Читать книгу 24 Stunden Angst - Joachim Koller - Страница 8
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ОглавлениеTamara wollte einer weiteren Konfrontation mit Tom aus dem Weg gehen und blieb bei der Absperrung stehen. Eine Polizistin hatte ihr einen Kaffee gebracht, wie Tom aus der Entfernung feststellen konnte.
»Das Schlimmste ist diese Zeit des Wartens, wenn man unfähig ist, irgendwie zu helfen«, stellte Werner fest.
»Dann ist es ja gut, dass Jakob die Anderen beschäftigt«, meinte Tom mit einem Anflug eines Lächelns.
»Ich finde seine Taktik interessant, aber auch bedenklich. Dieser Mann hat einen Plan und es ist davon auszugehen, dass nach diesem, nennen wir es einmal Spiel, noch weitere Aktionen kommen.«
»Ganz ehrlich, Herr Ritter, wie viele Geiselnehmer haben sie schon überreden können, aufzugeben?«, wollte Tom wissen.
Werner Ritter überlegte kurz.
»Es werden schon so um die fünfzehn, zwanzig gewesen sein, mindestens. Sie dürfen nicht vergessen, nicht jeder dieser Personen geht so gezielt vor. Meistens sind es Kurzschlusshandlungen, Geiselnahmen in der Familie oder Geisteskranke. Was hier passiert, das geht für mich weit darüber hinaus. Wenn wir wissen, was Jakobs eigentlicher Plan ist, dann würde es uns leichter fallen, ihn einschätzen zu können. Es wird sicherlich um Geld gehen, aber selbst das hat er uns bislang nicht bestätigen können.«
Werner sprach noch weiter, aber Tom hörte nicht mehr zu. Er sah, wie ein Polizist Martin durch die Absperrung begleitete. Tamara erblickte ihn auch und ging in seine Richtung. Wortlos drückte Tom Simon den leeren Kaffeebecher in die Hand und startete ebenfalls in die Richtung. Die zwei Beamten waren in ihr Gespräch vertieft und bemerkten nicht, wohin Tom unterwegs war.
Als Martin Tamara erblickte, ging er mit schnellem Schritt zu ihr. Als Tom zu ihnen stieß, umarmte er Toms Frau gerade.
»Ich habe es in den Nachrichten gehört und dann kam der Anruf, dass ich umgehend herkommen soll«, meinte er.
Tom musste daran denken, wie oft die beiden sich in den letzten Jahren umarmt hatten. Wie oft sie wohl an ihre verhängnisvolle Nacht erinnert wurden und selber daran dachten. Die Wut stieg sofort wieder in ihm hoch, er ballte die Fäuste fest zusammen und ging auf Martin zu. Dieser ließ Tamara los und wandte sich an Tom.
»Martin, warte, ich muss dir …«, begann Tamara, die ihn warnen wollte. Aber es war zu spät.
»Tom, ich habe es vorhin im Radio gehört und …«, weiter kam er nicht.
Ohne Vorwarnung holte Tom aus und schlug seine Faust mit aller Kraft in Martins Gesicht. Er traf ihn genau unter dem linken Auge, die Wucht schleuderte Martin zur Seite und auf den Boden. Noch bevor er realisieren konnte, was mit ihm geschah, war Tom über ihm, schnappte ihn an seinem Hemd und zerrte ihn hoch. Er warf ihn fest gegen eine der verschlossenen Holzhütten.
Martin schrie vor Schmerzen auf. Zwei Polizisten hatten den Angriff mit angesehen und waren herbeigerannt. Sie packten Tom und hielten ihn fest.
»Keine Bewegung, oder wir müssen Ihnen ziemlich weh tun«, bellte der Polizist. Tom war derart in Rage, dass er nicht daran dachte, aufzuhören. Er riss einen Arm aus der Umklammerung des Polizisten und mit einem heftigen Schubs, konnte er den zweiten Polizisten von sich wegstoßen. Er holte erneut aus, dieses Mal konnte Martin eine Hand schützend vor sein Gesicht halten. Dennoch traf ihn der Schlag mitten im Gesicht. Die Hand vor seinem Gesicht half ihm nicht, sofort floss Blut aus seiner Nase.
»Was geht denn bei dir ab, bist du komplett verrückt geworden?«, schrie Martin ihn mit schmerzverzerrtem Gesicht an.
