Читать книгу Traum oder wahres Leben - Joachim R. Steudel - Страница 5
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ОглавлениеNailah führte Sarah an einem offenstehenden Büro vorbei, zog einen Vorhang zur Seite und betrat den Geschäftsbereich. Mit offenem Mund blickte Sarah in die Runde.
»Du müsstest dein Gesicht sehen, Sarah«, sagte Nailah mit unterdrücktem Lachen.
Sarah schloss den Mund, war aber unfähig zu antworten.
»Ich darf dich doch Sarah nennen, oder?«
»Natürlich«, brachte diese mühsam hervor.
»Dieser Bereich hier scheint dich zu verwirren?«
»Na ja, nach den Auslagen im Schaufenster hatte ich keine Abteilung mit so aufreizenden Dessous erwartet.«
Nailah wurde wieder ernst und sagte mit trauriger Stimme:
»Das ist das Ergebnis der Propaganda, die fanatische Muslime in die Öffentlichkeit tragen. Auch viele Muslima zeigen gerne ihre Reize, aber eben nur ihren Männern. Sie tragen sie nicht in aller Öffentlichkeit zur Schau, ein Thema, über das es viel zu sagen gäbe. Vielleicht sollten wir erst deine Kleidung aussuchen, und dann können wir uns entspannt bei einem Kaffee unterhalten.«
Sarah nickte und folgte ihr in die untere Etage. Nailah musterte sie einen Augenblick, ging zu einem Kleiderständer, nahm einen Damen-Kaftan, hielt ihn vor Sarah, schüttelte den Kopf und nahm den nächsten. Nach drei weiteren schob sie Sarah mit einem dunkelblauen Kaftan in die Umkleidekabine. Als Sarah heraustrat, lächelte Nailah zufrieden. Sie machte den Blick auf den Spiegel frei, und Sarah betrachtete sich von allen Seiten. Die weiten Ärmel erinnerten ein wenig an die Hippiezeit, doch die silberne orientalische Stickerei verlieh dem Kaftan ein edles Aussehen. Kurze Schlitze am Saum ließen bei bestimmten Bewegungen ein klein wenig von der Wade sehen und milderten den strengen Schnitt.
»Das ist etwas, was du tragen solltest, wenn ihr tolerante Besucher empfangt oder bei Männern wie Zarif Al-Meschwesch eingeladen seid.«
»Muss ich dazu ein Kopftuch tragen?«
»Nein, das passt nicht zu diesem Kaftan, und für andere Anlässe suchen wir noch Kleidung aus.«
Skeptisch blickte Sarah in den Spiegel.
»Aber Zarif wirkte wie ein Mann aus einer anderen Zeit. Streng und verschlossen. Würde er sich nicht am offenen Haar stören?«
Nailah schüttelte lächelnd den Kopf.
»Lass dich durch unsere regierende Muslimbruderschaft nicht täuschen. Das ägyptische Volk ist im Großen und Ganzen sehr aufgeschlossen. Sicher sind die meisten dem Islam verbunden, doch gerade was die Kleidung betrifft, gibt es keine allgemeingültige Regelung. Jedes islamische Volk hat seine eigenen Vorgaben, und Ägypten mit seinen vielen ausländischen Touristen ist in dieser Hinsicht sehr offen. Was die Meschwesch betrifft, so sind es zwar gläubige Muslime, aber schon immer offen für Andersdenkende gewesen. Zarif würde dich auch in westlicher Kleidung willkommen heißen, aber so gekleidet, steigst du wesentlich in seiner Achtung.«
Unter ähnlichen Gesprächen suchten sie noch eine zweiteilige Abaya, eine Tunika mit einer weiten faltenreichen Hose und eine Jabador-Tunika mit Hose aus. Den Abschluss auf dieser Etage bildeten die Auslagen mit den Kopftüchern. Sarah entschied sich für zwei Hijap-Sets, ein mehrfarbiges Seidenkopftuch mit Fransen und ein schlichtes weißes Kopftuch.
Nailah begutachtete ihre Wahl und nickte zufrieden.
»Damit hast du für jeden Anlass das Passende. Die Bandana lassen wir weg. Karim sagte, die Kleidung muss nicht zu züchtig ausfallen, also kannst du deinen Haaransatz ruhig zeigen. Jeder kann sehen, dass du keine Ägypterin bist, und man wird die Kleidung als Geste des guten Willens deuten.«
Auf einen Wink von Nailah kam eine Angestellte, die gerade die Auslagen ordnete, und nahm die bisher ausgesuchte Kleidung entgegen.
