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Ein langes Leben

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Dank Ka­rims Au­to­ri­tät war mit Sa­rahs Visa al­les pro­blem­los ver­lau­fen, und bald sa­ßen sie in ei­nem kli­ma­ti­sier­ten BMW, des­sen Fah­rer sie er­war­tet hat­te. Dun­kel­heit hat­te sich schon über das Land ge­senkt, und sie ka­men auf dem Au­to­bahn­ring zü­gig vor­an. Der Chauf­feur sah wie­der­holt ver­wun­dert in den Rück­spie­gel, denn so schweig­sam kann­te er sei­nen Fahr­gast nicht. Im­mer, wenn er Ka­rim Al-Kis­met­bahr ge­fah­ren hat­te, war die Zeit bei Ge­sprä­chen schnell ver­gan­gen. Doch dies­mal herrsch­te an­ge­spann­tes Schwei­gen. Es schi­en von der hüb­schen eu­ro­päi­schen Frau aus­zu­ge­hen, und Safi frag­te sich, warum der gute Freund sei­ner Fa­mi­lie, sie mit­ge­bracht hat­te.

Zu Be­ginn der Fahrt hat­te er im Auf­trag sei­nes Va­ters sei­nem För­de­rer und Chef Al-Kis­met­bahr ei­ni­ge wich­ti­ge Mit­tei­lun­gen ge­macht. Einen Teil da­von hat­te die­ser der Frau of­fen­sicht­lich über­setzt, doch bis auf eine Es­sens­be­stel­lung per Han­dy fie­len kei­ne wei­te­ren Wor­te. Des­halb war er froh, als sie das No­bel­vier­tel am Ran­de von Ker­da­sa er­reich­ten und er sei­ne Fahr­gäs­te bei Ka­rims An­we­sen ab­set­zen konn­te. Schnell half er das Ge­päck ins Haus tra­gen und nahm auch noch das be­stell­te Es­sen ent­ge­gen, das in die­sem Mo­ment ge­lie­fert wur­de. Nach­dem sie noch kurz den nächs­ten Tag be­spro­chen hat­ten, ver­ließ er auf­at­mend das Grund­stück.

Er wohn­te in der Nähe und war glück­lich über die­se An­stel­lung. Das ge­le­gent­li­che Chauf­fie­ren war nur ein klei­ner Teil sei­nes Jobs, war er doch an vie­len wich­ti­gen ge­schäft­li­chen Ak­ti­vi­tä­ten be­tei­ligt. In Zei­ten, die Al-Kis­met­bahr fern von Ägyp­ten ver­brach­te, lief al­les über ihn. Als Ver­bin­dungs­mann hat­te Safi weit­rei­chen­de Voll­mach­ten, und er war es ge­we­sen, der Ka­rim am Mor­gen an­ge­ru­fen hat­te. Er frag­te sich, warum sein Va­ter und Ka­rim so auf­ge­regt we­gen des al­ten Gra­bes wa­ren. Al­ler­ding gab es vie­le Ge­heim­nis­se, in die ihn die bei­den nicht ein­ge­weiht hat­ten. Viel­leicht war es auch bes­ser so, dach­te er, denn er woll­te nicht zu­rück zu dem Be­dui­nen­le­ben sei­nes Va­ters.

Safi Al-Me­schwesch hat­te sei­ne Woh­nung er­reicht. Er hol­te sich ein Bier aus dem Kühl­schrank und ließ sich in einen Ses­sel fal­len. Un­ter ei­nem genüss­li­chen Seuf­zer rann der ers­te Schluck durch sei­ne Keh­le. Die An­span­nung fiel von ihm ab, und er dach­te an den Abend, als ihn Ka­rim das ers­te Mal mit die­sem Ge­tränk in Be­rüh­rung ge­bracht hat­te.

Safi hat­te sich ge­schüt­telt, denn es er­schi­en ihm zu bit­ter, doch um Al-Kis­met­bahr nicht zu ver­let­zen, trank er die Fla­sche wi­der­wil­lig aus. Sie sa­ßen an ei­nem La­ger­feu­er am Ran­de der Wüs­te, und die Stil­le un­ter dem nächt­li­chen Ster­nen­him­mel hat­te sich be­ru­hi­gend auf sei­ne See­le ge­legt. Im Nach­hi­n­ein war ihm be­wusst ge­wor­den, dass Ka­rim Ort und Zeit mit Be­dacht ge­wählt hat­te. Es half Safi mit vie­lem zu ver­söh­nen und Tü­ren für Kom­pro­mis­se zu öff­nen.

An sei­nem zwei­und­zwan­zigs­ten Ge­burts­tag war Safi Al-Me­schwesch an ei­nem Tief­punkt sei­nes jun­gen Le­bens an­ge­kom­men. Der Kon­flikt mit sei­nem Va­ter, der schon län­ger un­ter der Ober­flä­che gär­te, es­ka­lier­te an die­sem Tag und führ­te zum Bruch mit sei­ner Fa­mi­lie. Doch nicht ge­nug da­mit, auch sei­nem Glau­ben, dem Is­lam, hat­te er ab­ge­schwo­ren. Über­stürzt ver­ließ er al­les, was er kann­te, und such­te sein Glück in der nächst­ge­le­ge­nen Stadt. Was folg­te, war ein Ab­sturz, wie er ihn nie­mals er­war­tet hat­te. Safi war mit­tel­los und zu stolz, an­de­re um Hil­fe zu bit­ten. Er schlug sich mit Ge­le­gen­heits­ar­bei­ten durch, doch da er kei­ner­lei Aus­bil­dung vor­wei­sen konn­te, war der Lohn ge­ring. Als Ka­rim ihn fand, haus­te er mit vier an­de­ren in ei­nem schmut­zi­gen Loch und hat­te kaum das Nö­tigs­te zum Le­ben. Die Ab­leh­nung, mit der er dem Freund sei­nes Va­ters be­geg­ne­te, hät­te je­den an­de­ren ver­trie­ben, doch Al-Kis­met­bahr schi­en es nur zu rei­zen, das Un­mög­li­che zu voll­brin­gen. Mit viel Ge­duld und Fein­ge­fühl ge­lang ihm die Ver­söh­nung von Va­ter und Sohn, aber eine Rück­füh­rung Sa­fis zu Al­lah war ihm nicht ge­glückt. Viel­leicht lag es dar­an, weil Safi bald be­merk­te, dass es auch nicht Ka­rims Glau­be war, doch dar­über mach­te er sich schon lan­ge kei­ne Ge­dan­ken mehr. Er ver­ehr­te mitt­ler­wei­le sei­nen Chef und hoff­te auf eine Freund­schaft, wie sie sein Va­ter mit die­sem pfleg­te. Auch wenn die bei­den Män­ner Ge­heim­nis­se ver­ban­den, in die er lie­ber nicht ein­ge­weiht wer­den woll­te, ging von ih­nen et­was aus, was ihn ma­gisch an­zog. Dar­in lag aber zu­gleich ein Grund für sei­ne Flucht.

Als äl­tes­ter Sohn soll­te er der nächs­te Füh­rer des Fa­mi­li­en­clans wer­den, und sein Va­ter be­ton­te zum wie­der­hol­ten Male, in wel­chem Sin­ne er das zu tun hät­te. Doch die Er­run­gen­schaf­ten der mo­der­nen Epo­che in­ter­es­sier­ten ihn mehr als die al­ten Sit­ten und Ge­bräu­che. Auch dass er dann die Ge­heim­nis­se er­ben wür­de, die das Ge­schlecht der Kis­met­bahr mit den Me­schwesch ver­band, mach­te ihm Angst. Safi wuss­te von den Alb­träu­men, die sei­nen Va­ter ein­mal im Jahr heim­such­ten und ihn schrei­en und wei­nen lie­ßen. Er hat­te ihn am Mor­gen nach ei­ner sol­chen Nacht be­ob­ach­tet und in dem zit­tern­den, ge­beug­ten Mann konn­te er den cha­ris­ma­ti­schen Stam­mes­füh­rer kaum wie­der­er­ken­nen. Als er sei­ne Mut­ter nach dem Grund frag­te, hat­te sie nur ge­sagt: Du wirst es noch früh ge­nug er­fah­ren. Die Trau­er und Hilf­lo­sig­keit in ih­rem Blick hat­te eine Furcht in ihm ge­weckt, die er nie wie­der los­wur­de. Doch dar­über hat­te er mit Ka­rim da­mals nicht ge­spro­chen. Safi hat­te alle Ge­dan­ken dar­an ver­drängt, weil er hoff­te, mit sei­ner Flucht von zu Hau­se die­sem Schick­sal zu ent­rin­nen.

Auf die­sen ers­ten Abend am La­ger­feu­er wa­ren noch vie­le ge­folgt. Manch­mal sa­ßen sie bis zum Mor­gen­grau­en, und Al-Kis­met­bahr sprach mit ihm über den Ge­ne­ra­tio­nen­kon­flikt, den es schon im­mer gab. Er führ­te ihn in die Denk­wei­se der Äl­te­ren ein, die das Er­run­ge­ne er­hal­ten woll­ten. Lenk­te sei­ne Ge­dan­ken auf die Wege, die sein Va­ter ge­gan­gen war, und Safi er­kann­te, dass er sich viel­leicht ähn­lich ver­hal­ten wür­de. Doch Ka­rim dräng­te ihm nichts auf. Er mach­te Pau­sen, in de­nen sie lan­ge Zeit schwei­gend die Flam­men des Feu­ers be­ob­ach­te­ten. Safi konn­te sich selbst fin­den, und er fand Ge­schmack am Bier. Ir­gend­wann war dar­aus ein Ri­tu­al ge­wor­den, das Safi mit dem Fei­er­abend ver­band. Doch mehr als eine oder zwei Fla­schen am Abend trank er nicht. Zum einen wuss­te er, dass sein Chef den Vor­rat, an dem Safi teil­ha­ben durf­te, von Deutsch­land ein­flie­gen ließ, und zum an­de­ren leg­te er kei­nen Wert dar­auf, be­trun­ken zu sein.

Bei die­sen Ge­dan­ken an­ge­kom­men, brach­te Safi die lee­re Fla­sche weg und ging zu Bett. Die nächs­ten Tage wür­den mit viel Ar­beit an­ge­füllt sein, hat­te ihm Al-Kis­met­bahr mit­ge­teilt, und er woll­te ihn un­ter­stüt­zen, so gut er konn­te.

Am nächs­ten Tag, kurz nach Son­nen­auf­gang, fuhr Safi mit dem Auto bei Ka­rims An­we­sen vor. Er traf sei­nen Chef und Sa­rah beim Früh­stück und zog sich gleich wie­der dis­kret zu­rück. Nur we­nig spä­ter wur­de er ge­ru­fen und setz­te sich, ein we­nig ner­vös we­gen der An­we­sen­heit der Frau, mit an den Tisch.