»Du verdammtes Stück …«, schrie Tom zurück, als er ruckartig von hinten gepackt wurde und zu Boden gedrückt wurde. Eine kräftige Hand hatte ihn am Hals erwischt und zwang ihn auf die Knie.
»Es reicht, verstanden?«, fauchte Simon wütend und stieß ihn zur Seite. Schnell stand Tom wieder auf. Simon, der genau vor ihm stand, hatte plötzlich Handschellen in der Hand. Noch bevor Tom reagieren konnte, legte Simon ihm diese an und lies sie einrasten. Tom stand mit gefesselten Händen vor seiner Brust vor ihm.
»Reicht es dir nicht, dass da drinnen ein Wahnsinniger am Werk ist, musst du denn unbedingt hier draußen auch für so viel Wirbel sorgen?« Simon war hochrot im Gesicht. Die beiden Polizisten, die Tom nicht festhalten konnten, wollten ihn packen und mitnehmen, doch Simon deutete ihnen, zu verschwinden.
»Ich werde schon fertig mit ihm, zurück auf Eure Posten!«
Martin hielt sich immer noch seine blutende Nase. Mit der freien Hand holte er eine Packung Taschentücher aus seiner Jackentasche.
»Kann mir jemand mal erklären, was hier los ist? Außer der Geiselnahme, meine ich«, fragte er verwirrt nach.
Simon warf Tom einen wütenden Blick zu, bevor er sich Martin zuwandte.
»Kommen Sie mit, Herr Doktor Martin Leitner. Wir reden im Sanitätszelt.« Simon schnappte Tom und ging mit ihm voran.
»Du verdammter Idiot! Noch so eine Aktion und ich lasse dich verhaften, verstanden? Ich kann dich wirklich gut verstehen …«, zischte er ihm leise ins Ohr.
»Verstehen, ach wirklich? Ist dein Kind da drinnen in Gefahr und deine Frau mit deinem besten Freund im Bett gewesen?«, schäumte Tom.
Simon blieb abrupt stehen, öffnete mit einer Handbewegung die Handschellen und ließ sie einfach zu Boden fallen. Er gab Tom einen Stoß auf die Brust.
Tom erschrak, als er die Wut in Simons Gesicht sah. Kurz glaubte er, Simon würde auf ihn einschlagen.
»Nein, meine Frau hat nicht mit meinem besten Freund geschlafen! Sie ist einfach von einem Tag auf den anderen gegangen und hat mich mit meinen Söhnen alleine gelassen, weil sie keine Lust mehr hatte, Mutter zu sein. Und mein Kind ist nicht da drinnen, du verdammter Idiot, weil mein Sohn damals bei einer Geiselnahme getötet wurde. Glaub mir, ich weiß, was in dir vorgeht und jetzt will ich nichts mehr hören, sonst vergesse ich mich, verstanden!«
Rund um sie war es totenstill geworden. Tamara und Martin waren erschrocken zurückgewichen und starrten ungläubig auf Simon. Tom sah Simon in die Augen und brachte kein Wort heraus. Die Polizisten, die seinen Ausbruch mit angehört hatten, schlichen wortlos weiter und versuchten so zu tun, als wäre nichts gewesen.
Der Chefinspektor drehte sich um und ging wortlos in Richtung Sanitätszelt. Tamara, Tom und Martin folgten ihm mit gesenktem Kopf.
Beim Zelt erkannte ein Sanitäter Tom.
»Also doch, ich hab doch richtig gesehen. Grüß dich, Tom, was machst du hier?«, begrüßte der junge Mann ihn. Scheinbar war er einer der Wenigen, die Toms Ausbruch nicht mitbekommen hatten.
»Hallo, Mark. Meine Tochter ist im Museum«, sagte Tom knapp.
Mark sah ihn betroffen an, dann wandte er sich Martin zu.
»Das sieht nicht nach einem Bruch aus. Komm her, ich gebe dir was Blutstillendes.«
Als Martin fertig versorgt war, nahmen sie zu viert neben dem Zelt auf Stühlen Platz.
Martin hatte inzwischen erfahren, warum Tom ihn angegriffen hatte und blickte schuldbewusst zu Boden.
Simon übernahm das Reden.