»Nimm die Preisschilder ab und bring die eingepackte Ware nach oben. Oder möchtest du noch etwas von hier?«, fragte sie Sarah.
»Nein, ich denke das reicht. Es gefällt mir ohnehin nicht, auf Kosten Karims eingekleidet zu werden.«
Lachend legte Nailah den Arm um Sarah und schob sie zu Treppe.
»Mach dir da mal keine Sorgen. Er will es so, und solche Kleinigkeiten tun ihm nicht weh.«
»Dennoch ist es nicht nach meinem Geschmack. Wir kennen uns ja noch nicht lange. Bei jedem anderen hätte ich mich geweigert, das Angebot anzunehmen, doch bei ihm ... ist alles irgendwie anders.«
Sie waren in der ersten Etage angekommen, und Nailah blieb stehen, um Sarah intensiv zu mustern.
»Hm, das kann ich kaum glauben. Ich spüre ein Band zwischen euch, das stärker ist als alles, was ich bisher an ihm wahrgenommen habe. In deinen Augen kann ich eine Sehnsucht sehen, die ich selbst einmal verspürt habe. Auch wenn noch Zweifel in deinem Herzen wohnen, verbindet euch etwas, was stärker ist als eine lange Freundschaft.«
»Hast du auch solche Fähigkeiten wie er?«
»Was für Fähigkeiten?«, fragte Nailah mit hochgezogenen Brauen.
»Ach nichts ... ich dachte nur ...«, stotterte Sarah, dem Blick der Freundin ausweichend.
»Wenn du eine gute Beobachtungsgabe meinst, dann stehe ich ihm sicher nicht nach. Ich habe deinen Blick gesehen, als ich ihn zur Begrüßung umarmte. Höre die Unsicherheit in deiner Stimme, wenn wir auf ihn zu sprechen kommen, und spüre, wie du dich nach ihm sehnst.«
Sarah schluckte vernehmlich, und ihre Wangen röteten sich.
»Ist es wirklich so offensichtlich?«
Mit einem leisen Auflachen drückte Nailah sie herzlich an sich.
»Mach dir keine Gedanken. Andere sehen es vielleicht nicht gleich, aber ich bin ein bisschen sensibel in dieser Richtung, da mich die gleichen Gefühle auch einmal beherrscht haben. Heute weiß ich, dass ich nicht den Funken einer Chance hatte, doch bei dir scheint das anders zu sein.«
»Meinst du?«, fragte Sarah mit einem hoffnungsvollen Aufflackern in den Augen.
»Ja, da bin ich mir sicher. Willst du es testen? Du findest in dieser Etage alles, um einen Mann zu betören. Such dir ein paar schöne Dessous aus. Schmuck und Make-up sind auch in jeder Richtung zu finden, und ein paar Tipps bekommst du gratis.«
Jetzt war es Sarah, die lachte.
»Ich denke, Tipps brauche ich nicht von dir, ich habe da sicher mehr Erfahrung. Doch, ob das bei ihm hilfreich ist, bezweifle ich.«
Prüfend blickte sie in die Runde.
»Make-up mag er nicht, Schmuck ist etwas Äußerliches, worauf er keinen Wert legt, aber schön Verpacktes könnte ihn vielleicht reizen«, sagte sie mit Blick auf die Dessous.
»Du kennst ihn anscheinend viel besser als ich«, sagte Nailah und strebte den Unterwäscheauslagen zu.
»Warte, das geht nicht. Unser Aufbruch war so plötzlich, dass ich keine Möglichkeit hatte, Geld umzutauschen. Ich kann’s also nicht bezahlen.«
»Dann nehm ich’s mit auf seine Kreditkarte.«
»Auf keinen Fall! Aber vielleicht kann ich mit meiner EC-Karte zahlen?«
»Leider nicht, unser Lesegerät akzeptiert solche Karten nicht. Aber wir können zur Bank auf der anderen Straßenseite gehen, und du hebst am Automaten etwas ab.«
Freudig stimmte Sarah zu, und bald darauf stand sie wieder vor den Dessous und stöberte mit ruhigerem Gewissen in den Auslagen. Wenn Nailah etwas vorschlug, schüttelte sie meist den Kopf und wählte etwas anderes.
Nach einiger Zeit war sie zufrieden mit ihrer Auswahl, hatte bezahlt und drückte mit klopfenden Herzen das kleine Packet an sich. Unsicherheit kam in ihr auf. War es richtig, was sie vorhatte? Sie war sich ja selbst noch nicht sicher, was sie fühlte. War sie wirklich verliebt in ihn, oder waren das Gefühle anderer aus den Geschichten, die er ihr erzählt hatte?
