Читать книгу 24 Stunden Angst - Joachim Koller - Страница 4
15. November
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Grau in Grau präsentierte sich der kalte Novembertag vor Toms Zimmer. Die ersten Schneeflocken des Jahres fielen auf die Straße und blieben aufgrund der tagelangen eisigen Kälte liegen. Tom saß alleine daheim vor seinem Computer und entspannte bei seiner Lieblingsbeschäftigung, Computerspielen.
Das Läuten seines Handys riss ihn aus der Fantasiewelt. Es war seine Frau, Tamara.
»Hallo, Schatz. Na, wie geht´s?«, fragte sie, gut gelaunt aber hörbar gestresst.
»Alles bestens. Ich genieße die Ruhe daheim. Wie läuft es bei dir, viel los in der Arbeit?«
»Wie immer, ein Haufen Papierkram, aber sonst nichts Aufregendes. Ich freue mich schon, wenn ich heimkomme, immerhin haben wir den Nachmittag für uns.«
»Ja, darauf freue ich mich auch. Sehr praktisch, dass Sophia nach dem Museumsbesuch noch bei ihrer Freundin bleiben möchte.«
Sie plauderten noch über Alltägliches, bis Tamara meinte, dass sie weiter arbeiten müsse und sich verabschiedete.
»Dann bis später, ich liebe dich, mein Schatz!«
»Ich dich auch, bis dann«, antwortete Tom und legte auf.
Tamara und Tamara waren seit neun Jahren verheiratet und noch viel länger zusammen. Er selbst zählte nicht mehr, Tamara hatte ihm vor kurzem gesagt, dass sie sich schon fast zwanzig Jahre kannten. Als Tamara vor dreizehn Jahren unerwartet schwanger wurde, war für ihn schon längst klar gewesen, dass sie die Frau seines Lebens war. Die Hochzeit verschoben sie dennoch immer wieder, bis es dann nach einigen Jahren soweit war.
Viele in ihrem Freundeskreis beneideten sie um ihre harmonische Beziehung, in der es scheinbar nie Streit oder Schwierigkeiten gab. Im Großen und Ganzen traf das auch zu. Außer den üblichen kleinen Diskussionen hatten es noch nie größere Probleme in ihrer Beziehung gegeben.
Seit der Geburt von Vanessa-Sophia drehte sich bei ihnen alles um ihre Tochter. Wegen seiner Familie hatte Tom auch seinen früheren Job bei einer Event- und Marketingfirma aufgegeben. Er wollte nicht mehr herumreisen, sondern so viel Zeit, wie möglich mit Tamara und seiner Tochter verbringen.
Aus diesem Grund hatte Tom vor zehn Jahren einen Job als Sanitäter und Einsatzfahrer in Wien angenommen. Obwohl er finanzielle Abstriche machen musste, waren die Arbeitszeiten um einiges angenehmer. Mehr freie Tage waren ihm wichtiger, die er mit Sophia verbrachte.
Tamara arbeitete halbtags als Sekretärin in einer kleinen Baufirma. Mit ihren beiden Gehältern zusammen kamen sie halbwegs über die Runden. In erster Linie achteten sie darauf, dass sie ihrer Tochter alles ermöglichen konnten. So besuchte sie eine renommierte Privatschule, deren Gebühren sie sich nie hätten leisten können. Ein guter Freund von Tom, Martin, ein bekannter Anwalt in Wien, hatte bei der Direktion ein gutes Wort für die Familie eingelegt. Er war nie genauer darauf eingegangen, aber Tom wusste, dass es eine Gegenleistung für einen Fall war, bei dem er den Direktor heil aus allen Anklagepunkten heraus bekam.
Tom hatte ein hervorragendes Verhältnis zu seiner Tochter, die trotz Pubertät und einem Freundeskreis von Kindern reicher Eltern, sehr normal und bodenständig blieb. Ihr gemeinsames Faible für Science-Fiction Serien sorgte öfters für lange Nächte vor dem Fernseher mit langen Gesprächen, so auch gestern.
Nachdem ihn Tamara sowieso unterbrochen hatte, stand Tom auf und bereitete sich sein Mittagessen zu. Kochen gehörte nicht zu seinen Stärken, aus diesem Grund gab es auch immer eine Tiefkühlpizza zuhause.
Seine Frau würde nicht vor 15 Uhr heimkommen, also hatte er noch Zeit, die Ruhe daheim zu genießen.
Tom war mitten unter dem Essen, als sein Telefon erneut klingelte. Dieses Mal war es seine Tochter Sophia.
