Читать книгу Lennox und der Lichtkult: Das Zeitalter des Kometen #4 - Jo Zybell - Страница 8
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ОглавлениеFanlurs Streiter nannten das Ding „Götterauge“. Es bestand aus zwei parallel verlaufenden Röhren, handlang und ein wenig dicker als der Oberschenkelknochen eines großen Mannes. Und es war grau. Ein mattes, sehr dunkles Grau. Etwa wie der Uferschlamm des Großen Flusses. Oder wie Fanlurs langes Haar.
Sie nannten es so, weil man damit weit entfernte Menschen, Häuser oder Schiffe so deutlich sehen konnte, als würde man direkt davor stehen.
Fanlur selbst nannte das Ding Binokular. Fremd klang dieser Name in den Ohren seiner Streiter. So fremd und rätselhaft, wie die Namen manch anderer mächtigen Dinge, die Fanlur besaß und benutzte.
Mit dem Götterauge suchte er die Waldränder und bewachsenen Schutthügel der Flusslandschaft ab.
„Was siehst du, Fanlur?“, rief Honnes zu dem großen Mann mit dem Götterauge hinauf.
Honnes war ein dürrer kahlköpfiger Mann mit dicken, wulstigen Lippen und zerknautschtem Gesicht. Er kämpfte seit vielen Wintern Seite an Seite mit Fanlur gegen die Bruderschaft.
Honnes stand neben Wulf. Seit das Licht des neuen Tages ihn geweckt hatte, kraulte er dem Tier unablässig das weiße Nackenfell. Wulf war ein fast reinrassiger Lupa. Der alte Honnes war der einzige unter den Streitern, den Wulf so nahe an sich heranließ. Abgesehen natürlich von Fanlur, seinem Herrn.
Die sechsunddreißig Streiter hockten oder standen im Moos zwischen niedrigen Büschen. Nicht unten im feuchten Waldboden, sondern gut sechzig Schritte darüber im höchsten Raum der T-Festung. So hieß der am besten erhaltene Ruinenkomplex in den Wälder östlich von Coellen auf der rechten Seite des Großen Flusses.
Keiner der Männer hätte erklären können, warum die Ruine so hieß: T-Festung. Sie hieß einfach so. Schon ihre Väter und Großväter hatten sie so genannt. Es gab ein mächtiges Reich bei den Alten, pflegte Fanlur zu antworten, wenn man ihn danach fragte, ein Reich, das ein T in seinem Wappen führte. In den Zeiten vor Alxanatan. Die T-Festung war das Machtzentrum dieses Reiches gewesen.
Dichtbelaubte Äste strebten zu den Fensteröffnungen herein. Vogelkot hing im Efeu und im Moos, das die Wände überzog wie ein Teppich. Kletterpflanzen rankten sich um die verbogenen Metallstreben, die sich aus den zerborstenen Wänden weit über die Baumwipfel in den dunstigen Morgenhimmel streckten.
Fast ehrfürchtig schauten die sechsunddreißig Streiter zu ihrem Führer hinauf. Fanlur war an den armdicken Ranken des Efeus die Wand hinaufgeklettert. Jetzt hing er zwischen zwei verkrüppelten Birken auf der Mauerkrone der Ruine. Das Götterauge unter seine blauschwarzen Brauen gepresst blickte er nach Süden hinüber zur Coellen-Burg.
„Über vierzig Coelleni-Soldaten außerhalb der Burg“, sagte er. „Fast fünfzig. Sie sind mit Kriegsbogen und Langschwertern bewaffnet.“
„Und die Dysdoorer?“, wollte Juppis wissen. Er war der älteste Streiter, älter sogar als Honnes. Sein langes, weißes Haar hatte er zu einem dicken Zopf geflochten. Manche sagten, er hätte schon siebzig Winter gesehen. Wie die meisten Männer der Streitertruppe trug Juppis die dunkelbraune Lederschuppenrüstung der Coelleni-Soldaten. Beute aus zahllosen Überfällen. „Kannst du die Horden der Dysdoorer schon irgendwo ausmachen?“
Fanlur richtete sein Binokular auf den Urwald hinter der Coellen-Burg. Über Baumwipfel und von Gestrüpp eingesponnene Ruinen hinweg wanderte sein Blick zum Ufer des Großen Flusses. Die Horden aus dem weiter nördlich gelegenen Dysdoor wollten im Morgengrauen angreifen. Haynz, ihr Hauptmann, führte sie seit einer Woche in einem weiten, östlichen Bogen um Coellen herum, um diesmal mit Flößen vom Fluss aus an den Flussgärten von Coellen zu landen.
