Читать книгу Lennox und der Lichtkult: Das Zeitalter des Kometen #4 - Jo Zybell - Страница 6

1

Оглавление

Köln, 23. April, 2009

Dass er betete, sah jeder, der in diesen Tagen den Dom besichtigte. Die kahle Stirn auf die gefalteten Hände gepresst kniete er im Chorgestühl. Dass er fastete, merkte ihm keiner an. Seit dreizehn Tagen lebte Kardinal Jakobo ausschließlich von Wasser und Vitaminpräparaten.

Es war der Schrein, der ihn hierher in den Dom lockte. Er wusste es. Aber er konnte nicht sagen, warum der Schrein ihn, seit er fastete, mit geradezu magischer Kraft anzog. Und dann, am dreizehnten Tag, wie aus dem Nichts die Stimme: „… forme Menschen nach meinem Bilde, ein Geschlecht, das mir gleich sei!“

Der Kardinal fuhr hoch. Die Stimme hallte durch das Kirchenschiff. Eine glühende Hand schien sich um sein Herz zu schließen. Klar und groß stand die Idee in seinem Hirn. Eine gewaltige Idee. Jakobo starrte den Schrein an. Der Atem stockte ihm. Heiß zuckte der Schreck durch seine Brust: Drei Männer schwebten über dem Glaskasten mit dem kostbaren, mittelalterlichen Kunstwerk.

Die Stimme aus dem Kirchenschiff brach ab. Jemand räusperte sich. Dann wieder: „Hier sitze ich, forme Menschen …“

Kardinal Jakobo stand auf, schob sich aus dem Chorgestühl und näherte sich dem Schrein. Seine Glieder waren müde und bleiern, sein Kopf von einer seltenen Klarheit. Sein Mund stand offen. Auf seinem bleichen, faltigen Gesicht lag der Ausdruck fassungslosen Staunens. Keine Idee war es, nein – eine Vision, es war eine Vision!

Deutlich sah er die drei Männer über dem Schrein schweben. Männer in goldbestickten Prachtgewändern und mit Kronen auf den Häuptern. Kaspar, Balthasar und Melchior – die Heiligen Drei Könige. Die Gestalten bewegten sich, schienen ihn anzuschauen, ihn anzulächeln. Nur wenige Sekunden währte die Erscheinung. Dann glühte sie auf, wurde durchsichtig, und verschwand. Die Vision erlosch.

„… nach meinem Bilde, ein Geschlecht, das mir gleich sei, zu leiden, zu weinen …“ Der Kardinal drehte sich um. Der Mann, dessen Stimme kraftvoll und tief durch das altehrwürdige Gemäuer hallte, stand mitten im Kirchenschiff zwischen Renaissancekanzel und Bischofsthron. „…zu genießen und zu freuen sich …“

Als befände er sich auf einer Bühne schleuderte er seine Worte in das Kirchenschiff. Touristen wandten die Köpfe und blieben stehen. „… und dein nicht zu achten, wie ich!“

Einige Männer und Frauen klatschten verhalten. Andere fielen ein. Hätte Jakobo seine Kardinalssoutane getragen, und nicht die Kutte des einfachen Dominikaners – sie hätten es nicht gewagt …

Ein Schauspieler, dachte Jakobo, er macht Sprechübungen. Zorn stieg in ihm hoch. Missbraucht diesen Heiligen Ort für Sprechübungen! Noch dazu Sprechübungen mit diesem gotteslästerlichen Gedicht! Und diese Ungläubigen applaudieren! O HERR sei ihnen gnädig und erleuchte sie!

Der Kardinal hatte begriffen, dass es kein Bibelvers gewesen war, der ihm die Vision geschenkt hatte. Es waren Verse von Goethe, Verse aus seinem blasphemischen „Prometheus“. Aber er hatte die Bibel zitiert in seinem Gedicht, dieser Freimaurer – Gott sei seiner Seele gnädig. Die Schöpfungsgeschichte hatte der Mann aus Weimar zitiert: … und Gott sprach: Lasset und Menschen machen nach unserem Bilde, ein Geschlecht, das uns gleich sei …

„Selbst im Munde des Lästerers bleibt Dein Wort heilig und kraftvoll, o HERR“, betete Jakobo. Er wandte sich ab und kniete vor dem Schrein nieder, dem Schrein der Heiligen Drei Könige. „Lasset uns Menschen machen nach unserem Bilde“, murmelte der Kardinal.

Er versank in der Betrachtung des goldenen Schreins. Sterbliche Überreste der Heiligen Drei Könige ruhten darin. Der ersten Anbeter des neugeborenen Gottessohnes. Wenn man von den armseligen Hirten absah. Ein paar Knochen, weiter nichts. Vor fast neunhundert Jahren hatte der damalige Erzbischof von Köln sie in die Stadt gebracht.

„Sie könnten wieder lebendig werden, o HERR.“ Kardinal Jakobo presste die gefalteten Hände ans Kinn. „So lebendig wie in der Vision, die du mir geschenkt hast, o HERR. Sie könnten durch die ganze Welt reisen und den Ungläubigen predigen, dass du wahrhaftig als kleines Kind auf diese Welt gekommen bist. Sie könnten deine Zeugen sein, o HERR, und deine sündige Welt wieder für den Glauben gewinnen.“

Eine Stunde und länger kniete er vor dem Schrein. Sein Atem flog, sein Herz schlug wild, er zitterte und schwitzte vor Erregung über seine Vision. Seine Idee berauschte, entzückte ihn. Sie setzte sich in seinem Hirn fest und mobilisierte sämtlich Kräfte seiner Fantasie und seines scharfen Verstandes.

Irgendwann bekreuzigte er sich. „Ich danke dir, o HERR, dass du deinem Knecht deinen Willen geoffenbart hast. Und ich danke dir, dass du uns die Wissenschaft gegeben hast, deinen Willen in die Tat umzusetzen.“ Er zog sich die Kapuze seiner Kutte über den kahlen Schädel, stand auf und eilte aus dem Dom.

Vielleicht ging es Kardinal Jakobo an jenem Apriltag des Jahres 2009 tatsächlich darum, dem christlichen Glauben in der Welt wieder auf die Sprünge zu helfen. Vielleicht litt er auch einfach nur unter dem schwindenden Einfluss seiner Kirche. Sicher jedenfalls war: Die Vision des Kardinals an seinem dreizehnten Fastentag sollte die Geschichte Kölns bis in eine ferne Zukunft prägen!

Lennox und der Lichtkult: Das Zeitalter des Kometen #4

Подняться наверх