Читать книгу Traum oder wahres Leben - Joachim R. Steudel - Страница 4
Ein langes Leben
ОглавлениеDank Karims Autorität war mit Sarahs Visa alles problemlos verlaufen, und bald saßen sie in einem klimatisierten BMW, dessen Fahrer sie erwartet hatte. Dunkelheit hatte sich schon über das Land gesenkt, und sie kamen auf dem Autobahnring zügig voran. Der Chauffeur sah wiederholt verwundert in den Rückspiegel, denn so schweigsam kannte er seinen Fahrgast nicht. Immer, wenn er Karim Al-Kismetbahr gefahren hatte, war die Zeit bei Gesprächen schnell vergangen. Doch diesmal herrschte angespanntes Schweigen. Es schien von der hübschen europäischen Frau auszugehen, und Safi fragte sich, warum der gute Freund seiner Familie, sie mitgebracht hatte.
Zu Beginn der Fahrt hatte er im Auftrag seines Vaters seinem Förderer und Chef Al-Kismetbahr einige wichtige Mitteilungen gemacht. Einen Teil davon hatte dieser der Frau offensichtlich übersetzt, doch bis auf eine Essensbestellung per Handy fielen keine weiteren Worte. Deshalb war er froh, als sie das Nobelviertel am Rande von Kerdasa erreichten und er seine Fahrgäste bei Karims Anwesen absetzen konnte. Schnell half er das Gepäck ins Haus tragen und nahm auch noch das bestellte Essen entgegen, das in diesem Moment geliefert wurde. Nachdem sie noch kurz den nächsten Tag besprochen hatten, verließ er aufatmend das Grundstück.
Er wohnte in der Nähe und war glücklich über diese Anstellung. Das gelegentliche Chauffieren war nur ein kleiner Teil seines Jobs, war er doch an vielen wichtigen geschäftlichen Aktivitäten beteiligt. In Zeiten, die Al-Kismetbahr fern von Ägypten verbrachte, lief alles über ihn. Als Verbindungsmann hatte Safi weitreichende Vollmachten, und er war es gewesen, der Karim am Morgen angerufen hatte. Er fragte sich, warum sein Vater und Karim so aufgeregt wegen des alten Grabes waren. Allerding gab es viele Geheimnisse, in die ihn die beiden nicht eingeweiht hatten. Vielleicht war es auch besser so, dachte er, denn er wollte nicht zurück zu dem Beduinenleben seines Vaters.
Safi Al-Meschwesch hatte seine Wohnung erreicht. Er holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank und ließ sich in einen Sessel fallen. Unter einem genüsslichen Seufzer rann der erste Schluck durch seine Kehle. Die Anspannung fiel von ihm ab, und er dachte an den Abend, als ihn Karim das erste Mal mit diesem Getränk in Berührung gebracht hatte.
Safi hatte sich geschüttelt, denn es erschien ihm zu bitter, doch um Al-Kismetbahr nicht zu verletzen, trank er die Flasche widerwillig aus. Sie saßen an einem Lagerfeuer am Rande der Wüste, und die Stille unter dem nächtlichen Sternenhimmel hatte sich beruhigend auf seine Seele gelegt. Im Nachhinein war ihm bewusst geworden, dass Karim Ort und Zeit mit Bedacht gewählt hatte. Es half Safi mit vielem zu versöhnen und Türen für Kompromisse zu öffnen.
An seinem zweiundzwanzigsten Geburtstag war Safi Al-Meschwesch an einem Tiefpunkt seines jungen Lebens angekommen. Der Konflikt mit seinem Vater, der schon länger unter der Oberfläche gärte, eskalierte an diesem Tag und führte zum Bruch mit seiner Familie. Doch nicht genug damit, auch seinem Glauben, dem Islam, hatte er abgeschworen. Überstürzt verließ er alles, was er kannte, und suchte sein Glück in der nächstgelegenen Stadt. Was folgte, war ein Absturz, wie er ihn niemals erwartet hatte. Safi war mittellos und zu stolz, andere um Hilfe zu bitten. Er schlug sich mit Gelegenheitsarbeiten durch, doch da er keinerlei Ausbildung vorweisen konnte, war der Lohn gering. Als Karim ihn fand, hauste er mit vier anderen in einem schmutzigen Loch und hatte kaum das Nötigste zum Leben. Die Ablehnung, mit der er dem Freund seines Vaters begegnete, hätte jeden anderen vertrieben, doch Al-Kismetbahr schien es nur zu reizen, das Unmögliche zu vollbringen. Mit viel Geduld und Feingefühl gelang ihm die Versöhnung von Vater und Sohn, aber eine Rückführung Safis zu Allah war ihm nicht geglückt. Vielleicht lag es daran, weil Safi bald bemerkte, dass es auch nicht Karims Glaube war, doch darüber machte er sich schon lange keine Gedanken mehr. Er verehrte mittlerweile seinen Chef und hoffte auf eine Freundschaft, wie sie sein Vater mit diesem pflegte. Auch wenn die beiden Männer Geheimnisse verbanden, in die er lieber nicht eingeweiht werden wollte, ging von ihnen etwas aus, was ihn magisch anzog. Darin lag aber zugleich ein Grund für seine Flucht.
Als ältester Sohn sollte er der nächste Führer des Familienclans werden, und sein Vater betonte zum wiederholten Male, in welchem Sinne er das zu tun hätte. Doch die Errungenschaften der modernen Epoche interessierten ihn mehr als die alten Sitten und Gebräuche. Auch dass er dann die Geheimnisse erben würde, die das Geschlecht der Kismetbahr mit den Meschwesch verband, machte ihm Angst. Safi wusste von den Albträumen, die seinen Vater einmal im Jahr heimsuchten und ihn schreien und weinen ließen. Er hatte ihn am Morgen nach einer solchen Nacht beobachtet und in dem zitternden, gebeugten Mann konnte er den charismatischen Stammesführer kaum wiedererkennen. Als er seine Mutter nach dem Grund fragte, hatte sie nur gesagt: Du wirst es noch früh genug erfahren. Die Trauer und Hilflosigkeit in ihrem Blick hatte eine Furcht in ihm geweckt, die er nie wieder loswurde. Doch darüber hatte er mit Karim damals nicht gesprochen. Safi hatte alle Gedanken daran verdrängt, weil er hoffte, mit seiner Flucht von zu Hause diesem Schicksal zu entrinnen.
Auf diesen ersten Abend am Lagerfeuer waren noch viele gefolgt. Manchmal saßen sie bis zum Morgengrauen, und Al-Kismetbahr sprach mit ihm über den Generationenkonflikt, den es schon immer gab. Er führte ihn in die Denkweise der Älteren ein, die das Errungene erhalten wollten. Lenkte seine Gedanken auf die Wege, die sein Vater gegangen war, und Safi erkannte, dass er sich vielleicht ähnlich verhalten würde. Doch Karim drängte ihm nichts auf. Er machte Pausen, in denen sie lange Zeit schweigend die Flammen des Feuers beobachteten. Safi konnte sich selbst finden, und er fand Geschmack am Bier. Irgendwann war daraus ein Ritual geworden, das Safi mit dem Feierabend verband. Doch mehr als eine oder zwei Flaschen am Abend trank er nicht. Zum einen wusste er, dass sein Chef den Vorrat, an dem Safi teilhaben durfte, von Deutschland einfliegen ließ, und zum anderen legte er keinen Wert darauf, betrunken zu sein.
Bei diesen Gedanken angekommen, brachte Safi die leere Flasche weg und ging zu Bett. Die nächsten Tage würden mit viel Arbeit angefüllt sein, hatte ihm Al-Kismetbahr mitgeteilt, und er wollte ihn unterstützen, so gut er konnte.
Am nächsten Tag, kurz nach Sonnenaufgang, fuhr Safi mit dem Auto bei Karims Anwesen vor. Er traf seinen Chef und Sarah beim Frühstück und zog sich gleich wieder diskret zurück. Nur wenig später wurde er gerufen und setzte sich, ein wenig nervös wegen der Anwesenheit der Frau, mit an den Tisch.