Al-Kis­met­bahr mus­ter­te ihn nach­denk­lich und frag­te mit ei­nem Stirn­run­zeln:

»Du weißt, dass wir nach Sak­ka­ra fah­ren und dort auch dei­nen Va­ter tref­fen wer­den?«

Safi war klar, dass er auf sei­ne west­li­che Klei­dung an­spiel­te, doch aus ei­nem ge­wis­sen Trotz he­r­aus hat­te er sich be­wusst so ge­klei­det.

»Ja, der Wa­gen ist voll­ge­tankt, und auch ich bin vor­be­rei­tet auf die Fahrt.«

An sei­nem Ton­fall er­kann­te Ka­rim, dass er ihn nur mit ei­ner An­wei­sung dazu brin­gen konn­te, sich an­ders an­zu­zie­hen, doch das lag nicht in sei­nem Sinn.

»Gut, dann bring bit­te noch ein paar Fla­schen Was­ser in die Kühl­box, wäh­rend wir uns be­reit ma­chen.«

»Ist schon ge­sche­hen. Ich wer­de in der Zwi­schen­zeit den Tisch ab­räu­men.«

Sa­rah war die Span­nung zwi­schen den bei­den nicht ent­gan­gen. Ka­rim über­setz­te aber nichts und sag­te zu ihr:

»Wir wer­den jetzt zu der Be­gräb­nis­stät­te fah­ren und uns dort mit dem Gra­bungs­team so­wie ei­ni­gen Re­gie­rungs­mit­glie­dern tref­fen. Ich habe um Auf­schub der Grab­öff­nung ge­be­ten, was das Team nicht ak­zep­tie­ren will. Es be­ruft sich auf die vor­lie­gen­de Ge­neh­mi­gung, doch ich hof­fe, dass ich alle Par­tei­en zu ei­ner Än­de­rung der Plä­ne be­we­gen kann.«

»Ging es in eu­rem Ge­spräch dar­um?«

Mit hoch­ge­zo­ge­nen Brau­en sah Ka­rim sie an.

»Nein, wie kommst du dar­auf?«

»Der Ton schi­en mir leicht ge­reizt, und ich dach­te des­halb ...«

Mit ei­nem leich­ten Kopf­schüt­teln stieß Ka­rim die Luft durch die Nase aus.

»Nein, das hat an­de­re Grün­de. Mein jun­ger Freund hier wird für Är­ger bei sei­nem Va­ter sor­gen, und ich hat­te ge­hofft, dass er sol­che Pro­vo­ka­tio­nen mitt­ler­wei­le un­ter­lässt«, sag­te er, ohne Safi mer­ken zu las­sen, dass es um ihn ging.

Als Sa­rah den Kopf wen­den woll­te, be­rühr­te Ka­rim sie an der Hand und gab ihr mit den Au­gen ein Zei­chen. Das Auf­leuch­ten in ih­ren Au­gen zeig­te, dass sie ihn ver­stand.

»Das Grab ist am Ran­de der Wüs­te, und es wird sehr warm wer­den. Zieh dir also bit­te et­was Ent­spre­chen­des an«, sag­te er, vom The­ma ab­len­kend.

»Aber wir ha­ben ja noch nichts be­sorgt«, ant­wor­te­te sie stirn­run­zelnd.

»Er ist auch nicht an­ders ge­klei­det, und es sind Eu­ro­pä­er in dem Team. Es wird sich kaum ei­ner dar­an sto­ßen.«

Der Sei­ten­blick auf Safi hat­te ihr ge­zeigt, was Ka­rim stör­te, und nach­denk­lich ging sie in ihr Zim­mer.

Al-Kis­met­bahr war­te­te, ge­klei­det, wie er am Vor­tag an­ge­kom­men war, an der Ein­gangs­tür, und als Sa­rah kam, hell­te sich sein Ge­sicht auf. Sie hat­te eine lan­ge bei­ge­far­be­ne Hose an, die sie bis kurz un­ter die Knie hoch­ge­krem­pelt hat­te. Die wei­ße Blu­se, de­ren wei­te Är­mel fast die El­len­bo­gen be­deck­ten, war bis oben zu­ge­knöpft, und einen eben­falls wei­ßen Schal, den sie sonst als Ac­ces­soire trug, hat­te sie tur­ban­ar­tig um den Kopf ge­schlun­gen.

»Bei der Blu­se kannst du ru­hig einen Knopf öff­nen, und nimm den Schal ab. Wenn wir ir­gend­wo län­ger in der Son­ne ste­hen, kann er nütz­lich sein, da­mit du kei­nen Son­nen­stich be­kommst, doch an die­sem Ort, den auch vie­le Tou­ris­ten auf­su­chen, brauchst du dein Haar nicht zu be­de­cken«, sag­te er mit ei­nem Lä­cheln.

Im Auto fiel Sa­rah zum ers­ten Mal auf, dass sich Safi un­wohl zu füh­len schi­en, wenn sie in sei­ne Nähe kam. Nach­denk­lich, aber dis­kret mus­ter­te sie ihn und frag­te sich, was ihn stör­te. Er schi­en ein mo­der­ner jun­ger Mann zu sein, doch ei­ni­ges an sei­nem Ver­hal­ten gab ihr Rät­sel auf. Als sie merk­te, dass er ih­ren Blick spür­te, wand­te sie sich schnell ab und be­gann ein Ge­spräch mit Ka­rim.

»Kannst du mir jetzt er­klä­ren, was es mit dem Grab auf sich hat? Ich mei­ne, au­ßer das eine Frau dar­in liegt, die dir na­he­stand.«

»Vie­les wird sich selbst er­klä­ren, wenn wir dort sind, und den Rest wer­de ich dir in den nächs­ten Ta­gen er­zäh­len.«

Er strich sich mit der Hand über die Au­gen, und sie wuss­te, dass es schwe­re Ge­dan­ken wa­ren, die ihn be­weg­ten.

»Wie willst du er­rei­chen, dass die Grab­öff­nung auf­ge­scho­ben wird?«

»Das ist nicht das ein­zi­ge Ziel. Ich möch­te auch ver­hin­dern, dass die To­ten­ru­he der Frau ge­stört wird. Und das wird ver­mut­lich das grö­ße­re Pro­blem sein«, ant­wor­te­te er ge­dan­ken­ver­lo­ren.

»Also wie?«, dräng­te sie wei­ter.

»Du wirst da­bei sein, und ich wer­de über­set­zen, was du nicht ver­stehst«, sag­te er ab­wei­send und dreh­te sei­nen Kopf zur Sei­te.

Sa­rah be­ob­ach­te­te ihn wei­ter, denn sie hoff­te, er wür­de mehr preis­ge­ben, doch bald wur­de ihr klar, dass er mit sei­nen Ge­dan­ken al­lein sein woll­te.

Sie fuh­ren bis ans süd­li­che Ende von Sak­ka­ra, und als in der Fer­ne Py­ra­mi­den und Grab­hü­gel auf­tauch­ten, be­gann Sa­rah zu ah­nen, dass Un­ge­wöhn­li­ches auf sie zu­kam. Als der Wa­gen in öst­li­che Rich­tung ab­bog und sie in den ver­win­kel­ten Stra­ßen ei­ner grö­ße­ren Ort­schaft die Ori­en­tie­rung ver­lor, be­ru­hig­te sie sich aber wie­der. Doch nur bis sie bei ei­nem Au­to­ver­leih in einen be­reit­ste­hen­den Ge­län­de­wa­gen stie­gen, den Ka­rim dann steu­er­te. Safi hat­te die Kühl­box mit den Was­ser­fla­schen um­ge­la­den, und sie fuh­ren zu­rück in Rich­tung Wüs­te. Am Ran­de des grü­nen Gür­tels, der vom Nil aus­ging, fuh­ren sie auf ei­ner Wüs­ten­stra­ße in nord­west­li­che Rich­tung. Wenn der leich­te Wind die Staub­fah­ne lich­te­te, die ihr Auto auf­wir­bel­te, konn­te sie nörd­lich im Dunst wie­der die Gra­b­an­la­gen se­hen. Sie wa­ren noch nicht sehr weit ge­fah­ren, als Ka­rim in die Wüs­te ein­bog. Sie fuh­ren in die Rich­tung der Py­ra­mi­den, die Sa­rah se­hen konn­te. Fahr­spu­ren zeig­ten, dass sie nicht die Ers­ten wa­ren, die die­sen Weg nah­men, und Sa­rahs Ver­wun­de­rung wur­de im­mer grö­ßer. Die Un­ge­wiss­heit des Be­vor­ste­hen­den mach­te ihr zu schaf­fen, doch Ka­rim hat­te eine Mau­er des Schwei­gens um sich ge­zo­gen, und Safi hat­te bis­her nur ara­bisch ge­spro­chen.

Die Fahr­spu­ren vor ih­nen hat­ten die Rich­tung er­neut ge­wech­selt und führ­ten jetzt ge­nau nach Nor­den. Die im Dunst ver­fal­len wir­ken­de Py­ra­mi­de, die sie zu­erst ge­se­hen hat­te, lag mitt­ler­wei­le hin­ter ih­nen. Nord­öst­lich kam eine grö­ße­re Py­ra­mi­de in Sicht, aber Ka­rim fuhr jetzt nach Wes­ten auf eine klei­ne Fels­for­ma­ti­on zu. Der Gra­bungs­schutt, der zu bei­den Sei­ten der Fahr­spur auf­ge­wor­fen war, zeig­te, dass vor nicht all­zu lan­ger Zeit auch hier eine Grab­su­che statt­ge­fun­den hat­te. Kurz be­vor sie den Fel­sen, der aus dem Wüs­ten­sand rag­te, er­reicht hat­ten, wur­den sie an ei­ner Ab­sper­rung ge­stoppt.

Die Wach­mann­schaft, die den Gra­bungs­be­reich vor Neu­gie­ri­gen ab­si­cher­te, woll­te sie nicht pas­sie­ren las­sen. Al-Kis­met­bahr zück­te schon sein Han­dy, um einen klä­ren­den An­ruf zu tä­ti­gen, als ein wei­te­rer Wa­gen ne­ben ih­nen stopp­te, aus dem drei für den Ort un­pas­send ele­gant ge­klei­de­te Män­ner aus­stie­gen. Zu­min­dest einen von ih­nen schi­en Al-Kis­met­bahr per­sön­lich zu ken­nen, denn die Be­grü­ßung war sehr herz­lich. Ein an­de­rer wies sich bei den Wa­chen als Re­gie­rungs­be­am­ter aus, der für die Gra­bungs­ge­neh­mi­gun­gen zu­stän­dig war, wor­auf­hin ih­nen der Zu­gang ge­stat­tet wur­de.

