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Kapitel 9
ОглавлениеNach einigen hundert Metern erreichten wir ein großes Tor, das sich von selbst öffnete und sich hinter dem Wagen gleich wieder schloss. Und plötzlich sahen wir das Meer vor uns. Was für ein Anblick! Blauer Himmel, türkisblaues Wasser, weißer Strand, besprenkelt mit bunten, vereinzelten Sonnenschutz-Segeln. Daneben ein irisch-grüner Rasen mit exotischen Gewächsen umrandet, und dahinter ein riesiges, weißes Haus, das ein bisschen so aussah wie Hemingways Villa in Key West, nur sehr viel größer. Oh Mann, hier ließ es sich aushalten! Komischerweise machte dies alles keinen Eindruck auf unsere Mitreisende, sie sprangen aus dem Jeep, kaum dass er zum Stehen kam, und liefen ins Haus. Ja gut, für den Preis konnte man schon erwarten, dass einem das Gepäck ins Haus getragen wurde, aber ich sah die Gelegenheit, als Deutscher einen guten Eindruck machen zu können, indem ich in aller Bescheidenheit meinen Koffer selbst in die Hand nahm. Doch leider kriegte ich die Ladeklappe nicht auf, und da Rana auch schon auf dem Weg ins Innere des Hauses war, folgte ich ihr schließlich. Der Fahrer grinste mich freundlich an. Ich ging mal davon aus, dass das keine spöttische, sondern eine anerkennende Botschaft sein sollte. Schon kam uns ein Angestellter des Hotels entgegen und sprach uns auf Deutsch an. Das war wahrscheinlich der Mann, mit dem ich am Telefon gesprochen hatte. Ich war etwas erstaunt, dass er schwarz war, denn normalerweise erwartet man ja nicht, dass die Menschen in anderen Ländern deutsch sprechen, besonders wenn sie durch ihre Hautfarbe schon von weitem als Menschen aus anderen Ländern erkennbar sind, aber dann wurde mir klar, dass das jetzt ein doofes Vorurteil war, denn warum sollten weißhäutige Menschen aus anderen Ländern da einen Vorsprung haben? Also bemühte ich mich, so zu tun, als sei es das normalste von der Welt, dass wir hier auf Copa Caba auf Deutsch empfangen wurden und bestätigte brav, dass wir eine gute Reise gehabt hatten. Dankenswerterweise führte uns der deutsch-sprechende Einheimische, oder vielleicht war er gar kein Einheimischer, vielleicht war er ja Deutscher, das könnte ja auch sein, oder? nicht zur Hotelrezeption, wo wir hätten stehen müssen, sondern zu einer Sitzgruppe, die aus riesigen, sehr bequem aussehenden Korbstühlen mit weißen Kissen bestand.
„Willkommen. Ich heiße Henry und werde Ihr Ansprechpartner sein. Darf ich davon ausgehen, dass sie auch Englisch sprechen?“
Rana und ich nickten beide.
„Gut, dann werden Sie hier sehr gut zurecht kommen. Aber natürlich haben wir auch einen deutsch-sprachigen Arzt, Dr. Rosenblatt. Er ist Amerikaner, spricht aber fließend Deutsch. Er hätte jetzt gleich Zeit für Sie. Aber vielleicht wollen Sie sich erst einmal frisch machen? Heute gibt es Essen um 19:00 Uhr, Sie haben also noch etwas Zeit. Darf ich Herrn Rosenblatt melden, dass Sie gegen 18:00 (hier schaute er Rana an), und 18:30 (er sah mich an) bei ihm vorbeischauen werden? Sein Sprechzimmer liegt hier am Ende des Ganges (er zeigte nach links, wo hinter der Rezeption ein Gang abging) im Zimmer 110.“
Rena und ich nickten wieder.
„Schön. Kommen Sie doch vorher noch zu mir und hinterlegen Ihre Kreditkarte, damit wir gleich die ersten Wochen abbuchen können. Wenn Sie keine Fragen mehr haben, dann bringe ich Sie jetzt auf Ihre Zimmer?“
Rana und ich nickten wieder. Ich fühlte eine gewisse Genugtuung, dass Rana ähnlich eingeschüchtert wirkte wie ich. So weltgewandt war sie nun auch wieder nicht.
Henry stand auf und ging voran, am Esszimmer vorbei und durch eine Glastür, die in einen Anbau führte.
„Hier sind die Gästezimmer, alle zur Meerseite hin.“
Er öffnete eines der Zimmer und ließ mich eintreten. Ich war überwältigt. Ein Zimmer groß genug für eine 8-köpfige Familie, mittendrin ein riesiges Bett, der große Ventilator an der Decke darüber kühlte lautlos, dezente Deko, Bambusmöbel, und ein luftiger weißer Vorhang, der halb aufgezogen war, so dass man direkt auf die Terrasse und von dort aus auf das blaue Meer schauen konnte. Irgendwie hatte es mein Koffer vor mir hierher geschafft, was ich überhaupt nicht verstand, denn ich hatte niemanden nach uns ins Haus kommen sehen.
