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Kapitel 5

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Wie alle FDGB-Bungalowsiedlungen an der Ostsee besaß auch diese einen kleinen Konsum. Hier konnte man morgens frische Brötchen, Bier, Limonade, Lebensmittel oder Zahncreme oder Campingkocher kaufen. Das Angebot war nicht üppig, aber es reichte.

Am nächsten Morgen wurde ich zum Brötchen holen geschickt. Meine Eltern bereiteten das Frühstück, und ich trabte los.

Mindestens drei Minuten starrte ich auf den Bungalow, in dem ich das schöne Mädchen verschwinden gesehen hatte, aber dort rührte sich noch niemand. Vielleicht war sie mit ihrer Familie schon am Strand.

Vor dem kleinen Konsum wartete eine Schlange von mindestens dreißig Menschen. Die meisten trugen Badesachen. Frauen mit geblümten Küchenschürzen und Männer mit grellbunten Hemden. Manche waren mit einer dunklen Bräune überzogen, andere noch käsig oder bereits rotgegrillt.

Ich stellte mich an. Meine Mutter hatte mir aufgetragen, zehn Brötchen zu kaufen und mir dafür eine Mark gegeben. Die fünfzig Pfennig, die übrig bleiben würden, durfte ich behalten.

Vor mir unterhielten sich zwei Frauen über die Waschmöglichkeiten im Bungalowdorf.

„Ich wasche alles mit der Hand in einer Plastikschüssel“, sagte die eine, „aber das mit dieser Wasserschlepperei ist wirklich nervend. Ehrlich!“

„Auf so einem Gedanken würde ich niemals kommen“, sagte die andere, „mein Mann und ich nehmen immer soviel Sachen mit, dass es reicht. Schließlich haben wir Urlaub! Außerdem scheuert man sich mit dem Zeug immer die Hände wund.“ Die Frau meinte Linda- Neutral, eine Waschpaste in einer schwarzen verschraubbaren Plastikdose. Meine Mutter benutzte die Waschpaste ebenfalls, um damit bisweilen meine Levis zu schrubben.

Ein zarter Hauch eines wunderbaren Duftes streifte meine Nase. Abrupt drehte ich mich nach der Quelle um und wäre um ein Haar mit Tanjas Kopf zusammen gestoßen. Sie stand direkt hinter mir.

Warteschlangen waren quasi das Aushängeschild der DDR. Es gab etliche Witze darüber und in der Distel wurden sie quasi bei jeder Vorstellung thematisiert.

Diese Warteschlange vor dem Konsum in Ückeritz war die schönste Warteschlange auf der ganzen Welt. Und ich hätte bis zum nächsten oder übernächsten Tag darin stehen wollen, hätte ich irgendeinen Einfluss darauf gehabt.

Nach fünf aufregenden Minuten hörte ich das erste Mal ihre Stimme. Sie nieste und gab einen kleinen Ton von sich. Das war mein Auftritt. Und vielleicht meine einzige Chance. Vor Kühnheit fast betäubt, flüsterte ich.

„Gesundheit.“

Das Mädchen nieste ein zweites Mal. Wieder flatterte ein Ton ihrer Stimme in mein Ohr.

„Danke.“ Leider hatte ich nur ein benutztes Stofftaschentuch in meiner Hosentasche und kein frisches aus Papier. Sonst wären wir vielleicht sofort ins Gespräch gekommen. Und zu meinem Entsetzen tönte es gleich mehrfach aus der Schlange:

„Gesundheit!“, „Gesundheit!“, „G´sundheit...“

Tanja lächelte verlegen und nickte in alle Richtungen. Vielleicht verdankte ich es diesem Umstand, dass sie ein bisschen näher an mich heranrückte. Während sie sich für die Aufmerksamkeit bedankte, kitzelte mir ihr schulterlanges, lockiges Haar am Hals. Ihr Haar war dunkelbraun, fast schwarz. In der Mitte war es gescheitelt, eine gelbe Haarspange bändigte die Locken auf der rechten Seite und es roch frisch gewaschen. Ein Geruch, den ich aus dem „Intershop“ kannte, aber dort war ich nicht oft. Bestimmt hatte sie reiche Westverwandte und wusch ihr Haar nur mit Schauma. Schauma kannte ich aus der Werbung im ZDF mit den Mainzelmännchen, die ich liebte. Ich hatte keine Ahnung wie dieses Shampoo roch. Der Duft besaß eine Pfirsichnote und war äußerst betörend. Ich musste an etwas Schlimmes denken, damit ich keine Erektion bekam. Also dachte ich an Jens Graichen, mit dem ich mich vor Kurzem geprügelt hatte. Jens hatte Annette Beier – eine Mitschülerin von uns beiden – geohrfeigt. Er war eifersüchtig, weil ich mich mit Annette nach einer Alberei in der Hofpause geküsst hatte. Ich fühlte mich verantwortlich für sie und sprang ihr zur Seite. Nach der Prügelei war mein linkes Auge blau, meine Nase blutig und beide Lippen gesprungen. Jens hatte nicht einmal einen Kratzer davon getragen. Ich war, im Gegensatz zu ihm, im Schlagen ungeübt und hatte ihn nicht ein einziges Mal getroffen. Annette hatte mir geholfen, das Blut aus dem Gesicht zu waschen und geschworen, niemals wieder ein Wort mit Jens zu reden. Ein paar Tage später sah ich sie beide zusammen unter der Trauerweide neben unserer Schule herumfummeln. Zu Recht hasste ich Jens Graichen aus tiefstem Herzen.

„Sag mal, du bist doch gestern mit deinen Eltern hier angekommen und wohnst dort drüben?“ Sie wies in die Richtung des kleinen Bungalowdorfes. Die Gedanken an Jens Graichen donnerten über die Ostsee und erfroren irgendwo am Nordpol. Sollten sie!

Das schöne Mädchen mit dem betörenden Duft hatte mich also wahrgenommen. Der Takt meines Herzens nahm an einer Olympiade teil und gewann.

„Ja“, antwortete ich und gab mir große Mühe, meine Stimme ruhig klingen zu lassen. Am Besten wäre cool, „Gestern Nachmittag. Ich bin übrigens Philipp.“ In dieser Sekunde war ich unglaublich stolz auf mich. Besser hätte es nicht laufen können. Das Mädchen reichte mir eine braungebrannte Hand.

„Ich heiße Tanja.“ Erneut war sie gezwungen, zu niesen.

„Oje, bist du erkältet?“

„Nein“, antwortete Tanja. Das habe ich immer im Sommer. Wahrscheinlich irgendeine Allergie. Woher kommst du?“

„Aus Altenburg. Und du?“

„Das ist ja ein Ding. Ich auch!“

Was für eine Fügung! Schon sah ich uns durch Altenburg Arm in Arm schlendern und uns auf einer Bank am Großen Teich küssen.

Sie schüttelte so ungläubig den Kopf, als wären wir uns irgendwo in Sibirien über den Weg gelaufen, oder in Australien.

„Das ist ja wirklich ein Ding. Ich habe hier schon Leute in unserem Alter aus Halle, Dessau, Weimar und Berlin kennen gelernt. Aber noch niemanden aus Altenburg.“

Bis ich der übelgelaunten Verkäuferin meine Brötchenbestellung mitteilen konnte, verbrachten wir die Zeit mit Plaudern. Wir redeten über Altenburg, was an der Stadt schön war, verglichen Namenslisten, ob jemand Bekanntes darunter war und schließlich lud sie mich am Nachmittag zum Volleyball spielen am Strand ein. Die Unverschämtheit der Verkäuferin konnte ich leicht ignorieren und wartete fröhlich pfeifend, bis Tanja ihr kleines Einkaufsnetz mit Brötchen gefüllt hatte.