Die Au­tos hat­ten sie ste­hen las­sen und wa­ren zu Fuß auf eine Grup­pe Zel­te zu­ge­gan­gen, die vor der Aus­gra­bung stan­den. Dort wur­den sie schon von zwei Frau­en und vier Män­nern un­ge­dul­dig er­war­tet. Eine der Frau­en und zwei Män­ner, die of­fen­sicht­lich Eu­ro­pä­er wa­ren, wirk­ten be­son­ders zor­nig. Kaum wa­ren die Be­am­ten und Al-Kis­met­bahrs Grup­pe bei ih­nen an­ge­kom­men, er­gin­gen sie sich in ei­nem ag­gres­si­ven Wort­schwall, dem selbst die Ägyp­ter kaum fol­gen konn­ten. Nur mit Mühe ge­lang es den Re­gie­rungs­ver­tre­tern, sie zu be­ru­hi­gen, und sie wie­sen auf Ka­rim, der vor­trat und das Wort er­griff.

»Mein Name ist Ka­rim bin Azmi bin Ha­lim Al-Kis­met­bahr und es stimmt, ich bin da­für ver­ant­wort­lich, dass Ihre Gra­bung ge­stoppt wur­de«, sag­te er auf Eng­lisch.

Ei­ner der ägyp­ti­schen Män­ner des Teams er­ging sich in ei­ner ara­bi­schen Schimpf­ti­ra­de, doch Ka­rim un­ter­brach ihn in be­wusst ru­hi­gem Ton­fall.

»Bit­te spre­chen Sie Eng­lisch, mei­ne Be­glei­te­rin kann dem Ge­spräch sonst nicht fol­gen.«

Der Mann schnapp­te nach Luft und woll­te wie­der los­le­gen, wur­de aber von der Eu­ro­päe­rin un­ter­bro­chen, die ihm einen be­ru­hi­gen­den Blick zu­warf.

»Mein ver­ehr­ter Kol­le­ge will sa­gen, dass es uns un­ver­ständ­lich ist, warum Sie un­se­re Gra­bung ver­hin­dern wol­len. Und mit wel­chem Recht ...«

»Sehr ge­ehr­te Frau …«

Fra­gend sah Ka­rim sie an.

»Wal­lert, Dok­tor Sil­via Wal­lert.«

Ihr Ak­zent wies sie ein­deu­tig als Schwei­ze­rin aus.

»Sehr ge­ehr­te Frau Dok­tor Wal­lert«, be­gann Al-Kis­met­bahr er­neut, »kei­ner will Ihre Gra­bung ver­hin­dern. Ver­mut­lich wäre ich auch nicht dazu in der Lage. Im Ge­gen­teil, ich möch­te ih­nen un­ter be­stimm­ten Be­din­gun­gen so­gar mei­ne Hil­fe an­bie­ten.«

»Was für Be­din­gun­gen? Wir ha­ben die­ses Grab ent­deckt, und wir ha­ben die Ge­neh­mi­gung der Re­gie­rung zur Gra­bung er­hal­ten. Was wol­len Sie da für Rech­te an­mel­den?«, fuhr der ägyp­ti­sche Ar­chäo­lo­ge da­zwi­schen.

»Das Recht ei­nes Fa­mi­li­en­an­ge­hö­ri­gen, der die­ses Grab mit Freun­den pflegt«, mel­de­te sich eine Stim­me aus dem Hin­ter­grund.

Alle Köp­fe ruck­ten he­r­um und starr­ten den Neu­an­kömm­ling an. Nur Ka­rim nick­te ihm, ohne Er­stau­nen zu zei­gen, zu. Der breit­schult­ri­ge Be­dui­ne mach­te auf alle großen Ein­druck. Sei­nen bei­ge­far­be­nen Kaftan säum­te eine gold­gelb durch­wirk­te Bor­te, und er wirk­te un­pas­send edel für die­sen Ort. Mit ei­ner ru­hi­gen Be­we­gung lüf­te­te er den Teil des Tur­ban­tu­ches, der als Staub­schutz Mund und Nase be­deck­te, und of­fen­bar­te sei­ne mar­kan­ten Ge­sichts­zü­ge. Der gut ge­stutz­te graue Voll­bart ver­barg die vol­len Lip­pen kaum, und die kräf­ti­ge Nase ver­lieh dem Ge­sicht eine her­ri­sche Note. Die schma­len, tief lie­gen­den Au­gen zeig­ten eine Ener­gie, die je­den in ih­ren Bann zog, und als sein Blick Safi streif­te, husch­te ein trau­ri­ger Schat­ten über sein Ant­litz.

Der im­pul­si­ve Ägyp­ter, der sich als Ers­ter wie­der ge­fasst hat­te, fuhr den Be­dui­nen an:

»Wer sind Sie denn?«

Ka­rim über­nahm die Ant­wort:

»Das ist Za­rif bin Ka­dir bin Na­bil Al-Me­schwesch, ein Freund mei­ner Fa­mi­lie.«

»Und, was hat er hier zu su­chen?«

»Er will ih­nen zu­sam­men mit mir bei der Grab­öff­nung be­hilf­lich sein, wenn Sie auf un­se­re Be­din­gun­gen ein­ge­hen.«

Zor­nes­rö­te stieg in das Ge­sicht des Ägyp­ters, und er setz­te zu ei­ner neu­en Schimpf­ka­no­na­de an. Die Schwei­ze­rin leg­te be­ru­hi­gend ihre Hand auf sei­ne Schul­ter und sag­te ver­mit­telnd:

»Mein Kol­le­ge kann – wie auch ich – nicht ver­ste­hen, was Sie dazu be­rech­ti­gen soll­te, Be­din­gun­gen zu stel­len?«

»Wie mein Freund schon sag­te: mit dem Recht ei­nes Fa­mi­li­en­an­ge­hö­ri­gen, der zu­sam­men mit Za­rif Al-Me­schwesch das Grab pflegt.«

»Habt ihr was ge­nom­men oder ...«, stieß der ägyp­ti­sche Ar­chäo­lo­ge her­vor.

Der sanf­te Druck, mit dem Sil­via Wal­lert sei­ne Schul­ter be­rühr­te, ließ ihn ab­bre­chen.

»Nach al­lem, was wir bis­her fest­stel­len konn­ten, wur­de der Schacht seit dem Be­gräb­nis nicht mehr ver­än­dert«, be­gann sie mit lei­ser Stim­me zu er­läu­tern. »Und wenn wir uns nicht sehr täu­schen, ist die­ses Grab min­des­tens drei­tau­send Jah­re alt«, füg­te sie mit ei­nem tri­um­phie­ren­den Blick auf Ka­rim hin­zu.

»Drei­tau­send?«, stieß Sa­rah un­ter ei­nem Keu­chen her­vor.

Ohne dar­auf ein­zu­ge­hen, ant­wor­te­te Al-Kis­met­bahr:

»Um ge­nau zu sein, 3188 Jah­re.«

Die­se ge­naue Zeit­an­ga­be lös­te meh­re­re Re­ak­tio­nen auf ein­mal aus. Die Grup­pe der Ar­chäo­lo­gen riss die Au­gen auf und war für einen Mo­ment sprach­los. Za­rif nick­te be­stä­ti­gend mit ei­nem schmerz­li­chen Zug um den Mund, und die Be­am­ten tausch­ten er­staun­te Bli­cke. Doch Sa­rah sorg­te kurz für Auf­re­gung. Sie stöhn­te lei­se auf, und ihre Knie wur­den weich. Mit ver­dreh­ten Au­gen sack­te sie zu­sam­men.

Geis­tes­ge­gen­wär­tig war Safi, der schräg hin­ter ihr stand, her­bei­ge­sprun­gen und fing sie auf. Dok­tor Wal­lert eil­te in eins der Zel­te und kam mit ei­nem Klapp­stuhl zu­rück. Vor­sich­tig setz­ten die bei­den Sa­rah auf den Stuhl, und die Ar­chäo­lo­gin tät­schel­te ihr zart die Wan­ge.

»Hal­lo, was ist mit Ih­nen?«

Sa­rah at­me­te flach, und zit­ternd ho­ben sich ihre Li­der. Safi rann­te los, um eine Fla­sche Was­ser aus dem Auto zu ho­len. Als er zu­rück­kam, hat­te sich Sa­rahs Atem wie­der be­ru­higt, doch ihr ver­wirr­ter Blick hing an Ka­rim. Er er­wi­der­te ihn, und sie konn­te die Be­stä­ti­gung ih­rer Ge­dan­ken dar­in le­sen. Ver­nehm­lich schlu­ckend, griff sie dank­bar nach dem Be­cher in Sa­fis Hand. Als wol­le sie sich dar­an fest­hal­ten, um­klam­mer­te sie ihn mit bei­den Hän­den. Ohne Al-Kis­met­bahr aus den Au­gen zu las­sen, führ­te sie ihn an die Lip­pen und trank in has­ti­gen Zü­gen. Dann riss sie ihre Au­gen von Ka­rim los und hielt Safi den Be­cher ent­ge­gen.

»Bit­te ... noch mal.«

Safi füll­te ihn zum zwei­ten Mal und wie­der trank sie ihn, ohne ab­zu­set­zen, aus.

»Dan­ke, jetzt geht es wie­der«, sag­te sie mit fes­ter Stim­me. »Die gest­ri­ge Rei­se, die Auf­re­gung und die Hit­ze wa­ren ver­mut­lich zu viel für mich. Ent­schul­di­gung ...«

Dok­tor Wal­lert un­ter­brach sie:

»Kein Pro­blem. Haupt­sa­che, es geht Ih­nen wie­der bes­ser.«

An die an­de­ren ge­wandt, setz­te sie hin­zu:

»Wir soll­ten viel­leicht un­ter die Zelt­bahn ge­hen, wo wir sonst die Fund­stücke rei­ni­gen.«

Kei­ner hat­te et­was da­ge­gen, und schnell wa­ren aus den Zel­ten ge­nü­gend Sitz­ge­le­gen­hei­ten ge­holt, dar­un­ter in Er­man­ge­lung aus­rei­chen­der Stüh­le, ei­ni­ge Kis­ten und Ei­mer, was nie­man­den stör­te.

Die Auf­re­gung hat­te sich ge­legt, und Sil­via Wal­lert er­griff das Wort.

»Wie kom­men Sie auf die­se Jah­res­zahl? Es klang so si­cher, dass es mich selbst ver­blüff­te.«

»Ich sag­te ih­nen be­reits, dass in dem Grab eine Fa­mi­li­en­an­ge­hö­ri­ge liegt.«

»Eine? Eine Frau also? Und wie kön­nen Sie sich bei der Jah­res­zahl so si­cher sein?«

Za­rif über­nahm die Ant­wort.