»Wir haben nicht die Zeit, um jetzt über alte Fehler zu sprechen, das könnt ihr wirklich daheim machen. Herr Leitner stimmt es, dass sie der Vater von Vanessa-Sophia sind?«
»Hat diese Frage etwas Relevantes mit …«, antwortete Martin, ganz im Stil eines aalglatten Anwalts. Simon unterbrach ihn ruppig.
»Ja es ist relevant, oder glauben Sie, wir machen hier eine Paartherapie? Also, kein dummes Herumreden, sind sie der Vater?«
»Ja, ich bin der leibliche Vater, aber ich habe nie irgendwelche Ansprüche deswegen …«
»Hallo? Eine Paartherapie könnt ihr nachher bei Werner machen, verstanden? Mich interessiert im Moment nur, wer weiß es noch, außer ihnen beiden?«
Martin blickte von Simon zu Tom, der ihn immer noch mit aggressivem Blick fixierte.
»Sonst niemand, nicht einmal meine Frau«, antwortete er.
»Das kann nicht sein. Außer jemand von ihnen beiden spielt nebenbei im Museum den Jakob.« Martin starrte Simon fragend an.
Schnell erklärte dieser ihm, was Jakob vorhin gesagt hatte. Martin hörte ihm geschockt und mit offenem Mund zu.
»Woher weiß der Geiselnehmer das?«, fragte er ungläubig.
»Genau deshalb sind sie hier, Herr Leitner. Um mir diese Frage zu beantworten. Entweder Sie oder Frau Korn haben mit mindestens noch einer Person darüber gesprochen. Ich nehme ja nicht an, dass es einer von ihnen ´unabsichtlich´ auf Facebook gepostet hat.«
Alle schwiegen.
Nach einer halben Minute Stille ergriff Simon erneut das Wort.
»Herr Leitner, Frau Korn, sie beide denken bitte weiter nach. Es geht hier um ihr Kind von mir aus mit zwei Vätern. Tom, du kommst mit mir, aus Sicherheitsgründen.«
Er stand auf.
»Sobald ihnen etwas einfällt, kommen Sie zu mir. Bemühen Sie sich bitte, das kann uns wirklich weiterhelfen«, sagte er im versöhnlichen Ton. Zusammen mit Tom ging er in Richtung Kommandowagen zurück.
»Es tut mir leid«, brachte Tom nach einigen Schritten beschämt hervor.
»Woher hättest du es wissen sollen, Tom?« Simon steckte sich eine neue Zigarette an, es war die Letzte in der Packung.
»Hey, Sie da!«, rief er einem Polizisten zu, der einsam und scheinbar ohne bestimmte Aufgabe herumstand.
»Sie haben gerade nichts zu tun, gehen sie zur nächsten Trafik und holen mir zwei Packungen rote Chesterfield. Danke«, befahl er ihm.
»Jawohl, Herr Chefinspektor Halbmann, bin schon am Weg.«
Der Mann setzte sich die Uniformkappe auf seine kurzen schwarzen Haare und machte sich umgehend auf den Weg.
»Das wird ein langer Dienst heute, das spüre ich«, fluchte Simon und drehte sich zu Tom, »Wie gesagt, woher hättest du es wissen sollen. Es ist auch schon lange her, elf Jahre, um genau zu sein. Weißt Du, was das ironische an dem Ganzen ist? In zwei Tagen wäre Stefans 30. Geburtstag. Und gerade jetzt stecke ich mitten in einer großen Geiselnahme.«
Beim Kommandowagen war reges Treiben.
»Lassen wir das Thema, bitte. Ich muss mich auf diesen Fall konzentrieren«, beendete Simon das Thema und klopfte dem Gruppenführer der WEGA auf die Schulter.
»Haben Sie Neuigkeiten für mich?«, fragte er ihn.
Der Gruppenführer drehte sich zu ihm um.
»Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, um uns ein Bild von der Situation im Inneren zu machen, Herr Chefinspektor. Wir könnten die Kameras jederzeit aktivieren …«
»Was dieser Mistkerl deutlich verboten hat. Wir wissen nicht, ob er blufft oder wirklich so gut vorbereitet ist«, erinnerte ihn Simon.
»Das ist richtig. Aber wir haben eine andere Idee. Meine Techniker könnten die Kameras mit einem Programm so programmieren, dass wir sie nur einen Bruchteil von einer Sekunde einschalten und so Bilder von der Situation bekommen. Vergleichen sie es mit einem Fotoshooting.«
Simon überlegte, Tom sah hinauf zu den Fenstern im ersten Stock des Museums. Auf der anderen Seite der Fenster waren Jakob und die Kinder, aber von außen konnte man nichts sehen.