Al-Kismetbahr musterte ihn nachdenklich und fragte mit einem Stirnrunzeln:
»Du weißt, dass wir nach Sakkara fahren und dort auch deinen Vater treffen werden?«
Safi war klar, dass er auf seine westliche Kleidung anspielte, doch aus einem gewissen Trotz heraus hatte er sich bewusst so gekleidet.
»Ja, der Wagen ist vollgetankt, und auch ich bin vorbereitet auf die Fahrt.«
An seinem Tonfall erkannte Karim, dass er ihn nur mit einer Anweisung dazu bringen konnte, sich anders anzuziehen, doch das lag nicht in seinem Sinn.
»Gut, dann bring bitte noch ein paar Flaschen Wasser in die Kühlbox, während wir uns bereit machen.«
»Ist schon geschehen. Ich werde in der Zwischenzeit den Tisch abräumen.«
Sarah war die Spannung zwischen den beiden nicht entgangen. Karim übersetzte aber nichts und sagte zu ihr:
»Wir werden jetzt zu der Begräbnisstätte fahren und uns dort mit dem Grabungsteam sowie einigen Regierungsmitgliedern treffen. Ich habe um Aufschub der Graböffnung gebeten, was das Team nicht akzeptieren will. Es beruft sich auf die vorliegende Genehmigung, doch ich hoffe, dass ich alle Parteien zu einer Änderung der Pläne bewegen kann.«
»Ging es in eurem Gespräch darum?«
Mit hochgezogenen Brauen sah Karim sie an.
»Nein, wie kommst du darauf?«
»Der Ton schien mir leicht gereizt, und ich dachte deshalb ...«
Mit einem leichten Kopfschütteln stieß Karim die Luft durch die Nase aus.
»Nein, das hat andere Gründe. Mein junger Freund hier wird für Ärger bei seinem Vater sorgen, und ich hatte gehofft, dass er solche Provokationen mittlerweile unterlässt«, sagte er, ohne Safi merken zu lassen, dass es um ihn ging.
Als Sarah den Kopf wenden wollte, berührte Karim sie an der Hand und gab ihr mit den Augen ein Zeichen. Das Aufleuchten in ihren Augen zeigte, dass sie ihn verstand.
»Das Grab ist am Rande der Wüste, und es wird sehr warm werden. Zieh dir also bitte etwas Entsprechendes an«, sagte er, vom Thema ablenkend.
»Aber wir haben ja noch nichts besorgt«, antwortete sie stirnrunzelnd.
»Er ist auch nicht anders gekleidet, und es sind Europäer in dem Team. Es wird sich kaum einer daran stoßen.«
Der Seitenblick auf Safi hatte ihr gezeigt, was Karim störte, und nachdenklich ging sie in ihr Zimmer.
Al-Kismetbahr wartete, gekleidet, wie er am Vortag angekommen war, an der Eingangstür, und als Sarah kam, hellte sich sein Gesicht auf. Sie hatte eine lange beigefarbene Hose an, die sie bis kurz unter die Knie hochgekrempelt hatte. Die weiße Bluse, deren weite Ärmel fast die Ellenbogen bedeckten, war bis oben zugeknöpft, und einen ebenfalls weißen Schal, den sie sonst als Accessoire trug, hatte sie turbanartig um den Kopf geschlungen.
»Bei der Bluse kannst du ruhig einen Knopf öffnen, und nimm den Schal ab. Wenn wir irgendwo länger in der Sonne stehen, kann er nützlich sein, damit du keinen Sonnenstich bekommst, doch an diesem Ort, den auch viele Touristen aufsuchen, brauchst du dein Haar nicht zu bedecken«, sagte er mit einem Lächeln.
Im Auto fiel Sarah zum ersten Mal auf, dass sich Safi unwohl zu fühlen schien, wenn sie in seine Nähe kam. Nachdenklich, aber diskret musterte sie ihn und fragte sich, was ihn störte. Er schien ein moderner junger Mann zu sein, doch einiges an seinem Verhalten gab ihr Rätsel auf. Als sie merkte, dass er ihren Blick spürte, wandte sie sich schnell ab und begann ein Gespräch mit Karim.
»Kannst du mir jetzt erklären, was es mit dem Grab auf sich hat? Ich meine, außer das eine Frau darin liegt, die dir nahestand.«
»Vieles wird sich selbst erklären, wenn wir dort sind, und den Rest werde ich dir in den nächsten Tagen erzählen.«
Er strich sich mit der Hand über die Augen, und sie wusste, dass es schwere Gedanken waren, die ihn bewegten.
»Wie willst du erreichen, dass die Graböffnung aufgeschoben wird?«
»Das ist nicht das einzige Ziel. Ich möchte auch verhindern, dass die Totenruhe der Frau gestört wird. Und das wird vermutlich das größere Problem sein«, antwortete er gedankenverloren.
»Also wie?«, drängte sie weiter.
»Du wirst dabei sein, und ich werde übersetzen, was du nicht verstehst«, sagte er abweisend und drehte seinen Kopf zur Seite.
Sarah beobachtete ihn weiter, denn sie hoffte, er würde mehr preisgeben, doch bald wurde ihr klar, dass er mit seinen Gedanken allein sein wollte.
Sie fuhren bis ans südliche Ende von Sakkara, und als in der Ferne Pyramiden und Grabhügel auftauchten, begann Sarah zu ahnen, dass Ungewöhnliches auf sie zukam. Als der Wagen in östliche Richtung abbog und sie in den verwinkelten Straßen einer größeren Ortschaft die Orientierung verlor, beruhigte sie sich aber wieder. Doch nur bis sie bei einem Autoverleih in einen bereitstehenden Geländewagen stiegen, den Karim dann steuerte. Safi hatte die Kühlbox mit den Wasserflaschen umgeladen, und sie fuhren zurück in Richtung Wüste. Am Rande des grünen Gürtels, der vom Nil ausging, fuhren sie auf einer Wüstenstraße in nordwestliche Richtung. Wenn der leichte Wind die Staubfahne lichtete, die ihr Auto aufwirbelte, konnte sie nördlich im Dunst wieder die Grabanlagen sehen. Sie waren noch nicht sehr weit gefahren, als Karim in die Wüste einbog. Sie fuhren in die Richtung der Pyramiden, die Sarah sehen konnte. Fahrspuren zeigten, dass sie nicht die Ersten waren, die diesen Weg nahmen, und Sarahs Verwunderung wurde immer größer. Die Ungewissheit des Bevorstehenden machte ihr zu schaffen, doch Karim hatte eine Mauer des Schweigens um sich gezogen, und Safi hatte bisher nur arabisch gesprochen.
Die Fahrspuren vor ihnen hatten die Richtung erneut gewechselt und führten jetzt genau nach Norden. Die im Dunst verfallen wirkende Pyramide, die sie zuerst gesehen hatte, lag mittlerweile hinter ihnen. Nordöstlich kam eine größere Pyramide in Sicht, aber Karim fuhr jetzt nach Westen auf eine kleine Felsformation zu. Der Grabungsschutt, der zu beiden Seiten der Fahrspur aufgeworfen war, zeigte, dass vor nicht allzu langer Zeit auch hier eine Grabsuche stattgefunden hatte. Kurz bevor sie den Felsen, der aus dem Wüstensand ragte, erreicht hatten, wurden sie an einer Absperrung gestoppt.
Die Wachmannschaft, die den Grabungsbereich vor Neugierigen absicherte, wollte sie nicht passieren lassen. Al-Kismetbahr zückte schon sein Handy, um einen klärenden Anruf zu tätigen, als ein weiterer Wagen neben ihnen stoppte, aus dem drei für den Ort unpassend elegant gekleidete Männer ausstiegen. Zumindest einen von ihnen schien Al-Kismetbahr persönlich zu kennen, denn die Begrüßung war sehr herzlich. Ein anderer wies sich bei den Wachen als Regierungsbeamter aus, der für die Grabungsgenehmigungen zuständig war, woraufhin ihnen der Zugang gestattet wurde.