Den Weg zu den Bungalows gingen wir zusammen. Fortan sollten wir jeden Morgen diesen Weg gemeinsam gehen. Bis... Ja, bis es passierte.

Meine Mutter hob skeptisch die Augenbrauen, als ich euphorisch die Tür unseres Bungalows aufschlug und jubelnd: „Guten Morgen!“, verkündete.

Sie sah zuerst mich an, dann zu meinem Vater und der zu mir.

„Haben wir uns nicht schon einen guten Morgen gewünscht? Oder bringe ich da etwas durcheinander.“ Sein breites Grinsen war ekelhaft.

Pah! Am Nachmittag, genau genommen um 14.00 Uhr, würde ich mit Tanja Volleyball spielen. Und ganz sicher würde ich es so hinkriegen, dass wir zusammen in eine Mannschaft kämen. Vielleicht alle Altenburger gegen den Rest? Nein, das war Quatsch. Aber irgendwie würde ich es drehen. Soviel stand fest.

„Na und! Ich habe eben gute Laune. Freut euch doch!“

Meine Eltern freuten sich und beschlossen nach dem Frühstück in der Ostsee anzubaden. Ich widmete mich unterdessen meinen Vorbereitungen.

Erst machte ich fünfzig Liegestütze, das hatte ich lange nicht mehr getan. Bei dreiundvierzig drohten mir die Arme einzuknicken, aber ich schaffte es. Danach beugte ich hundert Mal die Knie, um meine Beinmuskulatur zu trainieren. Das war zum Glück weniger mühsam. Als ich damit fertig war, wählte ich die Badehose aus. Ich besaß zwei. Die eine war aus dem Kinderkaufhaus und sah dämlich aus. Die andere hatte meine Großmutter aus grün-schwarzem Stoff genäht und wirkte viel männlicher. Die Frage der Auswahl stellte sich also nicht. Um nicht gleich am ersten Tag zu verbrennen, zog ich mein „Led Zeppelin“ Nicki über den Oberkörper. Fertig! Ich schaute auf die Uhr. Es war 11.30 Uhr. Noch zweieinhalb Stunden. Ich ging zu meinem Koffer, zog Herrmann Hesses: Steppenwolf heraus und setzte mich vor dem Bungalow auf die Treppe und las. Nach wenigen Minuten wurde ich zu Harry Haller und genoss es.

Pünktlich um 14.00 Uhr trottete ich zum Strand und tat möglichst gelangweilt. Ich stellte mich auf einen der kleinen Sandhügel und hielt Ausschau nach Tanja. Einen Blick zum FKK-Strand vermied ich.

Meine Eltern lagen nebeneinander in einem der blau-weiß gestreiften Strandkörbe und schliefen. Umso besser.

Der Volleyballplatz war noch leer. Die Ostsee schlug Wellen. Der Wind kam vom Meer, war aber nicht kalt. Bevor ich zum Strand gegangen war, hatte ich mich mit Sonnencreme eingeschmiert und roch jetzt am ganzen Körper nach Sommer. Tanja war nirgends zu sehen.

Unschlüssig, was ich jetzt machen sollte, schlenderte ich zum Ufer der Ostsee und suchte den Strand nach flachen Steinen ab. Immer wieder sah ich mich verstohlen um, aber Tanja konnte ich nirgends erblicken.

Lustlos warf ich einen Stein nach dem anderen ins Meer und bemühte mich, meine Technik zu verbessern, um die Steine zum Springen zu bringen. Wegen der Wellen war das schwierig. Ich überlegte kurz, ob ich nicht besser meinen Plan mit den Nacktvolleyballerinnen ausführen sollte, verwarf dies aber sofort, denn dann würde ich Tanja womöglich verpassen.

Das Höchste, was ich schaffte, war, dass ein Stein dreimal über die Wasseroberfläche sprang.