»Weil er ein di­rek­ter Nach­fah­re ist. Und weil alle Kennt­nis­se über die­ses Grab von ei­ner Ge­ne­ra­ti­on zur nächs­ten wei­ter­ge­ge­ben wer­den. Bei den Kis­met­bahr und den Me­schwesch.«

»Über so vie­le Jah­re? Das ist doch un­glaub­lich.«

»Sie ken­nen sich doch mit der alt­ägyp­ti­schen Ge­schich­te gut aus«, er­griff Ka­rim wie­der das Wort.

»Ich den­ke schon. Warum?«

»Dann wis­sen Sie auch, dass Ram­ses III mehr­fach ge­gen die ly­bi­schen Stäm­me an­tre­ten muss­te. Bei die­sem Kampf im elf­ten Re­gie­rungs­jahr des Pha­ra­os, spiel­te das Volk der Me­schwesch eine be­deu­ten­de Rol­le. Za­rif Al-Me­schwesch stammt aus die­sem Volk und ist ein di­rek­ter Nach­fah­re von Pha­rao Sche­schonq I.«

Alle, selbst Safi, starr­ten Za­rif un­gläu­big an.

»Ti­tel. Phha. Ich bin nicht stolz auf mei­ne Ab­stam­mung«, stieß Za­rif zwi­schen den Zäh­nen her­vor.

Ka­rim woll­te dar­auf ein­ge­hen, doch ein Blick in die Au­gen sei­nes Freun­des ließ ihn ver­stum­men.

Dok­tor Wal­lert fass­te sich als Ers­te wie­der.

»Wol­len Sie be­haup­ten, dass es Ih­nen mög­lich ist, Ihre Her­kunft von die­sem Kö­nig lücken­los nach­zu­wei­sen?«

Za­rif lach­te lei­se auf.

»Nicht so, wie Sie das jetzt mei­nen. Mit Ge­burts­ur­kun­de oder Ähn­li­chem. Je­der erst­ge­bo­re­ne Sohn in mei­ner Ah­nen­li­nie wur­de, wenn sein Va­ter«, Za­rif such­te kurz den Blick­kon­takt zu Safi, »ihn für reif ge­nug hielt, in die Fa­mi­li­en­ge­schich­te ein­ge­führt.«

Kei­nem war die An­spie­lung ent­gan­gen, und Safi starr­te be­schämt auf sei­ne Hän­de. Ohne den an­de­ren Zeit zu ge­ben, dar­auf ein­zu­ge­hen, fuhr Za­rif fort:

»Ein Teil der In­for­ma­tio­nen, die wei­ter­ge­ge­ben wer­den, be­trifft die Ah­nen­fol­ge. Ein an­de­re hängt mit die­sem Grab zu­sam­men.«

Alle folg­ten sei­nem Blick und be­trach­te­ten den ge­öff­ne­ten Schacht. Za­rif Al-Me­schwesch sprach nicht wei­ter. Sei­ne Au­gen ruh­ten auf der Gra­bungs­stel­le, und sein Ge­sicht war schmerz­lich ver­zo­gen.

In Sil­via Wal­lert sieg­te der nüch­ter­ne For­scher­geist. Mit ei­nem spöt­ti­schen Un­ter­ton wand­te sie sich an Ka­rim.

»Und Sie? Sie kön­nen ihre Ah­nen­li­nie auch lücken­los her­be­ten?«

»Nicht so wie er. Sei­ne Stamm­vä­ter ha­ben das Nil­del­ta und die west­li­che Wüs­te nie­mals ver­las­sen. Mei­ne schon. Der Name Al-Kis­met­bahr wur­de erst im sieb­zehn­ten Jahr­hun­dert von den Me­schwesch ge­prägt. Mei­ne Vor­fah­ren hie­ßen an­ders, und es ist noch nicht so lan­ge her, dass sie nach Ägyp­ten zu­rück­ge­kehrt sind.«

Den ägyp­ti­schen Ar­chäo­lo­gen Ka­mal ver­ließ die Ge­duld.

»Und mit die­ser haar­sträu­ben­den Ge­schich­te wol­len Sie An­sprü­che auf das Grab an­mel­den?« Er lach­te ge­zwun­gen auf und wand­te sich an die Re­gie­rungs­ver­tre­ter. »Ich hof­fe nicht, dass Sie in Er­wä­gung zie­hen, auf­grund sol­cher Aus­sa­gen un­se­re Gra­bung wei­ter zu ver­zö­gern.«

Die Be­am­ten sa­hen ein we­nig rat­los von ei­nem zum an­de­ren, als Ka­rim die In­itia­ti­ve er­griff.

»Hö­ren Sie«, er strich sich kurz mit der lin­ken Hand über Stirn und Au­gen, »der Ent­decker­ruhm oder ir­gend­wel­che an­de­re Din­ge, die da­mit zu­sam­men­hän­gen, in­ter­es­sie­ren mich über­haupt nicht. Ein­zig die To­ten­ru­he der Frau und ein Bün­del aus ei­ner spä­te­ren Pe­ri­ode, das im Grab liegt, sind mir wich­tig.«

Ka­mal setz­te zu ei­ner Ent­geg­nung an, doch Al-Kis­met­bahr stopp­te ihn mit ei­ner Hand­be­we­gung und fuhr fort.

»Za­rif und ich kön­nen Sie ohne großen Auf­wand ins Grab brin­gen und al­les be­wei­sen, was bis jetzt ge­sagt wur­de. Die Be­din­gun­gen, die ich stel­le, müss­ten Sie in Be­tracht des­sen, was ich Ih­nen da­für bie­te, ver­schmer­zen kön­nen.«

Dr. Wal­lert un­ter­brach ihn.

»Warum soll­ten wir auf ir­gend­wel­che Be­din­gun­gen ein­ge­hen, wir kom­men auch so hi­n­ein und fin­den he­r­aus, was wich­tig ist?«

»Ich den­ke nicht, dass Ih­nen ge­lingt, was Sie vor­ha­ben. Glau­ben Sie mir, Sie wer­den es be­reu­en, wenn Sie mein An­ge­bot nicht an­neh­men.«

Die Über­zeu­gung, mit der er sprach, und sein Ge­sichts­aus­druck lie­ßen die For­scher nach­denk­lich wer­den.

Zum ers­ten Mal er­griff die zwei­te Frau des Gra­bungs­teams das Wort.

»Spe­zi­fi­zie­ren Sie Ihre Be­din­gun­gen.«

Un­wil­lig, aber ohne Wi­der­wor­te schau­ten ihre Kol­le­gen Ka­rim an.

»Ein in ge­fet­te­tes Le­der ein­ge­wi­ckel­tes läng­li­ches Bün­del, das am Kopf­en­de des Sar­ges auf ei­ner Tru­he liegt, ent­neh­me ich, ohne dass Sie et­was über den In­halt er­fah­ren.« Die Mie­nen der For­scher ver­fins­ter­ten sich, aber Al-Kis­met­bahr fuhr fort, ohne dass sie zu Wort ka­men. »Ich ver­si­che­re Ih­nen, dass die­ses Päck­chen nicht zum Grab­schatz ge­hört und aus ei­ner spä­te­ren Pe­ri­ode stammt. Es wür­de nur Ver­wir­rung stif­ten.«

»Und was noch?«, frag­te Sil­via Wal­lert un­ge­dul­dig.

»Die Mu­mie kön­nen Sie se­hen und von mir aus auch fo­to­gra­fie­ren. Sie wird aber von nie­mand zu For­schungs­zwe­cken be­rührt, und ich wer­de sie an ei­nem ver­steck­ten Ort zur ewi­gen Ruhe bet­ten.«

Auf­ge­reg­tes Stim­men­ge­wirr er­hob sich, doch Ka­rim sprach mit lau­ter Stim­me wei­ter.

»Sämt­li­cher For­scher­ruhm ge­hört Ih­nen. Wir wol­len nicht er­wähnt wer­den. Nein, es ist so­gar eine Be­din­gung, dass wir nicht er­wähnt wer­den. Der kom­plet­te Grab­schatz, und er ist nicht un­er­heb­lich, kann ent­nom­men wer­den. Auch der Gra­nits­ar­ko­phag und die drei dar­in ver­schach­tel­ten Holz­sär­ge in­ter­es­sie­ren mich nicht. Ich bie­te ...«

»Die Frau liegt in ei­nem Gra­nits­ar­ko­phag? Sie war also eine hoch­ge­stell­te, rei­che Ad­li­ge und liegt hier, so weit ent­fernt von dem ei­gent­li­chen Grä­ber­feld?«, stieß Dr. Wal­lert un­gläu­big her­vor.

Al-Kis­met­bahr spür­te, dass der Wi­der­stand brach und sag­te, dar­auf be­dacht, die auf­kei­men­de Stim­mung für sich zu nut­zen:

»Nein, war sie nicht. Sie war eine ein­fa­che Land­ar­bei­te­rin.« Un­gläu­big ho­ben sich die Brau­en der meis­ten Team­mit­glie­der. »Wir wür­den heu­te sa­gen: Sie war ein zi­vi­les Op­fer der Kämp­fe. Doch ge­wis­se Um­stän­de brach­ten es mit sich, dass Ram­ses III per­sön­lich einen Groß­teil der Grab­bei­ga­ben bei­steu­er­te und für eine an­ge­mes­se­ne Be­stat­tung sorg­te. Die To­desum­stän­de wur­den in Bil­dern und Hie­ro­gly­phen an den Wän­den der Grab­kam­mer ver­ewigt. Und ich woll­te Ih­nen, be­vor Sie mich un­ter­bra­chen, an­bie­ten, den mir be­kann­ten Teil ih­rer Le­bens­ge­schich­te preis­zu­ge­ben.«

Nach­denk­li­che Stil­le brei­te­te sich aus. Die Ar­chäo­lo­gen wirk­ten un­ent­schlos­sen, als der lei­ten­de Re­gie­rungs­ver­tre­ter das Wort er­griff.

»Ich fin­de das An­ge­bot und auch die Be­din­gun­gen von Ka­rim Al-Kis­met­bahr ak­zep­ta­bel, zu­mal er mei­nen Mit­ar­bei­tern glaub­haft ver­si­chert hat, dass an­dern­falls ihr Team ver­mut­lich leer aus­ge­hen wird.«

Sil­via Wal­lert blick­te lang­sam vom Spre­cher zu Za­rif und dann zu Ka­rim.