Die Autos hatten sie stehen lassen und waren zu Fuß auf eine Gruppe Zelte zugegangen, die vor der Ausgrabung standen. Dort wurden sie schon von zwei Frauen und vier Männern ungeduldig erwartet. Eine der Frauen und zwei Männer, die offensichtlich Europäer waren, wirkten besonders zornig. Kaum waren die Beamten und Al-Kismetbahrs Gruppe bei ihnen angekommen, ergingen sie sich in einem aggressiven Wortschwall, dem selbst die Ägypter kaum folgen konnten. Nur mit Mühe gelang es den Regierungsvertretern, sie zu beruhigen, und sie wiesen auf Karim, der vortrat und das Wort ergriff.
»Mein Name ist Karim bin Azmi bin Halim Al-Kismetbahr und es stimmt, ich bin dafür verantwortlich, dass Ihre Grabung gestoppt wurde«, sagte er auf Englisch.
Einer der ägyptischen Männer des Teams erging sich in einer arabischen Schimpftirade, doch Karim unterbrach ihn in bewusst ruhigem Tonfall.
»Bitte sprechen Sie Englisch, meine Begleiterin kann dem Gespräch sonst nicht folgen.«
Der Mann schnappte nach Luft und wollte wieder loslegen, wurde aber von der Europäerin unterbrochen, die ihm einen beruhigenden Blick zuwarf.
»Mein verehrter Kollege will sagen, dass es uns unverständlich ist, warum Sie unsere Grabung verhindern wollen. Und mit welchem Recht ...«
»Sehr geehrte Frau …«
Fragend sah Karim sie an.
»Wallert, Doktor Silvia Wallert.«
Ihr Akzent wies sie eindeutig als Schweizerin aus.
»Sehr geehrte Frau Doktor Wallert«, begann Al-Kismetbahr erneut, »keiner will Ihre Grabung verhindern. Vermutlich wäre ich auch nicht dazu in der Lage. Im Gegenteil, ich möchte ihnen unter bestimmten Bedingungen sogar meine Hilfe anbieten.«
»Was für Bedingungen? Wir haben dieses Grab entdeckt, und wir haben die Genehmigung der Regierung zur Grabung erhalten. Was wollen Sie da für Rechte anmelden?«, fuhr der ägyptische Archäologe dazwischen.
»Das Recht eines Familienangehörigen, der dieses Grab mit Freunden pflegt«, meldete sich eine Stimme aus dem Hintergrund.
Alle Köpfe ruckten herum und starrten den Neuankömmling an. Nur Karim nickte ihm, ohne Erstaunen zu zeigen, zu. Der breitschultrige Beduine machte auf alle großen Eindruck. Seinen beigefarbenen Kaftan säumte eine goldgelb durchwirkte Borte, und er wirkte unpassend edel für diesen Ort. Mit einer ruhigen Bewegung lüftete er den Teil des Turbantuches, der als Staubschutz Mund und Nase bedeckte, und offenbarte seine markanten Gesichtszüge. Der gut gestutzte graue Vollbart verbarg die vollen Lippen kaum, und die kräftige Nase verlieh dem Gesicht eine herrische Note. Die schmalen, tief liegenden Augen zeigten eine Energie, die jeden in ihren Bann zog, und als sein Blick Safi streifte, huschte ein trauriger Schatten über sein Antlitz.
Der impulsive Ägypter, der sich als Erster wieder gefasst hatte, fuhr den Beduinen an:
»Wer sind Sie denn?«
Karim übernahm die Antwort:
»Das ist Zarif bin Kadir bin Nabil Al-Meschwesch, ein Freund meiner Familie.«
»Und, was hat er hier zu suchen?«
»Er will ihnen zusammen mit mir bei der Graböffnung behilflich sein, wenn Sie auf unsere Bedingungen eingehen.«
Zornesröte stieg in das Gesicht des Ägypters, und er setzte zu einer neuen Schimpfkanonade an. Die Schweizerin legte beruhigend ihre Hand auf seine Schulter und sagte vermittelnd:
»Mein Kollege kann – wie auch ich – nicht verstehen, was Sie dazu berechtigen sollte, Bedingungen zu stellen?«
»Wie mein Freund schon sagte: mit dem Recht eines Familienangehörigen, der zusammen mit Zarif Al-Meschwesch das Grab pflegt.«
»Habt ihr was genommen oder ...«, stieß der ägyptische Archäologe hervor.
Der sanfte Druck, mit dem Silvia Wallert seine Schulter berührte, ließ ihn abbrechen.
»Nach allem, was wir bisher feststellen konnten, wurde der Schacht seit dem Begräbnis nicht mehr verändert«, begann sie mit leiser Stimme zu erläutern. »Und wenn wir uns nicht sehr täuschen, ist dieses Grab mindestens dreitausend Jahre alt«, fügte sie mit einem triumphierenden Blick auf Karim hinzu.
»Dreitausend?«, stieß Sarah unter einem Keuchen hervor.
Ohne darauf einzugehen, antwortete Al-Kismetbahr:
»Um genau zu sein, 3188 Jahre.«
Diese genaue Zeitangabe löste mehrere Reaktionen auf einmal aus. Die Gruppe der Archäologen riss die Augen auf und war für einen Moment sprachlos. Zarif nickte bestätigend mit einem schmerzlichen Zug um den Mund, und die Beamten tauschten erstaunte Blicke. Doch Sarah sorgte kurz für Aufregung. Sie stöhnte leise auf, und ihre Knie wurden weich. Mit verdrehten Augen sackte sie zusammen.
Geistesgegenwärtig war Safi, der schräg hinter ihr stand, herbeigesprungen und fing sie auf. Doktor Wallert eilte in eins der Zelte und kam mit einem Klappstuhl zurück. Vorsichtig setzten die beiden Sarah auf den Stuhl, und die Archäologin tätschelte ihr zart die Wange.
»Hallo, was ist mit Ihnen?«
Sarah atmete flach, und zitternd hoben sich ihre Lider. Safi rannte los, um eine Flasche Wasser aus dem Auto zu holen. Als er zurückkam, hatte sich Sarahs Atem wieder beruhigt, doch ihr verwirrter Blick hing an Karim. Er erwiderte ihn, und sie konnte die Bestätigung ihrer Gedanken darin lesen. Vernehmlich schluckend, griff sie dankbar nach dem Becher in Safis Hand. Als wolle sie sich daran festhalten, umklammerte sie ihn mit beiden Händen. Ohne Al-Kismetbahr aus den Augen zu lassen, führte sie ihn an die Lippen und trank in hastigen Zügen. Dann riss sie ihre Augen von Karim los und hielt Safi den Becher entgegen.
»Bitte ... noch mal.«
Safi füllte ihn zum zweiten Mal und wieder trank sie ihn, ohne abzusetzen, aus.
»Danke, jetzt geht es wieder«, sagte sie mit fester Stimme. »Die gestrige Reise, die Aufregung und die Hitze waren vermutlich zu viel für mich. Entschuldigung ...«
Doktor Wallert unterbrach sie:
»Kein Problem. Hauptsache, es geht Ihnen wieder besser.«
An die anderen gewandt, setzte sie hinzu:
»Wir sollten vielleicht unter die Zeltbahn gehen, wo wir sonst die Fundstücke reinigen.«
Keiner hatte etwas dagegen, und schnell waren aus den Zelten genügend Sitzgelegenheiten geholt, darunter in Ermangelung ausreichender Stühle, einige Kisten und Eimer, was niemanden störte.
Die Aufregung hatte sich gelegt, und Silvia Wallert ergriff das Wort.
»Wie kommen Sie auf diese Jahreszahl? Es klang so sicher, dass es mich selbst verblüffte.«
»Ich sagte ihnen bereits, dass in dem Grab eine Familienangehörige liegt.«
»Eine? Eine Frau also? Und wie können Sie sich bei der Jahreszahl so sicher sein?«
Zarif übernahm die Antwort.