„Nein“, sagte Fanlur. „Keine Spur von ihnen.“ Er sprach mit tiefer, heiserer Stimme.
Juppis winkte ab. „Wahrscheinlich haben sich die Idioten verlaufen.“
„Oder sind abgesoffen“, krächzte Honnes. Einige der Männer grinsten müde.
Keiner der Streiter hatte übertriebenen Respekt vor den Dysdoorern. Schon gar nicht vor ihren militärischen Fähigkeiten. Ihre Horden waren Chaotenhaufen, und ihr Hauptmann ein verfressener Hohlkopf.
Es galt als offenes Geheimnis in den Siedlungen am Großen Fluss, dass Haynz sich nur durch seine sagenhaften Reichtümer für die Armeespitze von Dysdoor qualifiziert hatte. Angeblich besaß er zwei Dutzend Frekkeuscher, eine große Herde Wakudas, vier Handelsschiffe und einundzwanzig Frauen.
Aber die Dysdoorer waren zahlreich und aggressiv. Und sie hassten die Coelleni-Bruderschaft. Letzteres hatten sie mit Fanlur und seinen Streitern gemeinsam. Ersteres war eher von strategischer Bedeutung für Fanlur. Seine Widerstandsgruppe zählte nicht mal fünfzig Köpfe, wenn man die Verbündeten innerhalb der Stadt mitrechnete. Also nutzte Fanlur die üble Gewohnheit der streitsüchtigen Dysdoorer, regelmäßig gegen Coellen anzurennen, für seine Ziele aus. Er hatte ein Bündnis mit Haynz geschlossen. Es war ein reines Zweckbündnis. Ein brüchiges dazu.
Fanlur richtete sein Binokular wieder auf die Coellen-Burg. Auch sie war ein rätselhaftes Bauwerk der Alten. Ihr Dach bestand aus einer riesigen, kreisrunden Plattform von gut drei Speerwürfen Durchmesser. An vielen Stellen wucherten kleine Bäume und Gestrüpp darauf. Die leicht gewölbte Plattform ruhte auf unzähligen Metallpfeilern. Zwischen den Pfeilern hatten die Coelleni im Laufe der Zeit Steinmauern hochgezogen.
Fanlur ließ sein Binokular über die Krone des ringförmigen Trümmerwalls wandern, der die Coellen-Burg umgab. Er konnte die Wachposten ausmachen. Alle hundert Schritte zwei Soldaten.
Körbe hingen an dem gewaltigen Metallbogen, der sich über dem Dach wölbte. Sechs insgesamt. Drei waren mit Soldaten besetzt. Fanlur sah ihre Helme, die Lederschuppen ihrer Brustpanzer, ihre blonden Vollbärte und die Glocken, die über ihnen an den Haltetauen der Körbe befestigt waren.
Kletterpflanzen wanden sich um die dicken Eisenseile, die den gigantischen Metallbogen mit der Dachkuppel verbanden. Zwischen ihnen, unter dem Zenit des Bogens, flatterte die Flagge der Coelleni-Bruderschaft in der Morgenbrise: Der Doppelturm des Schwarzen Doms auf violettem Grund, zwischen den Türmen der Strahlenkranz des Lebenslichtes, und über den beiden Turmspitzen drei gelbe Kronen.
Die Haupttruppe der Coelleni-Soldaten hielt sich außerhalb des Ringwalls auf. An der gepflasterten Straße, die an der Coellen-Burg vorbei über die Ho’zolbrücke in die Stadt hineinführte. Eine von zwei Brücken, die sich von dieser Uferseite aus über den Großen Fluss spannten. Auch die Brücken stammten noch aus der Zeit vor Alxanatan.
Die Soldaten an der Ho’zolstraße gingen mit Schwertern und Spießen aufeinander los. Kampftraining. Andere vertrieben sich die Zeit mit Schießübungen. Sie jagten Pfeile in einen dicken Eichenstamm. Fanlur konnte beobachten, wie manche Soldaten von Zeit zu Zeit ihre Trinkflasche an den Mund setzten.
Fanlur wusste, was sie tranken: Byrölsch. Die Tyrannei der Bruderschaft stützte sich zu einem guten Teil auf dieses schäumenden Gesöff. Es vernebelte den Verstand, lähmte den Willen und raubte einem Menschen jegliche Hemmungen.