»Mei­nen Sie?«

»Ich mei­ne nicht, son­dern weiß es«, ant­wor­te­te Ka­rim. »Sie wer­den we­nig fin­den, aber viel zer­stö­ren, wenn Sie wei­ter­gra­ben wie bis­her.«

Das For­scher­team ver­stän­dig­te sich mit Bli­cken, und Dr. Wal­lert bat um et­was Zeit zur Be­ra­tung. Al-Kis­met­bahr for­der­te sei­ne Be­glei­ter und Za­rif auf, ihm zu fol­gen, und streb­te der Gra­bungs­stel­le zu, über die eine Zelt­bahn ge­spannt war, in de­ren Schat­ten sie sich nie­der­lie­ßen. Schwei­gend be­ob­ach­te­ten sie die auf­ge­regt dis­ku­tie­ren­den Ar­chäo­lo­gen. Auch die Re­gie­rungs­ver­tre­ter be­tei­lig­ten sich in­ten­siv an die­sem Ge­spräch, und es hat­te den An­schein, als spal­te sich die Run­de in zwei Grup­pen. Der im­pul­si­ve Ägyp­ter Ka­mal und sei­ne zwei eu­ro­päi­schen Kol­le­gen wir­ken sehr auf­ge­bracht, doch der Rest schi­en im­mer wie­der über­zeu­gen­de Ar­gu­men­te ins Feld zu füh­ren.

Ka­rim wand­te sich ab und blick­te sich in sei­ner Grup­pe um. Sa­rahs Au­gen hin­gen an ihm und zeig­ten im­mer noch je­nes maß­lo­se Er­stau­nen, das sie seit der Er­wäh­nung des Gra­bal­ters er­fasst hat­te. Safi ver­mied je­den Blick­kon­takt mit sei­nem Va­ter und kne­te­te ner­vös mit sei­ner lin­ken Hand die rech­te Faust. Doch der An­blick von Za­rif ließ Al-Kis­met­bahr das Schwei­gen bre­chen.

»Was ist los mein Freund? Du siehst aus, als säße dir der Tod im Nacken.«

Lang­sam, mit ge­quäl­tem Ge­sichts­aus­druck such­te Za­rif Al-Me­schwesch den Blick­kon­takt.

»War es klug, ih­nen all das zu ver­spre­chen? Un­se­re Vor­fah­ren und auch wir ha­ben ge­schwo­ren, das Grab für alle Zeit zu be­wah­ren. Was soll jetzt aus uns wer­den? Wie sol­len wir den Jah­res­tag ih­res To­des über­ste­hen, wenn wir das Grab nicht be­su­chen und ihre See­le be­sänf­ti­gen kön­nen? Wer­den wir sie da­durch nicht noch mehr ge­gen uns auf­brin­gen?«

»Ich habe be­fürch­tet, dass dich das be­schäf­tigt, und ich kann dir im Mo­ment noch kei­ne be­frie­di­gen­de Ant­wort ge­ben.« Wie­der ein­mal strich er sich mit der Hand über Stirn und Au­gen. »Aber ich sehe kei­ne an­de­re Mög­lich­keit. Wenn sie hier wei­ter­gra­ben, zer­stö­ren sie ent­we­der al­les, oder mit viel Glück ge­lan­gen sie ohne uns in die Kam­mer, was viel­leicht noch schlim­mer wäre. In je­dem Fal­le wäre das Grab für uns ver­lo­ren. Wenn ich die Tote ir­gend­wo zur ewi­gen Ruhe bet­ten kann, wer­de ich ver­su­chen, den Fluch für im­mer zu bre­chen.«

Ein Fun­ken Hoff­nung blitz­te in Za­rifs Au­gen auf.

»Meinst du, das wäre mög­lich?«

»Die Zeit ist reif, und ich be­reue, dass ich es nicht schon längst ver­sucht habe.«

Ka­rims Au­gen ruh­ten jetzt auf Sa­rah, die dem Ge­spräch ge­bannt ge­folgt war. Ihre Bli­cke tra­fen sich, und mit mü­der Stim­me sag­te er:

»Ich habe in letz­ter Zeit Ge­sprä­che ge­führt, die mich über vie­les nach­den­ken lie­ßen, Er­in­ne­run­gen aus­ge­gra­ben, die mir zeig­ten, wie viel ich in mei­nem Le­ben falsch ge­macht habe. Es ist an der Zeit, ei­ni­ges zu rich­ten.«

Sa­rah schluck­te, hielt aber sei­nem Blick stand. Mehr­fach öff­ne­te sie den Mund und woll­te um Auf­klä­rung der vie­len Rät­sel bit­ten, doch im­mer wie­der schreck­te sie vor den er­war­te­ten Ant­wor­ten zu­rück. Schwei­gen senk­te sich wie­der über ihre Grup­pe, und kei­ner be­merk­te, wie Sil­via Wal­lert sich nä­her­te. Erst als sie an­ge­spro­chen wur­den, schreck­ten Ka­rim und sei­ne Freun­de aus ih­ren Ge­dan­ken hoch.

»Kom­men Sie bit­te wie­der zu uns? Wir ha­ben uns ent­schlos­sen, Ihr An­ge­bot an­zu­neh­men, und möch­ten ger­ne die Ein­zel­hei­ten be­spre­chen.«

Alle er­ho­ben sich, doch bis sie bei den an­de­ren wa­ren, fiel kein Wort. Ka­rim wirk­te er­leich­tert, Sa­rah nach­denk­li­cher denn je, Za­rif im­mer noch be­drückt, und Safi führ­te einen in­ne­ren Kampf, den nur Al-Kis­met­bahr ver­stand. Ka­mal schi­en von all­dem nichts zu be­mer­ken und kam zur Sa­che, be­vor sie sich set­zen konn­ten.

»Wir sind nicht ganz ei­ner Mei­nung, doch wir las­sen uns auf Ihre Be­din­gun­gen ein. Also füh­ren Sie uns jetzt ins Grab!«

»Nicht ganz so schnell mein Herr. Zu­erst möch­te ich das schrift­lich von Ih­nen und der zu­stän­di­gen Re­gie­rungs­stel­le. Wei­ter­hin will ich die Ge­neh­mi­gung, dass ich die Mu­mie au­ßer Lan­des brin­gen darf.«

Zum ers­ten Mal woll­te der lei­ten­de Re­gie­rungs­be­am­te wi­der­spre­chen, doch Ka­rim ließ kei­nen Ein­wand zu.

»Dar­über ver­han­de­le ich nicht, es ist Be­din­gung! Kei­ner wird er­fah­ren, wo­hin die Tote ge­bracht wird, und ich neh­me an, Sie wis­sen, wel­che Mit­tel mir zur Ver­fü­gung ste­hen.«

Mit hoch­ro­tem Kopf senk­te der Mann die Li­der und schloss den Mund.

»Bis über­mor­gen habe ich al­les Not­wen­di­ge or­ga­ni­siert. Dann wer­den wir wie­der hier sein, und ich er­war­te Sie mit den un­ter­schrie­be­nen Do­ku­men­ten. Da­mit Sie si­cher­ge­hen, dass ich kei­ne Ein­wän­de ge­gen den Wort­laut habe, kön­nen Sie mir die Ent­wür­fe vor­her zu­kom­men las­sen.« Er überg­ab Sil­via Wal­lert sei­ne Vi­si­ten­kar­te. »An un­ten ste­hen­de Fax­num­mer oder E-Mail-Ad­res­se kön­nen Sie al­les sen­den.«

Die Um­ste­hen­den schnapp­ten nach Luft, denn er war jetzt sehr forsch und for­dernd auf­ge­tre­ten.

»Was ist? Ich wer­de Sie dann in­ner­halb von Stun­den in die Grab­kam­mer brin­gen. Den­ken Sie, dass es schnel­ler geht, wenn Sie jetzt wei­ter­gra­ben? Oder ha­ben Sie Angst, dass ich das Grab bis da­hin lee­re? Ver­dop­peln Sie die Wa­chen, wenn Sie sich auf die­se Wei­se si­che­rer füh­len.«

Mit mür­ri­schen Ge­sich­tern gab das Gra­bungs­team klein bei, doch der lei­ten­de Re­gie­rungs­be­am­te schi­en mehr als nur ver­är­gert. Als sich die Grup­pen trenn­ten, trat in ei­nem güns­ti­gen Au­gen­blick der Be­am­te, den Ka­rim so herz­lich be­grüßt hat­te, an ihn he­r­an.

»War es wirk­lich not­wen­dig, mei­nen Chef so zu rei­zen?«

»Es tut mir leid, mein Freund, aber ich muss­te die­sem Ka­mal den Wind aus den Se­geln neh­men. Er war da­bei, al­les wie­der zu kip­pen. Du kannst dei­nem Boss sa­gen, dass ich in den nächs­ten Ta­gen dem Mi­nis­te­ri­um für ägyp­ti­sche Al­ter­tü­mer eine au­ßer­or­dent­lich groß­zü­gi­ge Spen­de zu­kom­men las­se. Das soll­te ihn et­was be­schwich­ti­gen. Au­ßer­dem sind die Grab­bei­ga­ben wirk­lich eine klei­ne Sen­sa­ti­on und wer­den sich im Mu­se­um als ein wei­te­rer Ma­gnet er­wei­sen.«

»Aber wie sol­len wir der Öf­fent­lich­keit das Ver­schwin­den der Mu­mie er­klä­ren? Ich ver­mu­te, das wird auch sei­ne größ­te Sor­ge sein. Wenn die For­scher ih­ren Fund pu­blik ma­chen und die Bei­ga­ben aus­ge­stellt wer­den, kom­men mit Si­cher­heit Fra­gen nach der To­ten auf.«

Al-Kis­met­bahrs Blick rich­te­te sich kurz nach in­nen, aber schon we­nig spä­ter zeig­te ein Auf­leuch­ten sei­ner Au­gen, dass ihm eine Lö­sung ein­ge­fal­len war.

»Ich ver­mu­te, die Ar­chäo­lo­gen wer­den ein oder zwei Tage brau­chen, um al­les zu fo­to­gra­fie­ren und zu do­ku­men­tie­ren. Dann soll­ten wir die Ber­gung der Mu­mie vor den Au­gen der Me­di­en vor­neh­men. Al­les Wei­te­re wer­de ich or­ga­ni­sie­ren.«

Fra­gend sah ihn sein Ge­sprächs­part­ner an, doch Ka­rim schüt­tel­te nur den Kopf.

»Es ist bes­ser, wenn ihr nichts dar­über wisst, und jetzt geh wie­der zu dei­nen Kol­le­gen, sie mus­tern uns schon skep­tisch.«

Der Be­am­te nick­te, dreh­te sich um und woll­te ge­hen, doch Al-Kis­met­bahr griff schnell nach sei­nem Arm und flüs­ter­te ihm mit un­ter­drück­ter Stim­me zu:

»Be­rich­te dei­nem Boss von un­se­rem Ge­spräch. Stell es so hin, als hät­test du mir große Vor­hal­tun­gen ge­macht und ich wür­de jetzt nach­ge­ben. Du hast er­reicht, dass die Mu­mie für kur­ze Zeit in mei­ner An­we­sen­heit un­ter­sucht wer­den darf. Sag ihm aber auch, dass nichts ohne mein Bei­sein ge­schieht und ich den Trans­port und al­les an­de­re or­ga­ni­sie­re.«

Ein ver­ständ­nis­lo­ser Blick war die Ant­wort, doch mit ei­ner auf­for­dern­den Ges­te ver­ab­schie­de­te sich Ka­rim und folg­te sei­nen Freun­den zum Auto.