»Weil er ein direkter Nachfahre ist. Und weil alle Kenntnisse über dieses Grab von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden. Bei den Kismetbahr und den Meschwesch.«
»Über so viele Jahre? Das ist doch unglaublich.«
»Sie kennen sich doch mit der altägyptischen Geschichte gut aus«, ergriff Karim wieder das Wort.
»Ich denke schon. Warum?«
»Dann wissen Sie auch, dass Ramses III mehrfach gegen die lybischen Stämme antreten musste. Bei diesem Kampf im elften Regierungsjahr des Pharaos, spielte das Volk der Meschwesch eine bedeutende Rolle. Zarif Al-Meschwesch stammt aus diesem Volk und ist ein direkter Nachfahre von Pharao Scheschonq I.«
Alle, selbst Safi, starrten Zarif ungläubig an.
»Titel. Phha. Ich bin nicht stolz auf meine Abstammung«, stieß Zarif zwischen den Zähnen hervor.
Karim wollte darauf eingehen, doch ein Blick in die Augen seines Freundes ließ ihn verstummen.
Doktor Wallert fasste sich als Erste wieder.
»Wollen Sie behaupten, dass es Ihnen möglich ist, Ihre Herkunft von diesem König lückenlos nachzuweisen?«
Zarif lachte leise auf.
»Nicht so, wie Sie das jetzt meinen. Mit Geburtsurkunde oder Ähnlichem. Jeder erstgeborene Sohn in meiner Ahnenlinie wurde, wenn sein Vater«, Zarif suchte kurz den Blickkontakt zu Safi, »ihn für reif genug hielt, in die Familiengeschichte eingeführt.«
Keinem war die Anspielung entgangen, und Safi starrte beschämt auf seine Hände. Ohne den anderen Zeit zu geben, darauf einzugehen, fuhr Zarif fort:
»Ein Teil der Informationen, die weitergegeben werden, betrifft die Ahnenfolge. Ein andere hängt mit diesem Grab zusammen.«
Alle folgten seinem Blick und betrachteten den geöffneten Schacht. Zarif Al-Meschwesch sprach nicht weiter. Seine Augen ruhten auf der Grabungsstelle, und sein Gesicht war schmerzlich verzogen.
In Silvia Wallert siegte der nüchterne Forschergeist. Mit einem spöttischen Unterton wandte sie sich an Karim.
»Und Sie? Sie können ihre Ahnenlinie auch lückenlos herbeten?«
»Nicht so wie er. Seine Stammväter haben das Nildelta und die westliche Wüste niemals verlassen. Meine schon. Der Name Al-Kismetbahr wurde erst im siebzehnten Jahrhundert von den Meschwesch geprägt. Meine Vorfahren hießen anders, und es ist noch nicht so lange her, dass sie nach Ägypten zurückgekehrt sind.«
Den ägyptischen Archäologen Kamal verließ die Geduld.
»Und mit dieser haarsträubenden Geschichte wollen Sie Ansprüche auf das Grab anmelden?« Er lachte gezwungen auf und wandte sich an die Regierungsvertreter. »Ich hoffe nicht, dass Sie in Erwägung ziehen, aufgrund solcher Aussagen unsere Grabung weiter zu verzögern.«
Die Beamten sahen ein wenig ratlos von einem zum anderen, als Karim die Initiative ergriff.
»Hören Sie«, er strich sich kurz mit der linken Hand über Stirn und Augen, »der Entdeckerruhm oder irgendwelche andere Dinge, die damit zusammenhängen, interessieren mich überhaupt nicht. Einzig die Totenruhe der Frau und ein Bündel aus einer späteren Periode, das im Grab liegt, sind mir wichtig.«
Kamal setzte zu einer Entgegnung an, doch Al-Kismetbahr stoppte ihn mit einer Handbewegung und fuhr fort.
»Zarif und ich können Sie ohne großen Aufwand ins Grab bringen und alles beweisen, was bis jetzt gesagt wurde. Die Bedingungen, die ich stelle, müssten Sie in Betracht dessen, was ich Ihnen dafür biete, verschmerzen können.«
Dr. Wallert unterbrach ihn.
»Warum sollten wir auf irgendwelche Bedingungen eingehen, wir kommen auch so hinein und finden heraus, was wichtig ist?«
»Ich denke nicht, dass Ihnen gelingt, was Sie vorhaben. Glauben Sie mir, Sie werden es bereuen, wenn Sie mein Angebot nicht annehmen.«
Die Überzeugung, mit der er sprach, und sein Gesichtsausdruck ließen die Forscher nachdenklich werden.
Zum ersten Mal ergriff die zweite Frau des Grabungsteams das Wort.
»Spezifizieren Sie Ihre Bedingungen.«
Unwillig, aber ohne Widerworte schauten ihre Kollegen Karim an.
»Ein in gefettetes Leder eingewickeltes längliches Bündel, das am Kopfende des Sarges auf einer Truhe liegt, entnehme ich, ohne dass Sie etwas über den Inhalt erfahren.« Die Mienen der Forscher verfinsterten sich, aber Al-Kismetbahr fuhr fort, ohne dass sie zu Wort kamen. »Ich versichere Ihnen, dass dieses Päckchen nicht zum Grabschatz gehört und aus einer späteren Periode stammt. Es würde nur Verwirrung stiften.«
»Und was noch?«, fragte Silvia Wallert ungeduldig.
»Die Mumie können Sie sehen und von mir aus auch fotografieren. Sie wird aber von niemand zu Forschungszwecken berührt, und ich werde sie an einem versteckten Ort zur ewigen Ruhe betten.«
Aufgeregtes Stimmengewirr erhob sich, doch Karim sprach mit lauter Stimme weiter.
»Sämtlicher Forscherruhm gehört Ihnen. Wir wollen nicht erwähnt werden. Nein, es ist sogar eine Bedingung, dass wir nicht erwähnt werden. Der komplette Grabschatz, und er ist nicht unerheblich, kann entnommen werden. Auch der Granitsarkophag und die drei darin verschachtelten Holzsärge interessieren mich nicht. Ich biete ...«
»Die Frau liegt in einem Granitsarkophag? Sie war also eine hochgestellte, reiche Adlige und liegt hier, so weit entfernt von dem eigentlichen Gräberfeld?«, stieß Dr. Wallert ungläubig hervor.
Al-Kismetbahr spürte, dass der Widerstand brach und sagte, darauf bedacht, die aufkeimende Stimmung für sich zu nutzen:
»Nein, war sie nicht. Sie war eine einfache Landarbeiterin.« Ungläubig hoben sich die Brauen der meisten Teammitglieder. »Wir würden heute sagen: Sie war ein ziviles Opfer der Kämpfe. Doch gewisse Umstände brachten es mit sich, dass Ramses III persönlich einen Großteil der Grabbeigaben beisteuerte und für eine angemessene Bestattung sorgte. Die Todesumstände wurden in Bildern und Hieroglyphen an den Wänden der Grabkammer verewigt. Und ich wollte Ihnen, bevor Sie mich unterbrachen, anbieten, den mir bekannten Teil ihrer Lebensgeschichte preiszugeben.«
Nachdenkliche Stille breitete sich aus. Die Archäologen wirkten unentschlossen, als der leitende Regierungsvertreter das Wort ergriff.
»Ich finde das Angebot und auch die Bedingungen von Karim Al-Kismetbahr akzeptabel, zumal er meinen Mitarbeitern glaubhaft versichert hat, dass andernfalls ihr Team vermutlich leer ausgehen wird.«
Silvia Wallert blickte langsam vom Sprecher zu Zarif und dann zu Karim.
»Meinen Sie?«
»Ich meine nicht, sondern weiß es«, antwortete Karim. »Sie werden wenig finden, aber viel zerstören, wenn Sie weitergraben wie bisher.«
Das Forscherteam verständigte sich mit Blicken, und Dr. Wallert bat um etwas Zeit zur Beratung. Al-Kismetbahr forderte seine Begleiter und Zarif auf, ihm zu folgen, und strebte der Grabungsstelle zu, über die eine Zeltbahn gespannt war, in deren Schatten sie sich niederließen. Schweigend beobachteten sie die aufgeregt diskutierenden Archäologen. Auch die Regierungsvertreter beteiligten sich intensiv an diesem Gespräch, und es hatte den Anschein, als spalte sich die Runde in zwei Gruppen. Der impulsive Ägypter Kamal und seine zwei europäischen Kollegen wirken sehr aufgebracht, doch der Rest schien immer wieder überzeugende Argumente ins Feld zu führen.
