Читать книгу Italienisches Sommerhaus - Joachim Jasinski - Страница 9
Übernahme und Enzo
ОглавлениеDie Casa hatten wir früher schon einmal von weitem gesehen. 1995 haben wir sie übernommen. In diesem Jahr machten Fred und ich zwei Wochen Urlaub in Italien. Das Auto war vollgepackt, und wir zogen, wie einst Hannibal über den Appennino, in Richtung Toskana. Maud an der Europabrücke, Tickerl in Österreich, Straßenzoll für Italiens Autobahn und jedes Jahr ein bisschen mehr! Dafür caffè, schwarz wie die Sünde, wenig im Tässchen, aber ein Genuss! Zwölf Stunden Fahrzeit über München in Richtung Brennero, dann über den Po in Richtung Arezzo und weiter nach Rom.
Ankunft in der Dämmerung. Wir haben noch Zeit, das Haus zu betrachten, sind etwas geschockt über den Zustand unserer Casa. Überall Schmutz, Staub und Kot von den Tieren. Wir suchen eine Schlafgelegenheit. Ein paar Drahtgestelle italienischer Bauart, die schon mal als Betten dienten, sollen uns jetzt aufnehmen. Erst mal lang machen. Kein Licht, kein Wasser. Unsere Motivation liegt erstmal am Boden wie wir.
Nach drei Tagen Schuften, Räumen, Schwitzen, Essen aus der Büchse, Waschen und Zähne putzen an einer Wasserlache unten am Bach und viel Staub in den Lungen, hatten wir beide das Bedürfnis, auch mal etwas anderes zu sehen. Also ab in die City. Hier finden wir gleich vor dem Ort Rassina die Gaststätte „Mulino“. Mit großem Werbeschild lädt sie uns zu mangiare und vino rosso ein. Die trattoria ist auf zwei Etagen voller Gäste. Die Kellner haben zu tun. „Prego, Antipasti con pomodori e piatti panino con salsiccia.“
Das Wörterbuch liegt aufgeschlagen auf dem Tisch, wollten wir doch schon ein paar italienische Wörter selbst sprechen, wenn wir sie auch falsch betonten. Also Vorspeise: kleine geröstete Weißbrotscheiben mit Leberpastete bestrichen, gewürzte Tomatenscheiben und alles mit Olivenöl beträufelt. Der Anfang ist ein Genuss. Das geht so weiter, bis wir uns beide gesättigt zurücklehnen, die fettigen Hände in der Serviette reinigen und nun Zeit haben, uns ein bisschen umzusehen.
Auffällig war, dass es am Sonntagabend in der Gaststätte kaum Plätze gab. Der Sonntag ist bei den Italienern Familientag. Essen gehen mit den Kindern, Oma und Opa, Oma bezahlt, wie bei uns.
Nichts gegen die Italiener, aber beim Essen sollte man ihnen lieber nicht zuschauen. Die Käsefäden kleben am Kinn, in den Bärten oder sonstwo. Die nachfolgende Zigarette dampft zum Schluss aus dem Nudelrest.
Wir erkannten schnell, wer der Chef in Küche und Gastraum war. Nach dem dritten Abend kam er auch zu uns an den Tisch, brachte eine Flasche Rotwein mit und trank sie mit uns an.
„Ah, tedesko, papa e figlio, dove in campagne? Ah, in Pretella, Casa Fagiani.”
„Si, si.“
Er wäre auch schon in Deutschland gewesen, hätte Ende der Fünfziger Jahre als Friseur gearbeitet, und er heiße Enzo, also salute Enzo, salute Joachimo, salute Frederico! Beim Heimfahren dachte ich, wir fahren ein Bergrennen. Der letzte Rotwein muss wohl „schlecht“ gewesen sein!