Henry lächelte mich an, übergab mir die Zimmerkarte, und ging mit Rana weiter. Vorher wandte er sich noch einmal um: „Vergessen Sie nicht Ihren Termin um 18:30 Uhr!“
Irgendwie klang das bedrohlich. War es Henrys Intention gewesen, mir Angst zu machen? Musste ich gleich zu Beginn entscheiden, wann und wie ich sterben wollte? Musste ich was unterschreiben? Was war Herr Rosenblatt überhaupt für ein Arzt? Gab es einen Facharzt für Sterbehilfe?
Plötzlich war mir kalt (wenn ich übermüdet bin, ist mir immer kalt, und ich war müde, weil es ein ziemlich langer Tag gewesen war, noch dazu, weil ich in der Nacht davor auch nicht so gut geschlafen hatte), und ich beschloss, eine warme Dusche zu nehmen. Das Bad war ungefähr so groß wie mein Schlafzimmer zu Hause. In die Badewanne hätten auch drei Leute gepasst. Ich nahm an, dass die vielen Knöpfe an der Wand Söge und Wellen verursachen würden, die bestimmt Spaß machten. Aber im Moment wollte ich ja mich nur kurz abbrausen, also stieg ich in die Duschkabine und ließ das warme Wasser wie Regen auf mich niederprasseln. Danach zog ich mir frische Sachen an, nahm eine eiskalte Cola aus dem Kühlschrank und setzte mich auf die Veranda. Ich konnte mich nicht entscheiden, wie ich mich fühlen sollte. War das hier eine gute Erfahrung? Oder ein Alptraum? Rana fiel mir ein. Ich wünsche, ich hätte aufgepasst, wo ihr Zimmer lag, dann hätte ich jetzt bei ihr klopfen können. Aber ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass sie schon bei ihrem Termin sein musste. Ach ja, ich sollte auch noch zahlen. Aber meine Kreditkarte würde ich nicht verwenden, dann würde Herr Moosbacher gleich wissen, wo ich abgeblieben war. Ich hatte ja genug Bargeld dabei und zählte 16.000 Euro ab, das müsste so ungefähr 20.000 Dollar entsprechen und fürs Erste genügen. Den Rest des Geldes steckte ich in eine Socke in meine Turnschuhe. Vielleicht gäbe es ja auch einen Safe hier, aber irgendwie traute ich dem Hotel nicht so richtig.
Um 10 vor 7 machte ich mich auf den Weg und fand Henry an der Rezeption. Er lächelte mich an.
„Ich hoffe, Sie finden alles zu Ihrer Zufriedenheit?“
Ich nickte. „Ich habe hier das Geld für die erste Woche. Ich hoffe, Sie akzeptieren auch Euro?“
„Aber natürlich. Ich stelle Ihnen eine Quittung aus. Einen Moment. Henry setzte sich an einen Computer und tippte ein wenig.
„Könnten Sie mir auch Ihre Versichertenkarte geben?“
„Wieso? Ich bin privatversichert. Außerdem bezweifle ich, dass die hier was dazu tun würden. Die sind doch eher an heilenden Maßnahmen interessiert. Obwohl Sie den Krankenkassen am Ende bestimmt eine ganze Stange Geld sparen.“ Ich grinste, aber entweder fand Henry das nicht witzig, oder er verstand doch nicht so gut Deutsch wie ich dachte.
„Oh doch, ich denke schon, dass Ihre Versicherung das eine oder andere erstatten würde. Aber wenn sie privatversichert sind, können Sie das ja auch später selbst einreichen.“
Ich überlegte gerade, wann Henry glaubte, dass ich mich um eine Kostenerstattung kümmern würde, wenn ich erst einmal tot wäre, und warum ein Selbstmörder überhaupt Interesse daran haben sollte, Kosten erstattet zu bekommen, als ich aus den Augenwinkeln sah, wie Rana auf mich zukam. Ich steckte die Quittung ein, die Henry mir reichte und drehte mich zu ihr um.
„Und wie war’s? Muss ich Angst haben?“
„Angst, wieso? Vor Herrn Rosenblatt? Nein, er ist sehr nett. Wollen wir zusammen essen? Ich warte auf dich, okay?“
„Oh ja, toll. Dann bring ich das mal schnell hinter mich und suche mir das passende Programm für den Aufenthalt hier aus.“
Rana lächelte, wenigstens sie hatte Sinn für Humor.
Zimmer 110. Ich klopfte.