Auf dem Rück­weg wa­ren zu­nächst nur we­ni­ge Wor­te ge­fal­len. Safi hat­te dar­um ge­be­ten, bei sei­nem Va­ter blei­ben zu dür­fen, und Al-Kis­met­bahr hat­te nur zu ger­ne zu­ge­stimmt. Der Zeit­punkt schi­en güns­tig, um die Ban­de zwi­schen Va­ter und Sohn wie­der en­ger zu knüp­fen. Der Ge­län­de­wa­gen war beim Ver­mie­ter ab­ge­ge­ben, und Sa­rah saß auf dem Bei­fah­rer­sitz des BMW. Sie grü­bel­te im­mer noch über das Ge­hör­te, als Ka­rim das Schwei­gen end­lich brach.

»Wie denkst du jetzt über mich und mei­ne Ge­schich­te?«

Sie brauch­te einen Au­gen­blick, um in die Wirk­lich­keit zu­rück­zu­kom­men, und mit schlep­pen­der Stim­me kam ihre Ant­wort.

»Ich bin ver­wirr­ter denn je. Kann kaum fas­sen, was ich heu­te er­fah­ren habe, und hof­fe, dass du mir al­les er­klärst.«

Ihre Au­gen such­ten die von Ka­rim, doch der blick­te kon­zen­triert auf die Stra­ße.

»Stimmt es, was ich jetzt ver­mu­te?«

»Wenn die­se Ver­mu­tung einen un­un­ter­bro­che­nen Er­in­ne­rungs­strang an ein Le­ben seit je­ner Zeit be­trifft, dann ja«, sag­te er nüch­tern.

»3188 Jah­re?«

»Und noch ei­ni­ge mehr. Rech­ne mei­ne Zeit in Chi­na und Ja­pan dazu, dann, nach mei­nem er­neu­ten Er­wa­chen, eine län­ge­re Zeit­span­ne wäh­rend mei­ner Rei­se von Chi­na hier­her. Ach so, und ver­giss die paar Jah­re nicht, die ich als Gün­ter Kauf­mann in Deutsch­land ge­lebt habe.«

Sa­rah schluck­te.

»Wie vie­le Jah­re zu­sam­men­ge­rech­net?«

Das ers­te Mal seit den Ge­sprä­chen an der Gra­bungs­stel­le blick­te er sie kurz an. Die Lee­re und Trau­er in sei­nen Au­gen er­schreck­te Sa­rah zu­tiefst.

»Ich kann es dir nicht ge­nau sa­gen, denn ir­gend­wann habe ich den Über­blick ver­lo­ren. Als ich wie­der zu mir kam, er­war­te­te ich, in mei­nem al­ten Le­ben zu­rück zu sein, doch ich be­fand mich an der glei­chen und doch nicht glei­chen Stel­le. Die Land­schaft war nur we­nig ver­än­dert, aber es gab kei­nen Weg mehr, kei­ne Spur vom Klos­ter, we­der Rui­nen noch an­de­res deu­te­te auf Le­ben in die­ser Ge­gend hin.«

Die Nüch­tern­heit, mit der er sprach, ver­stärk­te Sa­rahs Be­klem­mung, aber aus Furcht, er kön­ne wie­der auf­hö­ren mit sei­ner Ge­schich­te, wag­te sie nicht, da­von zu spre­chen.

»Ziel­los wan­der­te ich durch die Ge­gend und merk­te bald, dass ich noch wei­ter in die Ver­gan­gen­heit zu­rück­ge­ra­ten war. Nichts von dem, was ich von Chi­na kann­te, gab es schon. Ich ver­ließ das Land und wan­der­te durch Ti­bet, das zu je­ner Zeit nur sehr dünn be­sie­delt war. Lan­ge hielt es mich aber nicht in die­ser Ge­gend. Ru­he­los streif­te ich kreuz und quer durch ganz Asi­en. Der sie­ben­jäh­ri­ge Er­neue­rungs­zy­klus setz­te wie­der ein, und ich wag­te es nicht, ir­gend­wo sess­haft zu wer­den. Drei Zy­klen bei si­bi­ri­schen No­ma­den und drei bei Be­woh­nern des lao­ti­schen Hoch­lan­des zähl­ten zu den län­ge­ren Pe­ri­oden. Meist ver­ließ ich die Men­schen, bei de­nen ich ver­weil­te, spä­tes­tens mit der zwei­ten Er­neue­rung. Nur ein­mal hielt ich mich fast drei­ßig Jah­re an ei­nem Ort auf. Eine Frau im heu­ti­gen In­di­en hat­te mein Herz er­obert, doch auch die­se Ehe blieb kin­der­los, was un­ser Zu­sam­men­le­ben be­las­te­te. Die Ver­än­de­run­gen, de­nen ich un­ter­lie­ge, schei­nen mich zeu­gungs­un­fä­hig ge­macht zu ha­ben.«

Die Er­wäh­nung ei­ner wei­te­ren Frau in sei­nem Le­ben ver­setz­te Sa­rah einen Stich ins Herz. Ob­wohl sie wuss­te, dass eine end­los er­schei­nen­de Zeit­span­ne seit­dem ver­gan­gen war, frag­te sie:

»Hast du sie auch so ge­liebt wie Ka­zu­ko?«

Die Art, wie sie frag­te, ver­an­lass­te Ka­rim, kurz den Blick­kon­takt zu su­chen. Durch sei­ne Le­bens­er­fah­rung er­kann­te er, was im Ent­ste­hen war, und schüt­tel­te ir­ri­tiert den Kopf.

»Nicht so, wie sie es ver­dient hät­te. Ich er­tapp­te mich im­mer wie­der da­bei, wie ich ins­ge­heim Ver­glei­che zu Ka­zu­ko an­stell­te, was sie ver­mut­lich spür­te. Erst als es zu spät war, er­kann­te ich mei­ne Dumm­heit und woll­te sie kor­ri­gie­ren, doch dann konn­te ich nichts mehr ver­hin­dern.«

»Sie hat dich ver­las­sen?«, frag­te Sa­rah mit hoch­ge­zo­ge­nen Brau­en.

»Nicht so, wie du jetzt denkst. Das wäre ihr nie­mals in den Sinn ge­kom­men. Eine schwe­re Krank­heit hat sie mir weg­ge­nom­men, und ich konn­te nichts da­ge­gen tun, weil sie es vor mir ver­heim­lich­te.«

Ka­rim schüt­tel­te trau­rig den Kopf, und Sa­rah merk­te, dass es wie­der Er­in­ne­run­gen wa­ren, die ihm zu schaf­fen mach­ten.

»Aber ich will dir die Ge­schich­te in ih­ren gro­ben Ab­läu­fen er­zäh­len, da­mit du die Zu­sam­men­hän­ge bes­ser ver­stehst.«

Er sam­mel­te sich kurz, hol­te tief Luft und be­gann mit lei­ser Stim­me:

»Ich hat­te, von Bur­ma kom­mend, den in­di­schen Sub­kon­ti­nent schon ei­ni­ge Jah­re ziel­los durch­wan­dert und hör­te im­mer wie­der von ei­nem einst­mals großen Volk im Nord­wes­ten. Vie­le Le­gen­den rank­ten sich um die­se Kul­tur, doch man sprach da­von, dass ihre großen Städ­te nur noch Rui­nen wä­ren. Mein In­ter­es­se war ge­weckt, und ich schlug die be­sag­te Rich­tung ein. Süd­öst­lich vom In­dus fand ich die ers­ten ver­fal­le­nen Sied­lun­gen. In ei­nem brei­ten Flus­stal, das nur noch von ei­nem klei­nen Rinn­sal durch­flos­sen wur­de, traf ich auf Nach­kom­men je­nes Vol­kes. Es wa­ren ein­fa­che Bau­ern und Vieh­hir­ten, die nur noch ein Schat­ten der vor­mals großen Kul­tur wa­ren. Sie er­zähl­ten mir, dass zu den Zei­ten, als die großen Sied­lun­gen be­wohnt wa­ren, das Flüss­chen mehr Was­ser führ­te als der Fluss im Nord­wes­ten, der In­dus. Erd­be­ben und Erd­rut­sche im Hi­ma­la­ja, dem Quell­ge­biet des Flus­ses, lei­te­ten das Was­ser in an­de­re Flüs­se um. Aus­blei­ben­de Re­gen­fäl­le ta­ten ein Üb­ri­ges, die Be­wäs­se­rung der aus­ge­dehn­ten Fel­der ver­sag­te, und die Be­woh­ner des dicht be­sie­del­ten Ge­bie­tes, die nicht mehr er­nährt wer­den konn­ten, wan­der­ten ab. Heu­te durch­zie­hen nur von Men­schen ge­schaf­fe­ne Kanä­le das Ge­biet, doch sie kön­nen den großen Fluss von einst nicht er­set­zen.«

Eine laut hu­pen­de Li­mou­si­ne über­hol­te sie und riss Ka­rim kurz aus sei­nen Ge­dan­ken. Er be­schleu­nig­te wie­der, hat­te er doch den Ver­kehr für kur­ze Zeit au­ßer Acht ge­las­sen.

»Aber ich schwei­fe schon wie­der ab. Ich woll­te dir ja von Sis­wa­ti er­zäh­len. Als ich sie das ers­te Mal traf, war sie ge­ra­de sieb­zehn Jah­re alt. Ihr Va­ter woll­te sie mit ei­nem Bau­ern­sohn aus der Nach­bar­schaft ver­hei­ra­ten, ei­nem gro­ben Men­schen, der nicht nach Sis­wa­tis Ge­schmack war. Sie floh von zu Hau­se, und ich stol­per­te fast über das Häuf­lein Elend, als ich mich dem Dorf nä­her­te. Schluch­zend saß sie un­ter ei­nem Baum und wuss­te nicht mehr wei­ter. Ihr Va­ter kam mit Freun­den, um sie zu­rück­zu­ho­len. Sie schrie, sprang auf und lief mir di­rekt in die Arme.«

Ein Lä­cheln zeig­te sich in Al-Kis­met­bahrs Ge­sicht.