Wir machten Fortschritte im Haus. Fred kümmerte sich um eine neue Haustür. Ich fing an, die alten Elektrodrähte abzureißen, Schlitze für die neuen Kabel zu stemmen und sie anschließend zu verlegen. Einige Zwischenwände mussten für einen größeren Raum weichen. In der zukünftigen Toilette zogen wir drei „neue, alte“ Balken ein. Hier war die einstige Decke durchgefallen, ein Opfer des löchrigen Daches. Eine neue Erfahrung machten wir beim Aussuchen der verwendbaren Balken. Die meisten waren aus dem Holz der Kastanie, aber sehr alt und dick mit Moos bewachsen. Das Durchsägen war schon schwer, die Bearbeitung kostete viel Kraft. Helles Braun und hart wie unsere Buche, ein edles Holz auch für neue Möbel. Beim Verlegen der Elektroleitungen auf dem Balken war mit normalen Nägeln nichts zu machen, alle krumm! Stahlnägel oder Holzschrauben!
Unser Mittagessen verlegten wir auf die Abendzeit. Wir fuhren zur „Mulino“ und probierten jeden Tag eine andere Speise aus. Enzo begrüßte uns über alle Gäste hinweg mit einem Armgruß. Er ist ein Fünfziger, sehr beliebt bei den Gästen und Frauen, hat eine positive Ausstrahlung wie ein richtiger Italiener, eben so. Wir beobachteten, dass er im Sommer alle Frauengäste mit einer gladiolo überraschte. Bravo, Enzo! Wir bekamen auch mit, dass alle seine Mitmacher Familienmitglieder waren. Graziano, der Sohn an der Kasse, Luana, die Tochter, Pizzabäckerin. Alessandro, der Schwiegersohn, arbeitete als Küchenhelfer, wenn viel Betrieb war, und das war oft. An den Wochenenden kellnerten junge Leute aus dem Ort.
Die Casa war lange Zeit unbewohnt. Nach dem Auszug der Besitzer gab es vorübergehende Nutzer, bis das Haus in Vergessenheit geriet. Einige „Räuber“ hatten das Beste herausgeholt und fortgeschafft. Das wäre hier so, sagte man uns.
Haus und Landschaft
Die Casa war also in keinem guten Zustand. Die Fensterrahmen waren nicht mehr zu verwenden, die Türen fehlten im ganzen Haus. Wir nagelten aus Holzleisten neue Rahmen für die Fenster, bezogen die Fläche mit einer Folie. Vor die Türenöffnungen hängten wir Decken, damit der Wind nicht mehr so kräftig durch die Casa zieht.
Ein großes Loch in der Außenwand versprach nichts Gutes. Durch den Fußboden konnte man von oben bis nach unten in den einstigen Stall schauen. Wir nahmen an, dass ein mögliches Erdbeben in der Nähe diese Schäden verursacht hatte. Claudio wollte mit einem Gehilfen alle Schäden in Ordnung bringen, bald. „Bald“ hat zwei Jahre gedauert. Da wir nur im Sommer hierher fuhren, war es nicht so schlimm, wenn alles noch nicht zusammenpasste. Wir nutzten die Ferien, um aufzuräumen, das Gelände von wilden Dornen zu befreien, die es am Anfang überall gab.
Erfreuliche Momente waren, wenn einer schrie, hier ist eine Mauer. Sofort waren alle dabei, diese freizulegen, dachte doch jeder, einen Etruskerfund vor sich zu haben. Die erste Entdeckung waren die Mauern eines offenen Schweinestalls, der nahe am Haus angelegt war. Den zweiten „Etruskerfund“ legten Eckhard und Fred wenige Meter vom Haus entfernt frei. Was da war, konnte man am Anfang nicht erkennen. Gerade das regte die Ausgräber an. Trotz der hohen Temperaturen und des Verzichts auf die Mittagsvesper wurde gegraben, gebuddelt und gekratzt, bis endlich eine geschwärzte Rundung zum Vorschein kam, die auch gleich einstürzte. Das war ein Backofen. Der Etruskerfund war die Rundung eines offenen Pizzaofens. Einheitliche Meinung aller Anwesenden: „Den bauen wir wieder auf.“
Wir lernten in der ersten Zeit einige italienische Wörter, die zum Einkaufen, Fragen, Bitten und Bedanken wichtig waren. Das Wort „scambiare“ werde ich wohl nie vergessen. Es heißt auf deutsch „wechseln“. Wechseln, scambiare prego! Die Deutsche Mark musste zuerst in Lire umgewechselt werden. Claudios Frau Scilla nahm gern unsere ersten Abzahlungen entgegen. Wir erhielten dafür ein Stück Papier, das aus einem Schulheft der Kinder herausgerissen war. Egal, wie jeder seine Buchhaltung führt. Wir sammelten die Papierfetzen.