Die Steine hopsen zu lassen, wurde langweilig, als begab ich mich halbherzig auf Muschelsuche. Wegen des auflandigen Windes war das Ufer mit Muschelschalen übersät. Wenn man hin und herlief, knirschte es unter den Füßen. Ich wühlte ein paar Minuten in den Muschelkadavern, fand aber kein Exemplar, das es lohnte, aufzubewahren. Dann überlegte ich, baden zu gehen, aber da hätte ich mich danach erneut eincremen müssen. Auch dazu hatte ich keine Lust.

Von irgendwoher kam Pfirsichduft und ein paar Sekunden später stand sie neben mir.

„Hallo, Philipp. Du wartest, oder?“

„Nein, ich suche Muscheln. Guck mal, die hier.“ Ich griff rasch wahllos in den Haufen Muschelkalk und schaffte es tatsächlich, eine besonders Schöne heraus zu puzzeln. Die legte ich Tanja in die Hand. Eine gewöhnliche Herzmuschel, die am oberen Rand eine rötliche Färbung trug.

„Für mich?“

Einen Moment lang war ich überfordert.

„Ja.“

„Danke!“ Tanja drehte die Muschel hin und her und hielt sie dann gegen die Sonne. Ich verfolgte ihre Musterung und war sprachlos. Diese Muschel war zwar schön, aber davon lagen hier bestimmt Hunderte im Sand.

„Christiane und Johannes sind mit ihren Eltern nach Polen gefahren und Silvio hat einen üblen Sonnenbrand. Das wird wohl heute nichts mit dem Volleyball. Hast du vielleicht Lust auf einen Strandspaziergang?“

Was für eine Frage! Ich schielte rasch zum Strandkorb meiner Eltern und registrierte, dass sie immer noch schliefen.

„Natürlich.“

„Wollen wir hier lang gehen oder in die andere Richtung?“ Sie zeigte in beide möglichen Richtungen. Rechts von uns spielten irgendwo die Nackten Volleyball. Dorthin wollte ich auf keinen Fall. Tanja hatte natürlich keine Ahnung von meiner merkwürdigen Vorstellung des Paradieses und nun musste ich zu meinem Entsetzen feststellen, dass wir uns quasi auf einer Insel befanden. Auf einer Textilinsel. Links und rechts umgeben von FKK-Stränden.

„Ist egal.“ Das war es wirklich. Ich hatte keine Ahnung, wie ich diesen Spaziergang überstehen sollte. Und dabei gab es nichts Schöneres. Nichts!

Wir schlenderten los. Tanja trug einen weißen Bikini, ich meine grün-schwarze Badehose, genäht an drei Winterabenden von meiner Großmutter, und das Led Zeppelin Nicki.

Tanjas Brüste waren schon gut entwickelt. Ich schätzte ihr Alter auf Sechzehn.

„Wie alt bist du?“, fragte ich und Tanja sah mich an.

„Schätz mal.“

„Sechzehn.“

„Nein, ich bin Fünfzehn. Vor zwei Monaten geworden.“

„He, da sind wir ja fast gleichaltrig. Ich werde in einem Monat Fünfzehn.“

Bis jetzt lief alles wunderbar.

Nach ungefähr 300 Metern baute sich vor uns ein in den Sand gerammtes Holzschild auf: FKK-Strand. Irgendjemand hatte eine kindliche Fratze darauf gemalt.

Tanja zog plötzlich ihren Bikini aus, als wäre das Schild eine Aufforderung. Ein Muss!

Sie war Fünfzehn. Gerade mal ein paar Monate älter als ich. Und nun hatte ich das Gefühl zu einem Kleinkind zu schrumpfen, und sie wuchs zu einer Riesin. Einer Riesin, die hundert Mal mehr Erfahrungen besaß als ich.

„Das stört dich doch hoffentlich nicht“, leitete Tanja mein Martyrium ein. „Ich mag es, nackt am Strand herum zu laufen. Der Wind kitzelt so schön an den Brüsten.“

Meine Kehle war ohnehin schon trocken. Jetzt fürchtete ich, dass nur noch Staub aus meinem Mund herausrieseln würde, wenn ich anfinge, zu sprechen. Sprechen? Keine Ahnung, wie sich da jetzt ein Ton formen sollte.