»Ja, hallo, meine Kleine. Solltest du nicht schon längst im Museum …?«
»Papa, die haben uns da eingesperrt und bedrohen uns … Ich habe Angst, die wollen uns was antun!«, flüsterte sie komplett verängstigt ins Telefon.
Tom sprang auf.
»Wie bitte? Was ist los, wo bist du?«, fragte er verwundert. Er glaubte, sich verhört zu haben.
»Im Museum, die haben uns alle in einem Raum gesteckt und … Mist die kommen schon wieder …« Sie verstummte.
Tom hörte eine männliche Stimme, die schrie. Dann kreischten mehrere Kinder auf.
»Alle Handys her, sofort … Rüber an die Wand! Sichert alle Ausgänge und die Räume, so wie geplant …«, dann wurde die Verbindung unterbrochen.
Tom starrte fassungslos auf das Handy. Es dauerte einige Sekunden, bis er wieder in der Lage war, normal zu denken. Er ließ den Teller mit der halben Pizza stehen und rannte in den Vorraum, um sich anzuziehen. Schnell band er seine schulterlangen, braunen Haare zusammen, schnappte sich seine Jacke und seinen Autoschlüssel und stürzte aus der Wohnung. Wenn seine Tochter in Gefahr war, musste er umgehend zu ihr.
Auf der Straße war es ruhig, die Straßen nass und rutschig. Tom rannte zu seinem Wagen und sprang hinein.
So schnell es ihm möglich war, fuhr er in Richtung des ersten Bezirks. Die erste rote Ampel konnte er noch ohne Probleme überfahren, aber bei der Zweiten musste er sich einbremsen, da der Querverkehr die Kreuzung blockierte.
»Mist, das ist kein Dienstwagen!«, fluchte er, als die Reifen über die feine Schneeschicht rutschten, und wünschte sich einen seiner Fahrzeuge aus der Arbeit, mit Blaulicht und Sirene.
Es dauerte knapp eine Viertelstunde, bis er in der Innenstadt ankam. Dabei rasten seine Gedanken um das kurze Telefonat mit seinem Kind.
Die Klasse war heute in der Innenstadt unterwegs, um einige Bauwerke und besonders das Kunsthistorische Museum zu besuchen. Sophia hatte ihm gestern noch erzählt, dass im Moment die Hälfte der Klasse krank war. Dennoch wurde der Ausflug nach mehreren Verschiebungen nun durchgeführt, auch mit dem Grund, dass dadurch die kranken Schüler weniger Lernstoff versäumen würden.
Gestern Abend, als sie gemeinsam auf der Couch lagen und sich ihre Lieblingsserie »Doktor Who« ansahen, hatte Sophia davon geschwärmt, wie sie sich auf die Gemälde und die ägyptische Ausstellung im Museum freute.
Aber wer käme auf die Idee, in einem Museum eine Gruppe Kinder einzusperren und zu bedrohen? Tom konnte sich nicht erklären, was genau vorgefallen war, aber er kannte seine Tochter. Sie hatte komplett verängstigt geklungen, und nachdem er auch die schroffen Anweisungen des Mannes gehört hatte, wollte Tom so schnell wie möglich zu ihr.
Als er versuchte auf die Straße abzubiegen, die zum Museum führte, sah er hinter sich eine ganze Armada an Blaulichtern, die rasch näherkamen. Er fuhr in eine große Parklücke und entschied, den Wagen stehen zu lassen. Den restlichen Weg lief er, wobei es sich bezahlt machte, dass er mehrmals die Woche am Abend laufen ging.
Am Platz vor dem Museum wurden die ersten Stände für den Adventmarkt aufgebaut, der in wenigen Tagen eröffnen sollte. Tom hatte keine Augen dafür und rannte auf das Museum zu.
Er zückte sein Handy und versuchte, Sophia anzurufen, doch er kam nur auf ihre Mailbox. Entweder mussten sie das Handy abdrehen, oder es war zerstört worden.
Beinahe lief er in eine Gruppe Polizisten, die vor ihm erschienen.
»Stopp, hier können Sie nicht rein, wir …«, informierte ihn einer der Polizisten und wollte ihn zurückdrängen. Tom schlug seine Hand zur Seite.
»Meine Tochter … sie hat mich angerufen, dass sie da drinnen eingesperrt …«
Er spürte eine Hand auf seiner Schulter. Als er sich umdrehte, blickte er einem groß gewachsenen, untersetzten Mann in die Augen. Durch den dunklen Vollbart war sein Mund fast nicht zu erkennen. Er war in einem dicken, dunkelbraunen Mantel eingehüllt, der bis zu den Knien reichte.