Mit Byrölsch abgefüllte Coelleni-Soldaten glichen mordlüsternen Bestien. Das machte sie so gefährlich. Und gleichzeitig war das Gesöff ihre Schwachstelle – es verführte sie zu Selbstüberschätzung und Leichtsinn.
Jeder einzelne Streiter kannte die Wirkung von Byrölsch aus eigener Erfahrung. Für die meisten lag diese Erfahrung lange zurück. Wer sich Fanlurs Widerstandsgruppe anschloss, hatte als erstes dem Byrölsch abzuschwören.
Fanlur richtete sein Binokular auf den Schwarzen Dom. Die Kristallkugel zwischen den Türmen leuchtete grünlich. Paukenschläge waren zu hören. Und krächzende Hörnerklänge. Auch Fetzen von Stimmengewirr wehte der Wind aus der Stadt über den Fluss.
Und dann, ganz deutlich – heiseres Gelächter. Lauter und deutlicher als Stimmen und Instrumente. Die Streiter unter Fanlur hoben die Köpfe. Einige derer, die saßen, standen auf. Gespannt lauschten alle. Wieder vereinzeltes Gelächter – eine höhere Stimme diesmal. Als würde ein Wahnsinniger kichern.
Wulf hob den Kopf. Er stieß ein heiseres Kläffen aus. „Ist gut, Alter.“ Honnes strich dem riesigen Lupa über das Rückenfell. „Nichts passiert. Nur ruhig, ganz ruhig.“ Er selbst war alles andere als ruhig. Das Gelächter jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken.
Das Gelächter der „Scheußlichen Drei“. So nannten Fanlur und seine Streiter die wahren Herrscher der Stadt. Die Coelleni nannten sie „Die Heiligen Drei“.
„Es geht los“, sagte Juppis. Jetzt konnte man vielstimmige Hochrufe von der Stadt her hören. Und einen Trommelwirbel. Jeder der Streiter wusste, was das zu bedeuten hatte: Der Kaadinarrel würde jeden Moment an der Spitze der Bruderschaft aus dem Dom ziehen. Das monatliche Faste’lear wurde eröffnet. Bald würden wieder drei Menschen sterben!
Bewusst hatte Fanlur den Morgen des Festes für seinen Angriff gewählt.
Ein Schatten schob sich in sein Blickfeld. Er richtete das Binokular auf den Fluss. Ein Floß glitt durchs Wasser, ein weiteres folgte ihm. „Die Dysdoorer!“, rief Fanlur.
„Nanu?“, knurrte Honnes unter ihm. „So früh schon?“
„Werden sich gelangweilt haben“, grinste der alte Juppis.
„Oder jemand ist ihnen auf den Fersen!“, rief einer der jüngeren Streiter. Die Männer lachten. Einige kletterten an den Efeuranken zur zerklüfteten Mauerkrone hinauf. So schlecht der Ruf der Dysdoorer auch sein mochte – einen gewissen Unterhaltungswert hatten sie doch.
Honnes und ein junger Bursche namens Ulfis drängten sich neben Fanlur ins Geäst der kleinen Birken. Fast zwanzig Speerwürfe entfernt trieben die Landungsflöße der Dysdoorer Horde auf der Mitte des Flusses. Mit bloßem Auge waren sie nur als dunkle Flecken wahrzunehmen. Doch durch sein Götterauge konnte Fanlur sogar die einzelnen Männer auf den zusammengebundenen Stämmen unterscheiden. Ihre schmutzig-gelben Umhänge flatterten im Wind. Die kahlgeschorenen Köpfe und die Gesichter waren schwarz gefärbt.
Floß um Floß löste sich aus der grünen Mauer des Uferwaldes. Jeweils fünfzehn bis zwanzig Kämpfer standen auf den großen Flößen. Wenn Haynz Wort hielt, würde er heute mit wenigstens hundertzwanzig Kämpfern angreifen.
Von den Ausguckkörben unter dem Bogen der Coellen-Burg war plötzlich Glockengeläut zu hören. Signalhörner ertönten unten auf der Ho’zolstraße. Die Coelleni-Soldaten formierten sich und liefen in Zweierreihen Richtung Fluss davon. Fanlur setzte das Götterauge ab.
„Es ist Zeit.“ Der Blick seiner roten Augen wanderte von einem Streiter zum anderen. Die meisten Männer standen unter ihm. Einige hingen rechts und links von ihm in den Lücken der Mauerkrone. Die Augen aller hingen erwartungsvoll an ihrem Führer.