»So lern­te ich sie ken­nen, die Sanf­te vom Gh­ag­gra-Ha­kra-Fluss. Mit ei­ni­ger Mühe konn­te ich ih­ren Va­ter da­von ab­brin­gen, sie zwangs­zu­ver­hei­ra­ten. Da er kei­ne Söh­ne hat­te, soll­te ich zum Aus­gleich für eine Wei­le bei der Fa­mi­lie blei­ben, um auf den Fel­dern zu hel­fen. Dar­aus wur­den dann 29 Jah­re. Sis­wa­ti wur­de mei­ne Frau, und nach dem Tod ih­rer El­tern führ­ten wir ge­mein­sam die Land­wirt­schaft fort.«

Sa­rah hat­te mit ei­nem kla­gen­den Ton aus­ge­at­met, und er sah sie kurz an. Schnell senk­te sie die Li­der, und Ka­rim wuss­te nicht, was er da­von hal­ten soll­te. Schul­ter­zu­ckend fuhr er fort:

»Doch der Rei­he nach: Im ers­ten Jahr ar­bei­te ich wie ein Ta­ge­löh­ner bei der Fa­mi­lie. Sis­wa­ti war über­mü­tig wie ein jun­ges Foh­len und such­te im­mer wie­der mei­ne Nähe. Lang­sam lern­ten wir uns ken­nen und lie­ben, ohne dass ihre El­tern et­was da­von be­merk­ten. Nach ei­nem Jahr dräng­te ihr Va­ter, dass sie nun end­lich einen Mann neh­men müs­se, denn sonst wäre sie bald zu alt da­für. Bei ei­nem Ge­spräch die­ser Art er­öff­ne­te sie ihm, dass sie nur mich hei­ra­ten wür­de, und mit großen Au­gen sah er uns an. Es war ihm wirk­lich ent­gan­gen. Mitt­ler­wei­le wa­ren wir aber bei der Ar­beit ein gut ein­ge­spiel­tes Team und er­gänz­ten uns her­vor­ra­gend. Nach kur­zem Zö­gern stimm­te er zu, und so wur­de ich Teil der Fa­mi­lie.«

Ka­rim schüt­tel­te trau­rig den Kopf.

»Es hät­te al­les per­fekt sein kön­nen. Ich hat­te wie­der eine Auf­ga­be, die mich aus­füll­te, eine Frau, die mich von Her­zen lieb­te. Ei­gent­lich viel zu jung und un­ge­bär­dig für mich, doch eben­so ein­fühl­sam und hin­ge­bungs­voll. Aber ir­gend­wie hing ein Teil von mir im­mer noch in der Ver­gan­gen­heit. Ich konn­te mit Ka­zu­ko ein­fach nicht ab­schlie­ßen. Die Ver­bin­dung mit Sis­wa­ti blieb wie­der kin­der­los, und nach ei­ni­gen Jah­ren dräng­ten sich Schat­ten in un­ser Le­ben. Ich mach­te den­sel­ben Feh­ler, den ich schon ein­mal ge­macht hat­te, in­dem ich mich in die Ar­beit ver­grub und mei­ne Frau ver­nach­läs­sig­te. Sis­wa­ti litt dar­un­ter, er­trug es aber klag­los. Dies­mal er­kann­te ich mein Fehl­ver­hal­ten von selbst und ver­such­te es zu än­dern. Ob mir das ganz ge­lang, be­zweifle ich, doch Sis­wa­ti blüh­te wie­der auf. Es folg­ten ei­ni­ge glück­lich Jah­re. Ich ließ mir einen Bart wach­sen, um äl­ter zu er­schei­nen. Das ge­lang auch sehr gut, da Kopf und Bart­haar seit Ka­zu­kos Tod, fast voll­stän­dig er­graut wa­ren. Nach­dem ich mir den Schä­del noch lan­ge Zeit kurz ge­scho­ren hat­te, ließ ich die Haa­re jetzt wach­sen. Ei­ni­ge vor­ge­täusch­te Weh­weh­chen ver­voll­stän­dig­ten den Ein­druck, und kei­ner schi­en et­was zu be­mer­ken. Sis­wa­ti ver­fiel zu­neh­mend, und mit Mit­te vier­zig schlepp­te sie sich nur noch da­hin. Sie klag­te nicht, und auf mei­ne Fra­gen fand sie im­mer plau­si­ble Er­klä­run­gen. Als mich das nicht mehr be­ru­hig­te, ver­such­te ich ver­geb­lich ih­ren Kör­per zu er­kun­den. Ich glaub­te die­se Fä­hig­keit ver­lo­ren zu ha­ben, da ich al­les in die­ser Rich­tung ver­nach­läs­sigt hat­te, doch es hat­te einen an­de­ren Grund.«

Ka­rim mach­te eine kur­ze Pau­se, und Sa­rah wag­te nicht, die Stil­le zu durch­bre­chen.

»Ei­nes Ta­ges kam ich vom Feld und fand sie, be­wusst­los im Haus auf dem Bo­den lie­gend. Ich trug sie auf un­ser La­ger und ver­such­te sie zu we­cken, doch ohne Er­folg. In mei­ner Ver­zweif­lung un­ter­nahm ich noch ein­mal den Ver­such, ih­ren Kör­per zu er­kun­den, und dies­mal ge­lang es mir. Was ich he­r­aus­fand, traf mich hart. Sie hat­te Krebs. Ihr gan­zer Kör­per wur­de von den wu­chern­den Zel­len zer­fres­sen. Kurz ent­schlos­sen ver­such­te ich mich in der Hei­lung, was von An­fang an zum Schei­tern ver­ur­teilt war. Zum einen war die Krank­heit schon zu weit fort­ge­schrit­ten. Zum an­de­ren hat­te ich das Trai­ning die­ser Fä­hig­kei­ten stark ver­nach­läs­sigt. Das Ein­zi­ge, was ich er­reich­te, war, dass sie er­wach­te. Er­schro­cken blick­te sie mich an und frag­te:

›Hast du es he­r­aus­ge­fun­den?‹

Ich nick­te nur, und trau­rig senk­te sie die Li­der.

›Das woll­te ich nicht, und die Stim­men in mir ha­ben es mir auch im­mer ver­bo­ten, mit dir dar­über zu re­den.‹

›Was für Stim­men?‹, frag­te ich un­ge­hal­ten.

›Die, die zu mir spre­chen, seit wir uns das ers­te Mal be­geg­net sind. Sie hel­fen mir, aber sie le­gen mir auch Ver­bo­te auf. Und eins da­von war, nicht mit dir über die Krank­heit zu spre­chen.‹

Das ver­stand ich nicht und ...«

»Die Stim­men in ihr?«, frag­te Sa­rah mit an­ge­spann­ter Stim­me.

Ka­rim nick­te.

»Ja, als du ges­tern von den Stim­men in dir sprachst, kam mir der­sel­be Ge­dan­ke. Des­halb bin ich mir auch si­cher, dass ich jetzt lang­sam der Lö­sung al­ler Rät­sel nä­her kom­me.«

»Aber ich ver­ste­he sie nicht. Es ist wie ein Flüs­tern und Rau­nen. Un­ver­ständ­lich, un­deut­lich.«

»Und den­noch las­sen sie dich Din­ge tun, die du ei­gent­lich nicht kannst, und Sa­chen wis­sen, von de­nen du noch nie ge­hört hast«, sag­te er mit ei­nem fra­gen­den Sei­ten­blick.

»Ja, aber ...«

»Sis­wa­ti ging es am An­fang ähn­lich, doch spä­ter konn­te sie sich mit ih­nen – wie sie sag­te – wie mit le­ben­den Men­schen un­ter­hal­ten.«

Sa­rah at­me­te ge­räusch­voll ein und aus.

»Das macht mir Angst.«

»Was ich gut ver­ste­he, aber ich weiß nicht, was ich da­ge­gen tun könn­te. Doch viel­leicht soll­test du ler­nen, sie zu ver­ste­hen, und al­les fin­det ein Ende. Viel­leicht habe ich ja end­lich ge­nug ge­lernt.«

»Ge­nug ge­lernt?«

»Ja, denn ums Ler­nen geht es an­schei­nend. Als ich Sis­wa­ti frag­te, warum ihr die Stim­men ver­bo­ten hät­ten, mit mir dar­über zu spre­chen, sag­te sie:

›Da­mit du lernst, lernst zu ver­ste­hen.‹

Doch ich ver­stand gar nichts. Ich dach­te, der Krebs hät­te auch ih­ren Ver­stand an­ge­grif­fen und sie hal­lu­zi­nie­re viel­leicht. Erst viel spä­ter be­griff ich, dass dem nicht so war. Mit al­ler Kraft ver­such­te ich, ihr Lei­den zu min­dern. Am An­fang woll­te sie sich da­ge­gen sper­ren, doch dann gab sie lä­chelnd nach und sag­te:

›Es wird dir nicht ge­lin­gen. Du kannst es nur hi­n­aus­zö­gern, aber viel­leicht ist das auch gut so, denn da­bei kannst du viel­leicht doch noch et­was ler­nen.‹

Die­se Ein­stel­lung mach­te mich wü­tend, und im Ge­hei­men ver­wünsch­te ich die Stim­men in ihr. Sie schi­en es zu wis­sen, lach­te dar­über und be­gann mir vie­les zu er­klä­ren. In der Zeit, als ich sie ver­nach­läs­sigt hat­te, war es ihr ge­lun­gen, die Stim­men zu ver­ste­hen. Sie konn­te Fra­gen stel­len und er­hielt fast im­mer eine Ant­wort. Auch über mei­ne Ver­gan­gen­heit un­ter­rich­te­ten sie die Stim­men. Vie­les von Ka­zu­ko hat­te ich vor ihr ver­heim­licht, doch sie er­zähl­ten es ihr. Sie wuss­te Din­ge, die ich ihr nie­mals ver­ra­ten hat­te, und das ver­un­si­cher­te mich zu­se­hends. Sie lern­te auch viel von ih­nen: Ver­ständ­nis, Hin­ga­be und ei­ni­ges mehr, was mir zu die­ser Zeit in vie­len Si­tua­tio­nen fehl­te. Als die Krank­heit sich ein­stell­te, hal­fen sie ihr, den Schmerz aus­zu­blen­den und al­les mit Ge­duld zu er­tra­gen. Sie sag­te mir, es wäre kei­ne Last für sie ge­we­sen. Im Ge­gen­teil, sie war dank­bar für die Jah­re mit mir. In den we­ni­gen ver­blei­ben­den Mo­na­ten er­schi­en sie glück­li­cher denn je. Im­mer wie­der er­zähl­te sie mir, wie schön es für sie war, als ich mich be­sann und den Weg zu­rück zu ihr fand. Im Lau­fe die­ser Ge­sprä­che be­griff ich, dass es un­sin­nig ist, im Ver­gan­ge­nen ver­haf­tet zu blei­ben. Dass die Zeit, die man da­mit ver­bringt, ver­lo­re­ne Zeit ist, et­was, was man nie­mals wie­der auf­ho­len kann. Vie­le Jah­re, die ich mit Sis­wa­ti hät­te glück­lich sein kön­nen, habe ich so ver­geu­det. Und ob­wohl ich das be­grif­fen hat­te, habe ich spä­ter im­mer wie­der ähn­li­che Feh­ler ge­macht.«

Sa­rah blick­te nach­denk­lich auf ihre Hän­de.