Die Bekanntschaft mit Claudios Familie hatte auch viel Positives. Wir lernten seine Familie kennen. Claudio ist selbständiger Handwerker, er führt eine Firma für Maurer- und Fliesenlegerarbeiten. Ehefrau Scilla fädelt aufwändige Halsketten für den Export nach Amerika. Zur Familie gehören die Kinder Leonardo und Sara. Die nonna, bei uns Oma, hilft in der Hauswirtschaft.
Wenige Tage nach der alljährlichen Jagd auf die cinghiale (Wildschweine) erhielten wir eine Einladung von Claudio zum Abendessen. Wir waren pünktlich vorm Haus. Er stand schon vor der Tür und begrüßte uns herzlich. Der Eingang führte direkt in die Küche. Ein großer Raum mit einem Tisch in der Mitte. Gasherd, Arbeitsplatte und ein großes Küchenbuffet an den Seiten. Gegenüber der Kamin. Schwere dicke Kloben flackerten und wärmten die Stube. Wir begrüßten uns, halb italienisch, Buona sera, Küsschen rechts, Küsschen links, halb deutsch, Guten Abend. Sogleich wurden wir an den gedeckten Tisch gebeten. Frau Scilla hantierte an der Küchenplatte. Die Antipasta stand schon zum Verzehr bereit. Wir sollten beginnen. Zuerst einen Schluck Rotwein, salute, salute! Dann die gerösteten Bruschetta-Scheiben mit verschieden Belägen. Die nonna saß nicht mit am Tisch. „Ihre Zähne sind nicht mehr so gut, sie müsste sich das Essen in der camera erst zurechtschneiden.“ Ein aromatischer Fleischduft zog vom Ofen her in unsere Nasen. Die Nudeln waren jetzt fertig, Scilla ließ sie abtropfen, vermengte sie mit einer breiigen Masse mit Fleischstückchen und servierte sie mit einer Nudelzange auf unsere Teller. Ein paar Kräuter über alles und buon appetito. Das war aber nur die Vorspeise. Jetzt folgte der primo piatto. Geröstete Kartoffel-Viertel mit Fleisch vom cinghiale, köstlich zubereitet. Wir konnten kaum noch. Anschließend, als der Tisch abgeräumt war, noch den Espresso aus kleinen zierlichen Tässchen.
„Grazie. Grazie, buon mangiare, grazie.“ Wenn auch unsere „italienische“ Unterhaltung sehr karg war, so war es ein Genuss, eine Freude, mit einer italienischen Familie gemeinsam zu essen.
Hier im Gebiet des Casentino ist jeder Mann auch Jäger. Die Wildschweine haben in dieser Landschaft sehr gute Voraussetzungen. Überwiegend Mischwälder mit vielen Eichen und Kastanien. Das ist die beste Grundlage für ein gutes Schweineleben. Der Mensch schützt sich gegen die Zerstörungen in der Landwirtschaft durch gemeinsames Jagen mit Treibern und Hunden. Die Schinken vom cinghiale hängen bestimmt in jeder Speisekammer bei den Anwohnern vom Castell Focognano Am 15. September ist Jagdbeginn, und da sollte man hier nicht mit einer grauen Jacke spazieren gehen.