Karim wandte sich ab und blickte sich in seiner Gruppe um. Sarahs Augen hingen an ihm und zeigten immer noch jenes maßlose Erstaunen, das sie seit der Erwähnung des Grabalters erfasst hatte. Safi vermied jeden Blickkontakt mit seinem Vater und knetete nervös mit seiner linken Hand die rechte Faust. Doch der Anblick von Zarif ließ Al-Kismetbahr das Schweigen brechen.
»Was ist los mein Freund? Du siehst aus, als säße dir der Tod im Nacken.«
Langsam, mit gequältem Gesichtsausdruck suchte Zarif Al-Meschwesch den Blickkontakt.
»War es klug, ihnen all das zu versprechen? Unsere Vorfahren und auch wir haben geschworen, das Grab für alle Zeit zu bewahren. Was soll jetzt aus uns werden? Wie sollen wir den Jahrestag ihres Todes überstehen, wenn wir das Grab nicht besuchen und ihre Seele besänftigen können? Werden wir sie dadurch nicht noch mehr gegen uns aufbringen?«
»Ich habe befürchtet, dass dich das beschäftigt, und ich kann dir im Moment noch keine befriedigende Antwort geben.« Wieder einmal strich er sich mit der Hand über Stirn und Augen. »Aber ich sehe keine andere Möglichkeit. Wenn sie hier weitergraben, zerstören sie entweder alles, oder mit viel Glück gelangen sie ohne uns in die Kammer, was vielleicht noch schlimmer wäre. In jedem Falle wäre das Grab für uns verloren. Wenn ich die Tote irgendwo zur ewigen Ruhe betten kann, werde ich versuchen, den Fluch für immer zu brechen.«
Ein Funken Hoffnung blitzte in Zarifs Augen auf.
»Meinst du, das wäre möglich?«
»Die Zeit ist reif, und ich bereue, dass ich es nicht schon längst versucht habe.«
Karims Augen ruhten jetzt auf Sarah, die dem Gespräch gebannt gefolgt war. Ihre Blicke trafen sich, und mit müder Stimme sagte er:
»Ich habe in letzter Zeit Gespräche geführt, die mich über vieles nachdenken ließen, Erinnerungen ausgegraben, die mir zeigten, wie viel ich in meinem Leben falsch gemacht habe. Es ist an der Zeit, einiges zu richten.«
Sarah schluckte, hielt aber seinem Blick stand. Mehrfach öffnete sie den Mund und wollte um Aufklärung der vielen Rätsel bitten, doch immer wieder schreckte sie vor den erwarteten Antworten zurück. Schweigen senkte sich wieder über ihre Gruppe, und keiner bemerkte, wie Silvia Wallert sich näherte. Erst als sie angesprochen wurden, schreckten Karim und seine Freunde aus ihren Gedanken hoch.
»Kommen Sie bitte wieder zu uns? Wir haben uns entschlossen, Ihr Angebot anzunehmen, und möchten gerne die Einzelheiten besprechen.«
Alle erhoben sich, doch bis sie bei den anderen waren, fiel kein Wort. Karim wirkte erleichtert, Sarah nachdenklicher denn je, Zarif immer noch bedrückt, und Safi führte einen inneren Kampf, den nur Al-Kismetbahr verstand. Kamal schien von alldem nichts zu bemerken und kam zur Sache, bevor sie sich setzen konnten.
»Wir sind nicht ganz einer Meinung, doch wir lassen uns auf Ihre Bedingungen ein. Also führen Sie uns jetzt ins Grab!«
»Nicht ganz so schnell mein Herr. Zuerst möchte ich das schriftlich von Ihnen und der zuständigen Regierungsstelle. Weiterhin will ich die Genehmigung, dass ich die Mumie außer Landes bringen darf.«
Zum ersten Mal wollte der leitende Regierungsbeamte widersprechen, doch Karim ließ keinen Einwand zu.
»Darüber verhandele ich nicht, es ist Bedingung! Keiner wird erfahren, wohin die Tote gebracht wird, und ich nehme an, Sie wissen, welche Mittel mir zur Verfügung stehen.«
Mit hochrotem Kopf senkte der Mann die Lider und schloss den Mund.
»Bis übermorgen habe ich alles Notwendige organisiert. Dann werden wir wieder hier sein, und ich erwarte Sie mit den unterschriebenen Dokumenten. Damit Sie sichergehen, dass ich keine Einwände gegen den Wortlaut habe, können Sie mir die Entwürfe vorher zukommen lassen.« Er übergab Silvia Wallert seine Visitenkarte. »An unten stehende Faxnummer oder E-Mail-Adresse können Sie alles senden.«
Die Umstehenden schnappten nach Luft, denn er war jetzt sehr forsch und fordernd aufgetreten.
»Was ist? Ich werde Sie dann innerhalb von Stunden in die Grabkammer bringen. Denken Sie, dass es schneller geht, wenn Sie jetzt weitergraben? Oder haben Sie Angst, dass ich das Grab bis dahin leere? Verdoppeln Sie die Wachen, wenn Sie sich auf diese Weise sicherer fühlen.«
Mit mürrischen Gesichtern gab das Grabungsteam klein bei, doch der leitende Regierungsbeamte schien mehr als nur verärgert. Als sich die Gruppen trennten, trat in einem günstigen Augenblick der Beamte, den Karim so herzlich begrüßt hatte, an ihn heran.
»War es wirklich notwendig, meinen Chef so zu reizen?«
»Es tut mir leid, mein Freund, aber ich musste diesem Kamal den Wind aus den Segeln nehmen. Er war dabei, alles wieder zu kippen. Du kannst deinem Boss sagen, dass ich in den nächsten Tagen dem Ministerium für ägyptische Altertümer eine außerordentlich großzügige Spende zukommen lasse. Das sollte ihn etwas beschwichtigen. Außerdem sind die Grabbeigaben wirklich eine kleine Sensation und werden sich im Museum als ein weiterer Magnet erweisen.«
»Aber wie sollen wir der Öffentlichkeit das Verschwinden der Mumie erklären? Ich vermute, das wird auch seine größte Sorge sein. Wenn die Forscher ihren Fund publik machen und die Beigaben ausgestellt werden, kommen mit Sicherheit Fragen nach der Toten auf.«
Al-Kismetbahrs Blick richtete sich kurz nach innen, aber schon wenig später zeigte ein Aufleuchten seiner Augen, dass ihm eine Lösung eingefallen war.
»Ich vermute, die Archäologen werden ein oder zwei Tage brauchen, um alles zu fotografieren und zu dokumentieren. Dann sollten wir die Bergung der Mumie vor den Augen der Medien vornehmen. Alles Weitere werde ich organisieren.«
Fragend sah ihn sein Gesprächspartner an, doch Karim schüttelte nur den Kopf.
»Es ist besser, wenn ihr nichts darüber wisst, und jetzt geh wieder zu deinen Kollegen, sie mustern uns schon skeptisch.«
Der Beamte nickte, drehte sich um und wollte gehen, doch Al-Kismetbahr griff schnell nach seinem Arm und flüsterte ihm mit unterdrückter Stimme zu:
»Berichte deinem Boss von unserem Gespräch. Stell es so hin, als hättest du mir große Vorhaltungen gemacht und ich würde jetzt nachgeben. Du hast erreicht, dass die Mumie für kurze Zeit in meiner Anwesenheit untersucht werden darf. Sag ihm aber auch, dass nichts ohne mein Beisein geschieht und ich den Transport und alles andere organisiere.«
Ein verständnisloser Blick war die Antwort, doch mit einer auffordernden Geste verabschiedete sich Karim und folgte seinen Freunden zum Auto.
