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Kapitel 7

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Tanja war vollkommen anders als am Nachmittag. Ich war von ihrer Veränderung so eingeschüchtert, dass ich kaum wagte, sie anzusehen. Statt zu fragen, was passiert war, widmete ich mich ausschließlich meinen neuen Freunden.

Ich hatte angeboten, meinen Radiorecorder mit zum Strand zu bringen, was Tanja zu einer kleinen Begeisterung veranlasste. Jetzt nahm sie ihn nicht einmal wahr.

Markus hatte drei Strandkörbe entdeckt, deren Lattenroste nicht mit einem Vorhängeschloss gesichert waren. Die reichten uns. Wir Jungs zerrten gemeinsam die schweren Körbe quer über den Strand zu unserer Stelle und bald war unser Lager fertig. Die Polster des einen Strandkorbes waren grün-weiß gestreift, die der beiden anderen rot-weiß.

In dem grün-weiß gestreiften Strandkorb machten es sich Ramona und Markus bequem und in die beiden rot-weiß Gestreiften schlüpften Silvio und Markus´ Schwester, Andreas und ich. Die Strandkörbe waren in einer Art Dreieck aufgestellt und der Mitte stand mein neuer Recorder und spielte gerade Super Trouper von Abba.

Tanja saß mit angezogenen Beinen im Sand und starrte in die Nacht. Die Arme hielt sie um die Beine geschlungen und ihr Kinn berührte eines ihrer Knie.

Silvio rückte in Cowboymanier seinen rot-weiß gestreiften mit blauen Sternen bestückten Sommerhut ein Stückchen von der Stirn und hielt mir eine geöffnete Schachtel Club hin. Den Hut hatte er in Swinemünde auf dem Markt gekauft. Bei der nächsten Gelegenheit würde ich meine Eltern bitten, mit mir nach Swinemünde zu fahren, nahm ich mir vor. Ich wollte unbedingt auch so einen Hut. Silvio war der Älteste von uns, sechzehneinhalb. Er trug außer dem Hut eine blaue Trainingsjacke mit zwei weißen Streifen an beiden Ärmeln und eine Wisent-Jeans. Diese Hosen wurden in Cottbus produziert und erreichten natürlich nie und nimmer den Stil einer Levis. Trotzdem machte Silvio Eindruck auf mich. Er hatte etwas Draufgängerisches, und er rauchte wie ein Erwachsener.

Ich zögerte, denn ich rauchte eigentlich nicht. Das erste Mal, als ich das Rauchen probierte, war mir danach so hundeelend, dass ich schwor, dieses Zeugs nie wieder anzufassen.

Nun bedankte ich mich, fingerte eine Zigarette aus der Schachtel und ließ mir Feuer geben.

Silvio blies den Rauch in die Luft und sagte in Richtung Tanja:

„Was ist los mit dir, Süße? Warum kommst du nicht zu uns?“ Er lachte und rückte zur Seite, so dass Christiane kurz hoch schreckte. Silvio hatte tatsächlich „Süße“ gesagt. Mir gefror das Blut.

Hastig inhalierte ich einen tiefen Zug auf Lunge und wäre beinahe an dem darauf unterdrückten Hustenanfall erstickt. Tanja antwortete spröde:

„Ich komme gleich.“

Markus und seine Schwester Christiane trugen ebenfalls Trainingsjacken, und Markus Trainingshosen, die er bis zu den Knien hochgekrempelt hatte. Die beiden waren Zwillinge. Sie hatten die gleiche Frisur, dichtes goldbraunes welliges Haar, das sich wie kleine Sprungschanzen am Hals nach Außen drehte.

Christiane unterhielt sich mit Ramona, die als Einzige von uns eine Brille trug. Ihr Gesicht war so rund wie ein Volleyball, und ihr Lachen verschmitzt und spitzbübisch.

Andreas, der neben mir im Standkorb hockte, wurde von den anderen „Latte“ genannt.

Er überragte uns alle um anderthalb Köpfe, ich schätzte seine Körpergröße auf über eins neunzig. Groß und dünn wie eine Stabheuschrecke, die ein weißes Baumwollhemd und eine flickenlose Wrangler trug.

Silvio kam aus Halle, Andreas aus Weimar, Ramona lebte mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester in Dessau und Markus und Christiane kamen aus Berlin.

Ramona hatte eine sechs Jahre jüngere Schwester, die ebenfalls eine Brille trug. Eine Miniausgabe von Ramona, aber sie war zum Glück bei ihrer Mutter im Bungalow geblieben. Einen Vater gab es offensichtlich nicht.

„Kennt ihr euch aus Altenburg? Ich meine du und Tanja.“ Andreas rammte mir vertraulich seinen spitzen Ellenbogen in die Rippen.

Ich schüttelte den Kopf und zog ein zweites Mal an der Club. Der Rauch schmeckte nach wie vor widerlich, aber ich blieb dieses Mal von einem weiteren Hustenanfall verschont.