Nicht für eine Million hätte ich meine Badehose ausgezogen. Nicht mal unter Folter. Ich wagte nicht einmal, mein Led Zeppelin Nicki mir leger über die Schulter zu legen. Es war lächerlich.

Nichts, aber auch gar nichts, hätte verhindert, dass ich mich für alle Ewigkeiten blamiert hätte, hätte ich auch nur an meiner Badehose gezupft. Ich war mir absolut sicher, dass ich auf der Stelle eine Erektion bekommen hätte und alle Nudisten auf der ganzen Welt hätten sich vor mich hingestellt und solange gelacht, bis ich tot umgefallen wäre. Und allen voran Tanja. Da halfen nicht einmal hundert schlimme Gedanken an hunderte Jens Graichen. Schon jetzt versuchte ich krampfhaft an ihn zu denken und an die furchtbare Demütigung, als sein erster Schlag mein Auge traf, und ich beinahe zu Boden gegangen war.

Erst zählte ich die Rillen auf meinem Zeigefinger, dann starrte ich auf meine Füße, aber Tanja kannte keine Gnade. Sie baute sich direkt vor mir auf und drehte sich einmal, zweimal im Kreis.

„Findest du mich schön?“

Sie war Fünfzehn, verdammt noch mal. Fünfzehn! Und sie gebärdete sich wie ein Model.

Ich kaute an meiner Zunge herum und bemerkte, dass der Nagl meiner rechten Zehe an einer Ecke abgesplittert war. Gleichzeitig entschied ich, dass ich mir dringend meine Zehnägel schneiden sollte.

Himmelnochmal, ich musste sie ansehen. Niemals wieder würde sie mit mir reden, wenn ich sie jetzt nicht ansah. Niemals wieder würde sie mit mir am Strand spazieren. Schon gar nicht nackt. Ich musste hochsehen. Ansonsten wäre mein ganzes Leben verdorben. Ich musste cool sein.

Ihr gesamter Körper war kakaobraun. Es gab keine helle Stelle. Auch von ihrer Haut ging ein betörender Duft aus. Ihre Brüste waren die schönsten Brüste, die ich je gesehen hatte. Und das waren wegen meiner Fotosammlung nicht wenige. Die kleinen Löckchen zwischen ihren Schenkeln hatten eine ähnliche Farbe wie ihr duftendes Haar.

Einen Moment überlegte ich, ob sie sich das Schamhaar mit dem gleichen Shampoo wusch, wie das andere. Aber dieser Gedanke musste schleunigst zum Nordpol.

Was würde sie tun, wenn mir jetzt nur Staub aus der Kehle rieselte? Ich wollte etwas sagen, aber die Worte nahmen keine klangliche Gestalt an.

„Du...“, stammelte ich schließlich. „Du bist ... wunderschön! Ehrlich.“

Ich spürte, wie mir die Augen flackerten. Sofort musterte ich wieder meine Zehen. Heute Abend, beschloss ich, würde ich mir die Zehnägel schneiden. Nein, gleich nachher. Das heißt, wenn ich überlebte.

Tanja wurde von Heiterkeitsglucksen geschüttelt. Ich glaube, sie wäre mir aus purem Vergnügen sogar um den Hals gefallen, hätte ich nicht so stocksteif dagestanden und mich vor allem mit Jens Graichen beschäftigt und meinen Zehnägeln. Dieser Rattenbesamer hatte das gar nicht verdient. Auch so ein Wort, das ich in einem Roman gelesen hatte. Rattenbesamer!

Mein Wortschatz war restlos aufgebraucht. Ich konnte nur noch dämlich mit dem Kopf wackeln.

Vielleicht merkte Tanja, dass sie mich überforderte. Oder sie hatte einfach Erbarmen mit mir.

