um die Hüfte konnte mir nichts passieren. Das wusste ich.“

„Und wieso hatte ich keinen Koppel, als du mir das Schwimmen beigebracht hast?“

„Philipp, das Nordbad ist nicht die Mulde… Okay, bist du bereit?“ Mein Vater lockerte noch seine Finger, und ich ließ meinen Bademantel in den Sand fallen.

„Ich bin bereit. Also bis zur Boje und zurück.“

Das waren gut zweihundert Meter. Wir gingen beide in die Hocke.

„Auf die Plätze! Fertig! Los!“

Wir rannten durch das flache Wasser, das es nur so spritzte, stürzten uns gleichzeitig mit einem Kopfsprung ins Meer und kraulten los. An der Boje waren wir noch auf gleicher Höhe, aber am Ende gewann ich mit einer halben Körperlänge.

Als wir zurück am Strand waren, prustete mein Vater und schüttelte mir dann anerkennend die Hand.

„Sehr gut, mein Sohn. Ich gebe mich geschlagen.“

Ein tolles Gefühl.

Wir hatten um fünf Mark gewettet. Ich legte mir meinen Bademantel über die Schultern und mein Vater rieb sich mit dem Handtuch trocken. Dann gingen wir zurück zum Bungalow. Er drückte mir augenzwinkernd ein Fünf-Mark Stück in die Hand und öffnete sich ein Bier. Meine Mutter saß am Esstisch und las in der Sybille.

Ich schaute zur Uhr. Es war halb Zehn. In einer halben Stunde würde ich Tanja wiedersehen.

Ich war fast so aufgeregt, wie bei unserer ersten Begegnung. Wie würden ihre Freunde mich aufnehmen? Ich atmete dreimal durch und zog mich um. Die Levis, das Led Zeppelin Nicki, und eine dunkelblaue Cordjacke, auf der ich auf dem Rückseite mit weißer Textilfarbe das Zeichen der Rockband Van Halen gepinselt hatte.

Immer wieder fragte ich mich, ob ich meinen Vater an jenem Abend irgendetwas anderes gefragt hätte, hätte ich etwas geahnt.

Noch 192 Stunden.

Operativer Vorgang: Seetrift

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