»Ganz ruhig. Ich bin Chefinspektor Halbmann. Kommen Sie bitte mit mir«, sprach er mit ruhiger, tiefer Stimme auf Tom ein. Er zog ihn zur Seite und sprach mit gedämpfter Stimme weiter.
»Wir wissen schon Bescheid und in wenigen Minuten wird es wohl ganz Wien wissen. Deshalb sind das Museum und die Straßen auch abgeriegelt. Sie sind wer genau?«
»Tom … also Thomas Korn. Meine Tochter, Sophia, sie ist mit ihrer Klasse …«
»Moment«, unterbrach der Chefinspektor ihn, »Das erzählen Sie mir in aller Ruhe.«
Sie gingen zur Hauswand neben dem Stiegenaufgang, wo sie dem eiskalten Wind nicht direkt ausgesetzt waren. Der Chefinspektor zückte eine Packung Zigaretten, bot Tom eine an, doch dieser verneinte.
»Ich habe aufgehört.«
»Eine gute Entscheidung. Das nehme ich mir auch immer vor, aber dann klappt es doch wieder nicht«, versuchte Halbmann, ihn mit normalem Small Talk zu besänftigen.
Nach einigen Zügen von seiner Zigarette sprach er weiter.
»Nun, Herr Korn, was genau wissen Sie?«
Tom erzählte ihm von dem Anruf und was er gehört hatte.
»Damit sind Sie uns schon um einiges voraus. Wir haben nur einen Anruf bekommen, mit der Information, dass es hier eine Geiselnahme gibt und wir um dreizehn Uhr mehr erfahren werden. Ganz nett war, dass der unbekannte Anrufer uns mitgeteilt hat, wir sollen doch bitte vor dem Museum warten. Wir können inzwischen ruhig unser Büro aufbauen, weil es länger dauern wird, hat er gemeint«, erklärte Halbmann mit säuerlichem Unterton.
Mittlerweile strömten von allen Seiten Polizisten zu ihnen. Ein LKW mit breitem Anhänger fuhr an den teilweise nur halb aufgebauten Ständen vorbei. Auf der Seite des grauen Anhängers prangte in großen, weißen Buchstaben POLIZEI - Mobile Kommandoeinheit. Der Wagen parkte nahe dem Maria-Theresia-Denkmal, das mitten auf dem Platz vor dem Museum stand.
»Mein Büro ist eingetroffen«, meinte der Chefinspektor und ging zum Wagen. Tom folgte ihm.
Plötzlich gab es hinter ihnen beim Eingang zum Museum einen Aufruhr. Tom drehte sich um und sah, wie ein Mann mit erhobenen Händen aus der Tür rannte.
»Nicht schießen, ich arbeite im Museum! Ich soll dieses Handy an jemanden weitergeben, der hier das Sagen hat!«, rief er laut. Der aufgeregte Mann war sofort von einer Horde von Polizisten umringt. Halbmann drehte sich ebenfalls um.
»Her damit, ich nehme es!«, rief er ihm zu. Das schwarze Handy war ein altes Ericsson-Modell aus der Zeit, als Handys gerade erst in Mode kamen. Tom erkannte es, denn es war damals sein erstes Handy. Wie eine kleine rechteckige Schachtel lag es in der Hand des Chefinspektors. Er blickte darauf und runzelte die Stirn.
»Das gehört eigentlich auch schon in ein Museum. Kein Farbdisplay, kein Internet. Wenn ich das meinen Kindern zeige, lachen die mich aus«, meinte er grimmig und drückte einige Knöpfe.
Tom erinnerte sich. Das Display war zweizeilig, Spiele gab es damals noch keine, das Wort App noch unbekannt. Und die Klingeltöne, besser gesagt, die Piepstöne, wurden mit einem Editor selbst komponiert.
»Es ist keine Nummer gespeichert, keine Nachrichten darauf«, stellte er fest. Er blickte auf seine Uhr.
»Kurz vor eins. Dann hoffe ich mal, dass diese Typen pünktlich sind und sich melden.«
Zusammen mit Tom ging er zu dem Kastenwagen. Als Tom in das Innere blickte, wusste er, was Halbmann mit »seinem Büro« meinte. Mehrere Computer, Blinklichter, einige Telefone und viele große und kleine Bildschirme waren zu sehen.
Während der Chefinspektor die Polizisten aufteilte und weitere Anweisungen gab, setzte sich Tom auf die Stufen bei der Tür zum Kommandostand und blickte zum Museum.
Er konnte sich immer noch nicht erklären, was hier vorging. Hat wirklich jemand im Museum eine Schulklasse als Geiseln genommen? Wie viele Leute waren noch im Museum und was wollten diese Verbrecher?