Fanlur war fast sechs Ellen groß. Seine schneeweiße Haut war glatt wie die eines Jünglings. Dabei hatte er mindestens fünfzig Winter gesehen. Jedenfalls glaubte Honnes das zu wissen. Sein dunkelgraues Langhaar hatte Fanlur sich wie meistens mit einem roten Tuch aus dem kantigen Gesicht gebunden. Er trug graue Schnürstiefel aus weichem Leder, hellbraune Wildlederhosen und ein dunkelgraues Hemd aus grobem Leinen.
„Noch einmal der Plan: Die Dysdoorer werden den Flussgarten angreifen und versuchen die Mauer zu besteigen. Die Coellenis werden ihre Streitkräfte dort konzentrieren und die Wachen auf der Ho’zolbrücke größtenteils abziehen. Wir stürmen die Brücke und dringen in die Stadt ein. Honnes und seine Truppe stoßen zum Flussgarten vor und fallen den Coelleni-Soldaten dort in den Rücken. Juppis und seine Streiter greifen das Bruderschaftshaus an und versuchen ein Feuer zu legen. Ulfis, Tones und Willer dringen mit mir in den Dom ein.“
Für seinen Vorstoß ins Herz der Finsternis hatte Fanlur sich die drei klügsten und wendigsten Streiter ausgesucht.
Die Männer nickten. „Auf in den Kampf!“ Juppis reckte die geballte rechte Faust in die Luft.
„Für das Wahre Coellen!“, antwortete der Chor der Streiter. Sechsunddreißig Fäuste schossen nach oben.
Fanlur kletterte die Mauer in den Raum hinunter und schulterte sein Todesrohr. So nannten die Streiter die geheimnisvolle Waffe, mit der Fanlur auf große Distanz Angreifer verwunden und sogar töten konnte. Er selbst nannte die Waffe Shotgun.
Die Männer griffen zu ihren Armbrüsten und Kurzschwertern. Nur Honnes zögerte. Noch immer hing er auf der Mauerkrone zwischen den beiden verkrüppelten Birken. Er hielt den Kopf geneigt und schien zu lauschen. „Hörst du das, Fanlur?“
Die Männer blieben stehen. Keine sprach mehr, alle lauschten konzentriert. Die Signalhörner und die Glocken in der Coellen-Burg waren verstummt. Vom großen Dom her hörte man den Singsang vieler Stimmen. Hin und wieder schallte das grausige Gelächter der Scheußlichen Drei über den Fluss.
„Was meinst du, Honnes?“, wollte Fanlur wissen. Der weiße Lupa hob den Kopf und stellte die buschigen Ohren auf.
„Hör doch“, flüsterte Honnes. „Dieses eigenartige Rauschen. Als würde in der Ferne jemand in das Horn eines Riesen blasen. Hört ihr es nicht?“ Er blickte in den Himmel. „Es kommt näher.“
Jetzt hörten es die anderen auch. Ein leises Dröhnen, weit weg noch. Wie der langgezogene Ton eines Signalhorns. Aber es konnte kein Signalhorn sein, denn der Ton dauerte an. Ununterbrochen. Wer in ein Signalhorn blies, musste es irgendwann einmal absetzen, um Luft zu holen.
Fanlur griff in die Ranken des Klettergestrüpps. Blitzschnell zog er sich hinauf zur Mauerkrone. Neben Honnes kniete er zwischen die Birken und setzte sein Binokular an die Augen. Ein dünner, kerzengerader Streife zog sich weiter südlich durch den Morgenhimmel. Weiß und strahlend und noch ziemlich weit entfernt. Ein dunkler Punkt hing an der Spitze des Strahls. Wie eine Speerspitze schien der Strahl ihn vor sich her zu schieben.
Fanlur setzte das Binokular ab. Aus schmalen Augen blickte er in den Himmel. Hinter seiner weißen Stirn arbeitete es fieberhaft.
„Was ist das, Fanlur?“, flüsterte Honnes. Angst schwang in seiner Stimme.
Wortlos reichte Fanlur ihm das Götterauge. Honnes’ Adamsapfel tanzte auf und ab, während er durch die Röhren hindurch den heranfliegenden Himmelsspeer beobachtete. „Wudan sei uns gnädig“, flüsterte er. „Sag mir, was das ist?“
„Wie soll ich dir das erklären?“ Fanlur sprach mit tonloser Stimme. „Nenn es einen Feuervogel, wenn du willst.“