Auf dem Rückweg waren zunächst nur wenige Worte gefallen. Safi hatte darum gebeten, bei seinem Vater bleiben zu dürfen, und Al-Kismetbahr hatte nur zu gerne zugestimmt. Der Zeitpunkt schien günstig, um die Bande zwischen Vater und Sohn wieder enger zu knüpfen. Der Geländewagen war beim Vermieter abgegeben, und Sarah saß auf dem Beifahrersitz des BMW. Sie grübelte immer noch über das Gehörte, als Karim das Schweigen endlich brach.
»Wie denkst du jetzt über mich und meine Geschichte?«
Sie brauchte einen Augenblick, um in die Wirklichkeit zurückzukommen, und mit schleppender Stimme kam ihre Antwort.
»Ich bin verwirrter denn je. Kann kaum fassen, was ich heute erfahren habe, und hoffe, dass du mir alles erklärst.«
Ihre Augen suchten die von Karim, doch der blickte konzentriert auf die Straße.
»Stimmt es, was ich jetzt vermute?«
»Wenn diese Vermutung einen ununterbrochenen Erinnerungsstrang an ein Leben seit jener Zeit betrifft, dann ja«, sagte er nüchtern.
»3188 Jahre?«
»Und noch einige mehr. Rechne meine Zeit in China und Japan dazu, dann, nach meinem erneuten Erwachen, eine längere Zeitspanne während meiner Reise von China hierher. Ach so, und vergiss die paar Jahre nicht, die ich als Günter Kaufmann in Deutschland gelebt habe.«
Sarah schluckte.
»Wie viele Jahre zusammengerechnet?«
Das erste Mal seit den Gesprächen an der Grabungsstelle blickte er sie kurz an. Die Leere und Trauer in seinen Augen erschreckte Sarah zutiefst.
»Ich kann es dir nicht genau sagen, denn irgendwann habe ich den Überblick verloren. Als ich wieder zu mir kam, erwartete ich, in meinem alten Leben zurück zu sein, doch ich befand mich an der gleichen und doch nicht gleichen Stelle. Die Landschaft war nur wenig verändert, aber es gab keinen Weg mehr, keine Spur vom Kloster, weder Ruinen noch anderes deutete auf Leben in dieser Gegend hin.«
Die Nüchternheit, mit der er sprach, verstärkte Sarahs Beklemmung, aber aus Furcht, er könne wieder aufhören mit seiner Geschichte, wagte sie nicht, davon zu sprechen.
»Ziellos wanderte ich durch die Gegend und merkte bald, dass ich noch weiter in die Vergangenheit zurückgeraten war. Nichts von dem, was ich von China kannte, gab es schon. Ich verließ das Land und wanderte durch Tibet, das zu jener Zeit nur sehr dünn besiedelt war. Lange hielt es mich aber nicht in dieser Gegend. Ruhelos streifte ich kreuz und quer durch ganz Asien. Der siebenjährige Erneuerungszyklus setzte wieder ein, und ich wagte es nicht, irgendwo sesshaft zu werden. Drei Zyklen bei sibirischen Nomaden und drei bei Bewohnern des laotischen Hochlandes zählten zu den längeren Perioden. Meist verließ ich die Menschen, bei denen ich verweilte, spätestens mit der zweiten Erneuerung. Nur einmal hielt ich mich fast dreißig Jahre an einem Ort auf. Eine Frau im heutigen Indien hatte mein Herz erobert, doch auch diese Ehe blieb kinderlos, was unser Zusammenleben belastete. Die Veränderungen, denen ich unterliege, scheinen mich zeugungsunfähig gemacht zu haben.«
Die Erwähnung einer weiteren Frau in seinem Leben versetzte Sarah einen Stich ins Herz. Obwohl sie wusste, dass eine endlos erscheinende Zeitspanne seitdem vergangen war, fragte sie:
»Hast du sie auch so geliebt wie Kazuko?«
Die Art, wie sie fragte, veranlasste Karim, kurz den Blickkontakt zu suchen. Durch seine Lebenserfahrung erkannte er, was im Entstehen war, und schüttelte irritiert den Kopf.
»Nicht so, wie sie es verdient hätte. Ich ertappte mich immer wieder dabei, wie ich insgeheim Vergleiche zu Kazuko anstellte, was sie vermutlich spürte. Erst als es zu spät war, erkannte ich meine Dummheit und wollte sie korrigieren, doch dann konnte ich nichts mehr verhindern.«
»Sie hat dich verlassen?«, fragte Sarah mit hochgezogenen Brauen.
»Nicht so, wie du jetzt denkst. Das wäre ihr niemals in den Sinn gekommen. Eine schwere Krankheit hat sie mir weggenommen, und ich konnte nichts dagegen tun, weil sie es vor mir verheimlichte.«
Karim schüttelte traurig den Kopf, und Sarah merkte, dass es wieder Erinnerungen waren, die ihm zu schaffen machten.
»Aber ich will dir die Geschichte in ihren groben Abläufen erzählen, damit du die Zusammenhänge besser verstehst.«
Er sammelte sich kurz, holte tief Luft und begann mit leiser Stimme:
»Ich hatte, von Burma kommend, den indischen Subkontinent schon einige Jahre ziellos durchwandert und hörte immer wieder von einem einstmals großen Volk im Nordwesten. Viele Legenden rankten sich um diese Kultur, doch man sprach davon, dass ihre großen Städte nur noch Ruinen wären. Mein Interesse war geweckt, und ich schlug die besagte Richtung ein. Südöstlich vom Indus fand ich die ersten verfallenen Siedlungen. In einem breiten Flusstal, das nur noch von einem kleinen Rinnsal durchflossen wurde, traf ich auf Nachkommen jenes Volkes. Es waren einfache Bauern und Viehhirten, die nur noch ein Schatten der vormals großen Kultur waren. Sie erzählten mir, dass zu den Zeiten, als die großen Siedlungen bewohnt waren, das Flüsschen mehr Wasser führte als der Fluss im Nordwesten, der Indus. Erdbeben und Erdrutsche im Himalaja, dem Quellgebiet des Flusses, leiteten das Wasser in andere Flüsse um. Ausbleibende Regenfälle taten ein Übriges, die Bewässerung der ausgedehnten Felder versagte, und die Bewohner des dicht besiedelten Gebietes, die nicht mehr ernährt werden konnten, wanderten ab. Heute durchziehen nur von Menschen geschaffene Kanäle das Gebiet, doch sie können den großen Fluss von einst nicht ersetzen.«
Eine laut hupende Limousine überholte sie und riss Karim kurz aus seinen Gedanken. Er beschleunigte wieder, hatte er doch den Verkehr für kurze Zeit außer Acht gelassen.
»Aber ich schweife schon wieder ab. Ich wollte dir ja von Siswati erzählen. Als ich sie das erste Mal traf, war sie gerade siebzehn Jahre alt. Ihr Vater wollte sie mit einem Bauernsohn aus der Nachbarschaft verheiraten, einem groben Menschen, der nicht nach Siswatis Geschmack war. Sie floh von zu Hause, und ich stolperte fast über das Häuflein Elend, als ich mich dem Dorf näherte. Schluchzend saß sie unter einem Baum und wusste nicht mehr weiter. Ihr Vater kam mit Freunden, um sie zurückzuholen. Sie schrie, sprang auf und lief mir direkt in die Arme.«
Ein Lächeln zeigte sich in Al-Kismetbahrs Gesicht.