Sie lächelte, hielt noch einmal die Muschel gegen die Sonne und hüpfte um mich herum oder hielt kurz an und blickte zum Horizont. So, als würde sie nie etwas anderes tun, als den ganzen Tag nackt herum zu laufen.

Zu meiner großen Erleichterung fiel sie nicht in ein schmollendes Schweigen, sondern plapperte munter drauflos.

„Ich bin mit meiner Mutter und meinem Stiefvater hier. Meine Eltern haben sich scheiden lassen, da war ich Drei oder Vier.“ Ich nickte.

„Aber er ist eigentlich ganz in Ordnung. Nur manchmal ist er ein bisschen komisch. Dann denke ich immer, er ist eifersüchtig. Besonders wenn ich mich mit Jungs treffe.“ Ich nickte.

„Hast du eine Freundin?“ Ich schüttelte den Kopf.

„Ich hatte vor ungefähr einem Jahr einen Freund. Aber der war irgendwie noch so ein richtiges Kind. Verstehst du, was ich meine?“ Ich nickte.

Wir schwiegen eine Weile. Meine Kehle war noch immer so trocken wie die Wüste Gobi. Ich schöpfte mit den Händen Ostseewasser und wusch mir damit das Gesicht, benetzte die Lippen und versuchte unauffällig und vorsichtig meine Wüste Gobi in meiner Kehle zu bewässern. Das Wasser zu schlucken wäre fatal. Möglicherweise hätte ich dann auch noch auf den FKK Strand gekotzt.

Alles ging gut, und ich entspannte endlich ein wenig.

Schließlich wagte ich sogar, Tanja zu betrachten, während sie weiter erzählte. Und endlich wusste ich, dass ich diese Frau heiraten würde. Sie, und keine andere!

Dazu würde es natürlich nicht kommen.

Wir liefen über zwei Stunden am Strand. Und diese zwei Stunden sollte ich niemals vergessen.

Nach den zwei Stunden waren wir Freunde, kurze Zeit später ein Liebespaar. Eine kleine Weile später ein heimliches Liebespaar. Wir waren Vertraute, Verbündete und Leidensgenossen. Und irgendwann Opfer. Aber vielleicht waren wir das auch schon von Anfang an unserer Begegnung.

Wir kamen zurück zu unserer Textilinsel, und Tanja schlüpfte so selbstverständlich in ihren Bikini, wie sie ihn zwei Stunden vorher ausgezogen hatte.

Tanja verabschiedete sich von mir und fragte mich, ob ich vielleicht am Abend zum Strand käme. Sie wollte mich ihren Freunden vorstellen, weil das Volleyball-Spielen ausgefallen war. Ich sagte zu und rannte zum Strandkorb meiner Eltern. Mein Vater war schwimmen und meine Mutter blätterte in der Sybille.

„Hast du Hunger, Philipp?“

„Oh ja, riesigen!“ Meine Mutter schob sich ihre Sonnenbrille auf die Stirn, nahm sie dann ab und kaute an einem der Bügel.

„Hübsches Mädchen, das du da kennen gelernt hast. Gratuliere! Verrätst du mir ihren Namen?“

Endlich konnte ich erröten, und es war nicht einmal schlimm.

„Tanja.“

„Hm, Tanja“, sagte sie nur und nestelte die Sonnenbrille zurück vor die Augen. „Ein schöner Name.“

In diesem Moment liebte ich meine Mutter fast so, wie ich Tanja lieben sollte.

An der Strandbar aßen wir dann alle drei, mein Vater, meine Mutter und ich, jeder einen halben Broiler mit Brötchen, und ich hatte das erste Mal das Gefühl, mich bei ihnen für alles bedanken zu müssen. Für alles, was sie mir bislang geschenkt hatten, einschließlich dieses Tages.

Ich tat es nicht. Und später ergab sich keine Gelegenheit mehr.

Operativer Vorgang: Seetrift

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