Die Tür ging auf und Dr. Rosenblatt stand vor mir. Er hatte keinen weißen Kittel an, und das Sprechzimmer sah eigentlich auch nicht aus wie eine Arztpraxis, sondern eher wie ein Büro.
„Setzen Sie sich doch, Herr Mattheus. Willkommen in unserer Klinik. Ich bin sehr neugierig, was Sie zu uns führt. Normalerweise habe ich doch ein bisschen mehr Kontakt mit unseren Gästen, ehe sie zu uns kommen. Ich sehe hier in den Unterlagen, dass Sie sich sehr plötzlich für uns entschieden haben, wie übrigens die Dame, die mit Ihnen ankam, auch. Kannten Sie sich eigentlich schon vorher?“
„Nein, gar nicht. Wir haben uns erst auf dem Flug kennengelernt. Aber es stimmt schon, der Entschluss hierher zu kommen, war sehr spontan. Ist das ein Problem?“
„Nein, nein. Hauptsache, Sie haben eine Entscheidung getroffen und stehen dazu. Das ist doch das Wichtigste.“
Herr Rosenblatt sagte das sehr herzlich, aber so sehr hätte er sich nun auch nicht darüber freuen brauchen, dass ich mit dem Leben abgeschlossen hatte.
„Ja, aber, so 100%ig sicher bin ich noch gar nicht. Ich glaube, ich will erst mal Zeit zum Nachdenken. Mir wurde versichert, dass ich mich auch noch umentscheiden kann. Das stimmt doch, oder?“
Dr. Rosenblatt schob seine Unterlippe vor und sah mich nachdenklich an. „Nun, wenn Sie gar nicht sicher sind, dass Sie den richtigen Schritt getan haben, macht es uns das natürlich nicht leichter. Aber letztlich können Sie tun, was Sie wollen. Sie können auch jederzeit wieder abreisen. Können Sie mir denn sagen, was das Problem ist? Ich würde gerne einen Behandlungsplan aufstellen, den wir dann in einem zweiten Gespräch morgen gemeinsam durchgehen sollten.“
Ja Gott, Problem. Wenn das so einfach wäre. Aber Herr Rosenblatt schien auf eine ehrliche Antwort zu warten. Überhaupt machte er einen sehr aufrichtigen Eindruck und ich spürte eine große Lust, mich in seinem bequemen Sessel nach hinten zu lehnen und ihm mein Herz auszuschütten. Ob das das Gefühl war, wenn man in Therapie war?
„Ach, das kann ich jetzt so auf die Schnelle gar nicht sagen. Ich fühle mich einfach hohl, leer, freue mich an nichts mehr. Und da gibt es eine Frau, Moni, mit der ich schon seit Jahren befreundet bin, und sie hat gar kein Interesse an mir, aber irgendwie komme ich nicht von ihr los.“
„Verstehe.“ Herr Rosenblatt nickte. „Sie kommen nicht so recht von der Stelle, weil Sie alten Träumen hinterherhängen. Während das Leben weitergeht, fragen Sie sich, wo Ihr Platz bei alledem ist. Vielleicht sollten wir versuchen, Sie von Moni zu befreien?“
Das gab’s doch wohl nicht. Da reiste ich um die halbe Welt mit meinem Unglück, ging allen auf die Nerven mit meiner Melancholie, und dann traf ich da einen Arzt, der es fertigbrachte, in fünf Minuten mein Problem zu isolieren und mir zu erklären, was ich zur Heilung brauchte. Ich musste mich nur von Moni befreien. Ich starrte Herrn Rosenblatt voller Bewunderung an. Hieß das, es gab auch andere Wege, mir zu helfen? Ich müsste mich gar nicht beiseite schaffen? Aber dann würde ich ja doch irgendwann wieder nach Hause fahren müssen. Und das wollte ich eigentlich nicht.
„Aber so einfach ist das ja nicht.“
„Nein, natürlich nicht. Deswegen sind Sie ja hier. Wir werden Ihnen schon helfen. Erst einmal nehmen Sie sich Zeit, lassen sich einfach fallen, und morgen treffen wir uns wieder und bereden, wie es weitergeht. Sagen wir morgen um 11 Uhr. Einverstanden?“
„Oh ja, das hört sich gut an. So machen wir‘s.“
Beschwingt stand ich auf und gab meinem Arzt zum Abschied die Hand.
Rana hatte in der Lobby auf mich gewartet und anscheinend ein angeregtes Gespräch mit Henry geführt. Wahrscheinlich hatte sie auch ihre Rechnung beglichen. Allerdings war es nicht Henry, der sich gerade bedankte, sondern Rana hielt seine Hand fest und sagte mehrmals hintereinander: „Vielen Dank.“
Gemeinsam begaben wir uns in den Speiseraum.