»So lernte ich sie kennen, die Sanfte vom Ghaggra-Hakra-Fluss. Mit einiger Mühe konnte ich ihren Vater davon abbringen, sie zwangszuverheiraten. Da er keine Söhne hatte, sollte ich zum Ausgleich für eine Weile bei der Familie bleiben, um auf den Feldern zu helfen. Daraus wurden dann 29 Jahre. Siswati wurde meine Frau, und nach dem Tod ihrer Eltern führten wir gemeinsam die Landwirtschaft fort.«
Sarah hatte mit einem klagenden Ton ausgeatmet, und er sah sie kurz an. Schnell senkte sie die Lider, und Karim wusste nicht, was er davon halten sollte. Schulterzuckend fuhr er fort:
»Doch der Reihe nach: Im ersten Jahr arbeite ich wie ein Tagelöhner bei der Familie. Siswati war übermütig wie ein junges Fohlen und suchte immer wieder meine Nähe. Langsam lernten wir uns kennen und lieben, ohne dass ihre Eltern etwas davon bemerkten. Nach einem Jahr drängte ihr Vater, dass sie nun endlich einen Mann nehmen müsse, denn sonst wäre sie bald zu alt dafür. Bei einem Gespräch dieser Art eröffnete sie ihm, dass sie nur mich heiraten würde, und mit großen Augen sah er uns an. Es war ihm wirklich entgangen. Mittlerweile waren wir aber bei der Arbeit ein gut eingespieltes Team und ergänzten uns hervorragend. Nach kurzem Zögern stimmte er zu, und so wurde ich Teil der Familie.«
Karim schüttelte traurig den Kopf.
»Es hätte alles perfekt sein können. Ich hatte wieder eine Aufgabe, die mich ausfüllte, eine Frau, die mich von Herzen liebte. Eigentlich viel zu jung und ungebärdig für mich, doch ebenso einfühlsam und hingebungsvoll. Aber irgendwie hing ein Teil von mir immer noch in der Vergangenheit. Ich konnte mit Kazuko einfach nicht abschließen. Die Verbindung mit Siswati blieb wieder kinderlos, und nach einigen Jahren drängten sich Schatten in unser Leben. Ich machte denselben Fehler, den ich schon einmal gemacht hatte, indem ich mich in die Arbeit vergrub und meine Frau vernachlässigte. Siswati litt darunter, ertrug es aber klaglos. Diesmal erkannte ich mein Fehlverhalten von selbst und versuchte es zu ändern. Ob mir das ganz gelang, bezweifle ich, doch Siswati blühte wieder auf. Es folgten einige glücklich Jahre. Ich ließ mir einen Bart wachsen, um älter zu erscheinen. Das gelang auch sehr gut, da Kopf und Barthaar seit Kazukos Tod, fast vollständig ergraut waren. Nachdem ich mir den Schädel noch lange Zeit kurz geschoren hatte, ließ ich die Haare jetzt wachsen. Einige vorgetäuschte Wehwehchen vervollständigten den Eindruck, und keiner schien etwas zu bemerken. Siswati verfiel zunehmend, und mit Mitte vierzig schleppte sie sich nur noch dahin. Sie klagte nicht, und auf meine Fragen fand sie immer plausible Erklärungen. Als mich das nicht mehr beruhigte, versuchte ich vergeblich ihren Körper zu erkunden. Ich glaubte diese Fähigkeit verloren zu haben, da ich alles in dieser Richtung vernachlässigt hatte, doch es hatte einen anderen Grund.«
Karim machte eine kurze Pause, und Sarah wagte nicht, die Stille zu durchbrechen.
»Eines Tages kam ich vom Feld und fand sie, bewusstlos im Haus auf dem Boden liegend. Ich trug sie auf unser Lager und versuchte sie zu wecken, doch ohne Erfolg. In meiner Verzweiflung unternahm ich noch einmal den Versuch, ihren Körper zu erkunden, und diesmal gelang es mir. Was ich herausfand, traf mich hart. Sie hatte Krebs. Ihr ganzer Körper wurde von den wuchernden Zellen zerfressen. Kurz entschlossen versuchte ich mich in der Heilung, was von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Zum einen war die Krankheit schon zu weit fortgeschritten. Zum anderen hatte ich das Training dieser Fähigkeiten stark vernachlässigt. Das Einzige, was ich erreichte, war, dass sie erwachte. Erschrocken blickte sie mich an und fragte:
›Hast du es herausgefunden?‹
Ich nickte nur, und traurig senkte sie die Lider.
›Das wollte ich nicht, und die Stimmen in mir haben es mir auch immer verboten, mit dir darüber zu reden.‹
›Was für Stimmen?‹, fragte ich ungehalten.
›Die, die zu mir sprechen, seit wir uns das erste Mal begegnet sind. Sie helfen mir, aber sie legen mir auch Verbote auf. Und eins davon war, nicht mit dir über die Krankheit zu sprechen.‹
Das verstand ich nicht und ...«
»Die Stimmen in ihr?«, fragte Sarah mit angespannter Stimme.
Karim nickte.
»Ja, als du gestern von den Stimmen in dir sprachst, kam mir derselbe Gedanke. Deshalb bin ich mir auch sicher, dass ich jetzt langsam der Lösung aller Rätsel näher komme.«
»Aber ich verstehe sie nicht. Es ist wie ein Flüstern und Raunen. Unverständlich, undeutlich.«
»Und dennoch lassen sie dich Dinge tun, die du eigentlich nicht kannst, und Sachen wissen, von denen du noch nie gehört hast«, sagte er mit einem fragenden Seitenblick.
»Ja, aber ...«
»Siswati ging es am Anfang ähnlich, doch später konnte sie sich mit ihnen – wie sie sagte – wie mit lebenden Menschen unterhalten.«
Sarah atmete geräuschvoll ein und aus.
»Das macht mir Angst.«
»Was ich gut verstehe, aber ich weiß nicht, was ich dagegen tun könnte. Doch vielleicht solltest du lernen, sie zu verstehen, und alles findet ein Ende. Vielleicht habe ich ja endlich genug gelernt.«
»Genug gelernt?«
»Ja, denn ums Lernen geht es anscheinend. Als ich Siswati fragte, warum ihr die Stimmen verboten hätten, mit mir darüber zu sprechen, sagte sie:
›Damit du lernst, lernst zu verstehen.‹
Doch ich verstand gar nichts. Ich dachte, der Krebs hätte auch ihren Verstand angegriffen und sie halluziniere vielleicht. Erst viel später begriff ich, dass dem nicht so war. Mit aller Kraft versuchte ich, ihr Leiden zu mindern. Am Anfang wollte sie sich dagegen sperren, doch dann gab sie lächelnd nach und sagte:
›Es wird dir nicht gelingen. Du kannst es nur hinauszögern, aber vielleicht ist das auch gut so, denn dabei kannst du vielleicht doch noch etwas lernen.‹
Diese Einstellung machte mich wütend, und im Geheimen verwünschte ich die Stimmen in ihr. Sie schien es zu wissen, lachte darüber und begann mir vieles zu erklären. In der Zeit, als ich sie vernachlässigt hatte, war es ihr gelungen, die Stimmen zu verstehen. Sie konnte Fragen stellen und erhielt fast immer eine Antwort. Auch über meine Vergangenheit unterrichteten sie die Stimmen. Vieles von Kazuko hatte ich vor ihr verheimlicht, doch sie erzählten es ihr. Sie wusste Dinge, die ich ihr niemals verraten hatte, und das verunsicherte mich zusehends. Sie lernte auch viel von ihnen: Verständnis, Hingabe und einiges mehr, was mir zu dieser Zeit in vielen Situationen fehlte. Als die Krankheit sich einstellte, halfen sie ihr, den Schmerz auszublenden und alles mit Geduld zu ertragen. Sie sagte mir, es wäre keine Last für sie gewesen. Im Gegenteil, sie war dankbar für die Jahre mit mir. In den wenigen verbleibenden Monaten erschien sie glücklicher denn je. Immer wieder erzählte sie mir, wie schön es für sie war, als ich mich besann und den Weg zurück zu ihr fand. Im Laufe dieser Gespräche begriff ich, dass es unsinnig ist, im Vergangenen verhaftet zu bleiben. Dass die Zeit, die man damit verbringt, verlorene Zeit ist, etwas, was man niemals wieder aufholen kann. Viele Jahre, die ich mit Siswati hätte glücklich sein können, habe ich so vergeudet. Und obwohl ich das begriffen hatte, habe ich später immer wieder ähnliche Fehler gemacht.«
Sarah blickte nachdenklich auf ihre Hände.