Unauffällig schielte ich zu Tanja, aber sie machte keinerlei Anstalten, zu uns zu kommen.

Markus berichtete von seinem Ausflug nach Swinemünde. Die Eltern der Zwillinge waren kulturinteressiert und zerrten ihre Kinder von Museum zu Museum und von Kirche zu Kirche. Den dortigen Markt mit seinen Schätzen hatten sie nur von Weitem gesehen. Nachdem er seinen Unmut darüber geäußert hatte, seine Schwester Christiane warf ihm einen missbilligenden Blick zu, entkorkte er eine Flasche Rosenthaler Kadarka und ließ sie herumgehen.

Silvio wühlte eine Kassette aus der Tasche seiner Trainingsjacke und machte einen bedeutungsvollen Blick. Alle nickten. Er sah zu mir und fragte:

„Darf ich?“

„Klar doch. Was ist das?“

„Wirst du gleich hören.“

Es war der Mitschnitt des Albums Never for ever von Kate Bush. Kurz darauf erkoren wir alle Babushka zu unserer Hymne.

Endlich kam Tanja. Sie lächelte ein kleines verlegenes Lächeln in die Runde und zwängte sich zwischen mich und Andreas. Das Ganze war schier unglaublich. Mit allem hatte ich gerechnet – damit nicht.

Eine Schar Engel stürzte vom Himmel herab und begleitete fortan jedes meiner Worte, jede meiner Gesten und sogar das Rauchen.

Ich erzählte politische Witze, erfand lustige Geschichten und schenkte jedem eine Freundlichkeit. Keine Ahnung, woher dieser plötzliche Charme kam. Möglicherweise war der Rosenthaler Kadarka Schuld, denn ich war noch ungeübt im Umgang mit Alkohol, obwohl sich einige Jungs aus meiner Klasse jedes Wochenende betranken. Jens Graichen, zum Beispiel.

Zusammen mit Andreas pries ich den Duft von Tanjas Haar. Sie verriet, dass sie ihr Haar gelegentlich mit Guhl- Pfirsisch aus dem Intershop wusch. Daraufhin beschloss ich lautstark, betrunken wie ich war, sowie ich jemals wieder Westgeld in die Hand bekommen sollte, mir dieses Shampoo zu kaufen. In Gedanken dachte ich, selbst wenn ich dafür mein Pornoheft opfern müsste. Es war wunderbar. Ich saß in der Ecke des Strandkorbes, mein Körper berührte Tanjas Körper zwangsläufig, und ich war glücklich.

Silvio schien sich überhaupt nicht daran zu stören, dass Tanja zu mir gekommen war. Er warf mir einen anerkennenden Blick zu, zwinkerte verschwörerisch und lachte über meine Witze am Lautesten. Dann erzählte er selbst welche. Die meisten davon kannte ich noch nicht, aber mein Repertoire war ohnehin beschränkt, denn ich konnte mir Witze nicht besonders gut merken. Während er sprach, fingerte er immer wieder an seinem Hut herum. Mal schob er ihn sich fast über die Augen, mal in den Nacken. Zwischendurch nippte er an der Weinflasche oder steckte sich eine Zigarette an. Silvio war ein viel besserer Erzähler als ich. Er betonte die verschiedenen Figuren unterschiedlich, legte vor den Pointen eine kurze kleine Pause ein und sprach zu uns, als stünde er auf einer Bühne. Das Beste war, wenn er Honecker nachahmte. Es war zum Brüllen.

Mit Ramona, Christiane und Markus tanzte ich zusammen zu Babushka von Kate Bush. Wir hakten uns unter wie die sowjetischen Soldaten bei Kalinka und warfen unsere Beine in der Hocke in die Luft. Natürlich fielen wir alle Vier in den Sand und lachten darüber, bis uns die Tränen kamen.

Es war albern, und es war himmlisch. Gegen Mitternacht klappten wir die Strandkörbe nach hinten, legten uns alle auf den Rücken und zählten Sternschnuppen.

Silvio lag neben mir im Strandkorb. Ich hatte diesen Draufgänger ebenso in mein Herz geschlossen, wie alle anderen. Und als Tanja mir zum Abschied einen Kuss auf die Wange drückte, kannte meine Glückseligkeit keinen Ausdruck mehr. Sie flüsterte mir ins Ohr:

„Wollen wir morgen wieder zusammen Brötchen holen?“

Hätte ich irgendwie gekonnt, ich hätte die ganze Welt umarmt. Nein, das ganze Universum.

Als ich gegen halb Zwei zurück in den lindgrünen Bungalow schlich, schliefen meine Eltern bereits. Ich schlüpfte in meine kleine Kammer, ließ großherzig sämtliche Mücken über meinem Bett am Leben und schlief kurz darauf überglücklich ein.

Operativer Vorgang: Seetrift

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