»Sind Sie sich sicher, dass Jakob und seine Leute es nicht bemerken würden?«, fragte Tom nach. Der Gruppenführer musterte ihn skeptisch von Kopf bis Fuß.
»Schon okay, er ist der Vater eines der Kinder und steht unter meiner Aufsicht«, erklärte Simon Toms erneute Anwesenheit.
Der Gruppenführer nickte und fuhr fort.
»Das Risiko ist minimal. Selbst, wenn da drinnen ein guter EDV-Techniker sitzt, könnte er die kurze Sequenz leicht übersehen oder auch nur für eine kleine Schwankung halten. Es ist im Moment unsere einzige Möglichkeit. Herr Chefinspektor, überlegen Sie es sich, mein Mann benötigt noch ungefähr eine Stunde um das Programm zu verschleiern und einsatzfertig zu machen. Auf ihren Befehl können wir es dann jederzeit probieren.«
Simon erklärte ihm, sich dann wieder bei ihm zu melden. Bis dahin würde er überlegen, ob sie das Risiko eingehen konnten.
Als der Gruppenführer wieder zu seinen Leuten zurückging, kam der junge Polizist von vorhin zu Simon.
»Ihre Zigaretten, Chef.«
»Danke.« Simon gab dem Polizisten das Geld und nahm sich umgehend eine Zigarette heraus.
»Zehn Minuten noch, dann meldet er sich wieder. Deine Frau und dieser Anwalt reden immer noch, kann ich dich hier alleine lassen, oder kommst du mit mir mit?«
Tom blickte hinüber zu seiner Frau. Sie war immer noch aufgelöst und schien Martin Vorwürfe zu machen. Immer wieder schlug sie ihm auf die Brust und redete unter Tränen wütend auf ihn ein.
»Ich möchte die beiden nicht stören«, meinte Tom nur knapp und folgte Simon zum Baucontainer.
Dort drohte die Situation zu eskalieren.
Niemand saß mehr auf den Stühlen. Die Emotionen gingen hoch, vorwiegend wurden zwei Personen von der Meute angegriffen. Zum einen Herbert Grodek, dessen Frau sich inzwischen in eine Ecke verzogen hatte und leise vor sich hin weinte. Zum anderen wurde Sabine Adler von vielen Eltern angefeindet.
»Natürlich haben Sie genug Geld auf der Seite, Frau Adler. Wie man hört, verdient ihre Pharmafirma ja genug mit Medikamenten, die trotz großer Bedenken weiterhin verkauft werden dürfen«, meinte Josef Konrad.
»Sie haben keinen blassen Schimmer, von was Sie reden! Lassen Sie mich einfach in Ruhe, kümmern Sie sich lieber um sich selber. Sie … ach, mit so einem Abschaum wie Ihnen gebe ich mich doch gar nicht ab.« Sie drehte sich wütend weg und wollte gehen, doch Grodek legte noch nach.
»Vielleicht sollten Sie lieber auf ihr Geld schauen, nachdem die Aktien ihrer Firma zuletzt derartig in den Keller gegangen sind, Verehrteste«, meinte er nur schnippisch.
»Das sagt genau der, der deshalb das große Geld macht, weil er reihenweise seine Mitarbeiter kündigt, damit mehr Geld für ihn übrig bleibt«, war ihre Antwort.
Simon stieß Tom mit dem Ellbogen leicht an.
»Keiner denkt mehr daran, dass es hier um ihre eigenen Kinder geht. Jeder schaut nur auf sich selbst und auf sein Bankkonto. Das ist krank.«
»Wahrscheinlich ist das der Plan von Jakob, was meinst Du?«
»Kann leicht sein. Wenn ich diesen Mistkerl in die Finger bekomme …«
Ein leises Piepsen von Simons Uhr verkündete, dass es Punkt 17 Uhr war.
»Es geht los, die nächste Runde mit Jakob«, meinte Simon und marschierte mit dem Handy zu dem Tisch mit der Tonanlage. Tom blieb bei der Tür stehen. Er konnte Tamara und Martin von hier aus nicht mehr sehen, was ihm aber im Moment auch sehr recht war.