»Was ha­ben ihr die Stim­men noch ge­sagt? Es wa­ren doch ver­schie­de­ne?«

Al-Kis­met­bahr nick­te.

»Ja, es scheint eine gan­ze Grup­pe ge­we­sen zu sein, und sie ha­ben über vie­les mit ihr ge­spro­chen, doch den Grund für ihr Vor­han­den­sein habe ich nicht er­kannt. Das war es doch, was du wis­sen woll­test, oder?«

»Hm«, stieß Sa­rah lei­se her­vor. »Ei­ner­seits ma­chen mir die Stim­men Angst. An­de­rer­seits seh­ne ich mich nach ih­nen. Ich habe das Ge­fühl, sie ge­hö­ren zu mir. Aber wenn ich höre, dass sie Sis­wa­ti nicht ge­hol­fen ha­ben und sie dräng­ten, ihre Krank­heit zu ak­zep­tie­ren, ja sie so­gar vor dir zu ver­heim­li­chen, dann möch­te ich sie am liebs­ten wie­der los­wer­den.«

»Ich gehe da­von aus, dass dir das nicht ge­lin­gen wird. Vie­le, mit de­nen ich nä­her be­kannt wur­de, ha­ben mir von den Stim­men er­zählt, und ich schei­ne der Grund für ihr Auf­tre­ten zu sein. Es tut mir leid, dass du da­mit be­las­tet wirst, an­de­rer­seits hof­fe ich, da­durch end­lich den ewi­gen Kreis­lauf durch­bre­chen zu kön­nen. Han Li­ang Tian, der alte Abt von Shao­lin, sprach als Ers­ter von ih­nen. Ihm hat­ten sie be­foh­len, mich aus­zu­bil­den. Mir al­les bei­zu­brin­gen, was er wuss­te. Der Schmied von Sen­dai er­wähn­te sie auch. Ihn hat­ten die Stim­men ver­an­lasst, mich auf der Ban­dai-Missi­on zu be­glei­ten. Da­mals habe ich nicht wei­ter dar­auf ge­ach­tet, denn ge­ra­de der Schmied wähl­te oft kau­zi­ge Er­klä­run­gen für sein Ver­hal­ten. Doch im­mer, wenn die Stim­men ver­stärkt auf­tra­ten, habe ich grund­le­gen­de Er­kennt­nis­se ge­won­nen. Auch heu­te, bei der Gra­bungs­stel­le, ist mir durch die Ge­sprä­che, die ich in letz­ter Zeit mit dir ge­führt habe, et­was be­wusst ge­wor­den. Ich muss einen der gra­vie­rends­ten Feh­ler, den ich je­mals be­gan­gen habe, kor­ri­gie­ren.«

»Was für einen Feh­ler?«, frag­te Sa­rah und blick­te ge­spannt in Ka­rims Ge­sicht.

»Du wirst es er­fah­ren, aber nicht jetzt! Ich muss heu­te un­be­dingt noch ei­ni­ges in die Wege lei­ten, und da­bei kannst du mich lei­der nicht be­glei­ten. Die Män­ner, die ich auf­su­chen muss, sind streng­gläu­bi­ge Mus­li­me und in der Ge­gen­wart ei­ner Frau wür­den sie nie­mals mit mir über die Din­ge ver­han­deln, die ich brau­che.«

»Weil ich noch kei­ne ent­spre­chen­de Klei­dung habe?«

»Nein, weil ih­nen an­de­re Wert­vor­stel­lun­gen ei­gen sind. Im Grun­de wie­der­strebt es mir sie ein­zu­be­zie­hen, doch die der­zei­ti­gen Um­stän­de las­sen mich kei­nen bes­se­ren Weg er­ken­nen.«

Sa­rah zog die Brau­en hoch und blick­te Ka­rim skep­tisch an.

»Viel­leicht ...«

»Nein Sa­rah! Ich wer­de nicht mit dir dis­ku­tie­ren und dir auch nichts wei­ter dar­über sa­gen.«

Nach ei­nem Blick in sei­ne Au­gen schüt­tel­te Sa­rah mit ei­nem ent­täusch­ten Ge­sichts­aus­druck den Kopf. Wie­der ein­mal war es ihr, als ken­ne sie ihn schon vie­le Jah­re, und die Un­um­stöß­lich­keit sei­ner Mei­nung war ihr be­wusst.

Al-Kis­met­bahr hol­te tief Luft, als er merk­te, dass er in alte Ge­wohn­hei­ten ver­fiel.

»Wenn es dir recht ist, wür­de ich dich ger­ne bei ei­ner gu­ten Freun­din ab­set­zen. Sie ist die Frau von Ha­ma­di Fa­t­hal­lah, dem be­freun­de­ten Re­gie­rungs­be­am­ten aus der heu­ti­gen Grup­pe. Nailah Fa­t­hal­lah hat ein gut ge­hen­des Ge­schäft in Kai­ro. Sie kann jede Frau in je­der ge­wünsch­ten Form ein­klei­den, und zur Ent­span­nung gibt es auch noch ein Café. Män­ner wirst du dort nicht fin­den, aber ich den­ke, Nailah wird dir ge­fal­len.«

»Soll ich mir dort die Klei­dung be­sor­gen, von der du sprachst?«

»Nur, wenn du willst. Lass dich von ihr be­ra­ten, wenn dir nichts ge­fällt, kaufst du nichts.«

In der Zwi­schen­zeit wa­ren sie schon in Kai­ro an­ge­langt und fuh­ren ge­ra­de über eine Brücke, um auf die an­de­re Sei­te des Nils zu kom­men. Kur­ze Zeit spä­ter hielt Ka­rim am Ran­de ei­ner be­leb­ten Ein­kaufs­s­tra­ße. Nach we­ni­gen Me­tern Fuß­weg lie­fen sie an den gut de­ko­rier­ten Schau­fens­tern und dem Ein­gangs­por­tal ei­nes Be­klei­dungs­ge­schäf­tes vor­bei, des­sen Aus­la­gen nur streng­gläu­bi­ge Mus­li­me an­zu­spre­chen schie­nen.

Al-Kis­met­bahr führ­te Sa­rah nach dem letz­ten Schau­fens­ter in einen of­fe­nen Haus­ein­gang, folg­te der Trep­pe in den ers­ten Stock und klin­gel­te an ei­ner un­schein­ba­ren Tür. Kur­ze Zeit spä­ter öff­ne­te eine jun­ge Frau. Ihr Haar war mit ei­nem Kopf­tuch be­deckt und das Ver­hal­ten sehr de­mü­tig. Sie warf einen Blick auf Ka­rim, ein La­chen husch­te über ihr Ge­sicht, und die Hal­tung lo­cker­te sich. Über die Schul­ter rief sie nach je­man­den. Au­gen­bli­cke spä­ter mach­te sie ei­ner an­de­ren Frau Platz, und Sa­rah riss die Au­gen auf.

Eine strah­lend schö­ne Ara­be­rin stand vor ihr. Das lan­ge, schwarz ge­lock­te Haar trug sie of­fen. Dem de­zent ge­schmink­ten Ge­sicht ver­lieh die kühn ge­schwun­ge­ne Nase eine fast her­ri­sche Note, doch die la­chen­den Au­gen schlos­sen je­den so­fort ins Herz und mil­der­ten den ers­ten Ein­druck. Schma­le Lip­pen wur­den von Fält­chen be­grenzt, die zeig­ten, dass die Frau ger­ne und oft lach­te. Ge­klei­det war sie mit ei­nem leich­ten Kleid, des­sen Aus­schnitt nichts vom De­kol­leté se­hen ließ. Der wei­te Är­mel­ab­schluss en­de­te knapp über den Hand­ge­len­ken, und die Fuß­ge­len­ke wa­ren nicht sicht­bar. Es wirk­te edel mit sei­ner schim­mern­den dun­kel­grü­nen Far­be und ei­nem Schnitt, der Män­ne­rau­gen an­zog.

Nach ei­nem Blick über Ka­rims Schul­ter fiel sie ihm la­chend um den Hals. Erst nach­dem sie ihn kräf­tig an sich ge­drückt hat­te, wand­te sie sich Sa­rah zu.

Al-Kis­met­bahr über­nahm die Vor­stel­lung auf Eng­lisch.

»Das ist Sa­rah Lieb­herr, eine Freun­din aus Deutsch­land. Sie ist das ers­te Mal in Ägyp­ten und kann sich nur in Eng­lisch mit dir un­ter­hal­ten.«

Ka­rim deu­te­te auf die Ägyp­te­rin.

»Sa­rah, das ist Nailah Fa­t­hal­lah, die Frau mei­nes Freun­des.«

Nailah um­arm­te Sa­rah und drück­te ihr dann herz­lich die Hand.

»Alle Freun­de von Ka­rim sind mir herz­lich will­kom­men«, sag­te sie in per­fek­tem Eng­lisch.

Nach­dem sie einen Schritt zu­rück­ge­tre­ten war, blick­te sie von Sa­rah zu Ka­rim und frag­te:

»Was kann ich für euch tun?«

»Sa­rah braucht an­ge­mes­se­ne Klei­dung. Nicht zu züch­tig, nur um auch bei Män­nern wie Za­rif Al-Me­schwesch und be­stimm­ten Äm­tern zu be­ste­hen.«

Nailah nick­te.

»Das soll­te kein Pro­blem sein, möch­test du im Männ­er­zim­mer war­ten?«

Ka­rim lach­te kurz auf.

»Du weißt, dass ich kei­ne Was­ser­pfei­fe rau­che oder an­der­wei­ti­ge Zer­streu­ung brau­che. Auch die Ge­sell­schaft dort ist nicht nach mei­nem Ge­schmack. Ich muss noch drin­gen­de Din­ge er­le­di­gen und wür­de Sa­rah ger­ne in dei­ner Ob­hut las­sen. Es könn­te zwei, drei Stun­den dau­ern, ist das mög­lich?«

»Selbst­ver­ständ­lich. Die Zeit wird ihr nicht zu lang wer­den, das ver­spre­che ich dir.«

Nailah leg­te Sa­rah den Arm um die Schul­ter und di­ri­gier­te die et­was über­rum­pel­te Frau in Rich­tung Tür.

»War­te«, rief Ka­rim und drück­te Nailah eine Kre­dit­kar­te in die Hand. »Geht al­les hier drauf.«

»Du hast un­be­grenz­ten Kre­dit, das weißt du.«

»Und ich will das nicht, das weißt du.«

La­chend schob sie ihn zur Sei­te und schloss die Tür.

Traum oder wahres Leben

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