»Was haben ihr die Stimmen noch gesagt? Es waren doch verschiedene?«
Al-Kismetbahr nickte.
»Ja, es scheint eine ganze Gruppe gewesen zu sein, und sie haben über vieles mit ihr gesprochen, doch den Grund für ihr Vorhandensein habe ich nicht erkannt. Das war es doch, was du wissen wolltest, oder?«
»Hm«, stieß Sarah leise hervor. »Einerseits machen mir die Stimmen Angst. Andererseits sehne ich mich nach ihnen. Ich habe das Gefühl, sie gehören zu mir. Aber wenn ich höre, dass sie Siswati nicht geholfen haben und sie drängten, ihre Krankheit zu akzeptieren, ja sie sogar vor dir zu verheimlichen, dann möchte ich sie am liebsten wieder loswerden.«
»Ich gehe davon aus, dass dir das nicht gelingen wird. Viele, mit denen ich näher bekannt wurde, haben mir von den Stimmen erzählt, und ich scheine der Grund für ihr Auftreten zu sein. Es tut mir leid, dass du damit belastet wirst, andererseits hoffe ich, dadurch endlich den ewigen Kreislauf durchbrechen zu können. Han Liang Tian, der alte Abt von Shaolin, sprach als Erster von ihnen. Ihm hatten sie befohlen, mich auszubilden. Mir alles beizubringen, was er wusste. Der Schmied von Sendai erwähnte sie auch. Ihn hatten die Stimmen veranlasst, mich auf der Bandai-Mission zu begleiten. Damals habe ich nicht weiter darauf geachtet, denn gerade der Schmied wählte oft kauzige Erklärungen für sein Verhalten. Doch immer, wenn die Stimmen verstärkt auftraten, habe ich grundlegende Erkenntnisse gewonnen. Auch heute, bei der Grabungsstelle, ist mir durch die Gespräche, die ich in letzter Zeit mit dir geführt habe, etwas bewusst geworden. Ich muss einen der gravierendsten Fehler, den ich jemals begangen habe, korrigieren.«
»Was für einen Fehler?«, fragte Sarah und blickte gespannt in Karims Gesicht.
»Du wirst es erfahren, aber nicht jetzt! Ich muss heute unbedingt noch einiges in die Wege leiten, und dabei kannst du mich leider nicht begleiten. Die Männer, die ich aufsuchen muss, sind strenggläubige Muslime und in der Gegenwart einer Frau würden sie niemals mit mir über die Dinge verhandeln, die ich brauche.«
»Weil ich noch keine entsprechende Kleidung habe?«
»Nein, weil ihnen andere Wertvorstellungen eigen sind. Im Grunde wiederstrebt es mir sie einzubeziehen, doch die derzeitigen Umstände lassen mich keinen besseren Weg erkennen.«
Sarah zog die Brauen hoch und blickte Karim skeptisch an.
»Vielleicht ...«
»Nein Sarah! Ich werde nicht mit dir diskutieren und dir auch nichts weiter darüber sagen.«
Nach einem Blick in seine Augen schüttelte Sarah mit einem enttäuschten Gesichtsausdruck den Kopf. Wieder einmal war es ihr, als kenne sie ihn schon viele Jahre, und die Unumstößlichkeit seiner Meinung war ihr bewusst.
Al-Kismetbahr holte tief Luft, als er merkte, dass er in alte Gewohnheiten verfiel.
»Wenn es dir recht ist, würde ich dich gerne bei einer guten Freundin absetzen. Sie ist die Frau von Hamadi Fathallah, dem befreundeten Regierungsbeamten aus der heutigen Gruppe. Nailah Fathallah hat ein gut gehendes Geschäft in Kairo. Sie kann jede Frau in jeder gewünschten Form einkleiden, und zur Entspannung gibt es auch noch ein Café. Männer wirst du dort nicht finden, aber ich denke, Nailah wird dir gefallen.«
»Soll ich mir dort die Kleidung besorgen, von der du sprachst?«
»Nur, wenn du willst. Lass dich von ihr beraten, wenn dir nichts gefällt, kaufst du nichts.«
In der Zwischenzeit waren sie schon in Kairo angelangt und fuhren gerade über eine Brücke, um auf die andere Seite des Nils zu kommen. Kurze Zeit später hielt Karim am Rande einer belebten Einkaufsstraße. Nach wenigen Metern Fußweg liefen sie an den gut dekorierten Schaufenstern und dem Eingangsportal eines Bekleidungsgeschäftes vorbei, dessen Auslagen nur strenggläubige Muslime anzusprechen schienen.
Al-Kismetbahr führte Sarah nach dem letzten Schaufenster in einen offenen Hauseingang, folgte der Treppe in den ersten Stock und klingelte an einer unscheinbaren Tür. Kurze Zeit später öffnete eine junge Frau. Ihr Haar war mit einem Kopftuch bedeckt und das Verhalten sehr demütig. Sie warf einen Blick auf Karim, ein Lachen huschte über ihr Gesicht, und die Haltung lockerte sich. Über die Schulter rief sie nach jemanden. Augenblicke später machte sie einer anderen Frau Platz, und Sarah riss die Augen auf.
Eine strahlend schöne Araberin stand vor ihr. Das lange, schwarz gelockte Haar trug sie offen. Dem dezent geschminkten Gesicht verlieh die kühn geschwungene Nase eine fast herrische Note, doch die lachenden Augen schlossen jeden sofort ins Herz und milderten den ersten Eindruck. Schmale Lippen wurden von Fältchen begrenzt, die zeigten, dass die Frau gerne und oft lachte. Gekleidet war sie mit einem leichten Kleid, dessen Ausschnitt nichts vom Dekolleté sehen ließ. Der weite Ärmelabschluss endete knapp über den Handgelenken, und die Fußgelenke waren nicht sichtbar. Es wirkte edel mit seiner schimmernden dunkelgrünen Farbe und einem Schnitt, der Männeraugen anzog.
Nach einem Blick über Karims Schulter fiel sie ihm lachend um den Hals. Erst nachdem sie ihn kräftig an sich gedrückt hatte, wandte sie sich Sarah zu.
Al-Kismetbahr übernahm die Vorstellung auf Englisch.
»Das ist Sarah Liebherr, eine Freundin aus Deutschland. Sie ist das erste Mal in Ägypten und kann sich nur in Englisch mit dir unterhalten.«
Karim deutete auf die Ägypterin.
»Sarah, das ist Nailah Fathallah, die Frau meines Freundes.«
Nailah umarmte Sarah und drückte ihr dann herzlich die Hand.
»Alle Freunde von Karim sind mir herzlich willkommen«, sagte sie in perfektem Englisch.
Nachdem sie einen Schritt zurückgetreten war, blickte sie von Sarah zu Karim und fragte:
»Was kann ich für euch tun?«
»Sarah braucht angemessene Kleidung. Nicht zu züchtig, nur um auch bei Männern wie Zarif Al-Meschwesch und bestimmten Ämtern zu bestehen.«
Nailah nickte.
»Das sollte kein Problem sein, möchtest du im Männerzimmer warten?«
Karim lachte kurz auf.
»Du weißt, dass ich keine Wasserpfeife rauche oder anderweitige Zerstreuung brauche. Auch die Gesellschaft dort ist nicht nach meinem Geschmack. Ich muss noch dringende Dinge erledigen und würde Sarah gerne in deiner Obhut lassen. Es könnte zwei, drei Stunden dauern, ist das möglich?«
»Selbstverständlich. Die Zeit wird ihr nicht zu lang werden, das verspreche ich dir.«
Nailah legte Sarah den Arm um die Schulter und dirigierte die etwas überrumpelte Frau in Richtung Tür.
»Warte«, rief Karim und drückte Nailah eine Kreditkarte in die Hand. »Geht alles hier drauf.«
»Du hast unbegrenzten Kredit, das weißt du.«
»Und ich will das nicht, das weißt du.«
Lachend schob sie ihn zur Seite und schloss die Tür.