Nailah merkte nichts von ihrer Unsicherheit und führte sie, fröhlich auf sie einredend, in das zum Geschäft gehörende Café. Sarah erfasste kaum, was Nailah sagte, und erst als Karims Name fiel, riss sie sich aus ihren Grübeleien.
»Wie lange kennst du Karim schon«, hatte Nailah gefragt und nur stockend kam ihre Antwort.
»Noch nicht einmal zwei Wochen. Und nur vier Tage, wenn ich die Zeit rechne, die wir bisher gemeinsam verbracht haben. Dennoch ist mir, als kenne ich ihn schon ewig. Diese vier Tage waren so intensiv, so angefüllt mit Informationen, dass ich mich fühle, als hätte ich mein halbes Leben mit ihm verbracht.«
Ungläubig schüttelte Nailah den Kopf.
»Sollte ich mich so täuschen? Ich habe eine derart starke Vertrautheit zwischen euch gespürt, dass ich dachte, ihr seid schon lang ein Paar.«
»Na ja, so falsch liegst du nicht, denn die Vertrautheit ist auf jeden Fall da. Er hat mir Dinge aus seinem Leben erzählte, die noch niemand so von ihm erfahren hat ..., sagt er zumindest. Aber auf jeden Fall hat er mir Kraft gegeben und mich ins Leben zurückgeholt.«
»Wie meinst du das: ins Leben zurückgeholt?«
»So, wie ich es sage. Ich wollte sterben, meinem Leben ein Ende setzen, und er hat mir gezeigt, dass dies der falsche Weg gewesen wäre.«
Nailah setzte ihre Kaffeetasse langsam ab und musterte Sarah zum wiederholten Male skeptisch.
»Aber warum denn das? Du bist jung, scheinst gesund und klug zu sein. Ausnehmend hübsch bist du außerdem. Aus welchem Grund wolltest du das alles wegwerfen?«
Sarah überlegte, wie viel sie ihr erzählen sollte, schüttelte den Kopf und kam zu dem Schluss, dass es gut wäre, sich auch einmal mit jemand anders darüber auszutauschen.
»Weil ich an einem Punkt angekommen war, der mich die Oberflächlichkeit meines Lebens erkennen ließ. Ich habe für den Kick, den Lustgewinn, mich und meinen Körper verkauft. Meine Lehre abgebrochen, alle Zukunftschancen ignoriert. Mit meinen Eltern gebrochen, weil sie sich meiner schämten. Nur für den Augenblick gelebt. Befriedigung in einer Welt gesucht, die nicht real ist. Tausende können das jetzt sehen, und ich schäme mich dafür, doch damals hat mich mein Körper und nicht der Kopf beherrscht.«
Mit offenem Mund starrte Nailah sie an, und stockend fragte sie:
»Du hast bei Pornos mitgewirkt?«
»Ja«, antwortete Sarah trocken. »Jetzt siehst du mich mit anderen Augen, und ich kann es dir auch nicht verübeln.«
»Nein, warte.« Beschwichtigend hob Nailah die Hände. »So war das nicht gemeint. Ich kann’s nur kaum glauben, denn du wirkst überhaupt nicht so, wie ich mir solch einen Menschen vorstelle.«
»Was entspräche denn deiner Vorstellung? Müsste ich halb nackt herumlaufen, schmierige Worte auf den Lippen haben und jeden Mann anmachen?«
Jetzt röteten sich Nailahs Wangen, und beschämt senkte sie den Blick.
»Ich ... ich weiß nicht. Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. Entschuldige, ich bin mit der Situation etwas überfordert.«
Sarah lachte kurz auf.
»Wie viele andere, die in bestimmten Moralvorstellungen gefangen sind. Bis ich Karim kennenlernte, kannte ich nur zwei Typen Mensch. Die, die sich für mich schämten oder angewidert den Blick abwendeten, und die, die eine ähnliche Sehnsucht verspürten, mich mit ihren Blicken auszogen und in mich eindrangen. Damals hat mich das nicht gestört. Es hat den Kick nur noch erhöht, doch irgendwann begann ich zu zweifeln. Von da an sehnte ich mich nach einem normalen Leben mit Familie und allem, was dazugehört. Ich konnte mir jedoch nicht vorstellen, dass ein Mann bei meiner Vergangenheit so etwas in Erwägung zieht. Deshalb der Wunsch nach einer Flucht aus dem Leben.«
»Und Karim weiß das alles?«
»Er hat es nie so direkt ausgesprochen wie du.« Wieder stieg das Blut in Nailahs Wangen. »Aber seine Worte sagten mir, dass er mein Innerstes erkannt hatte und alles wusste. Zuerst dachte ich, dass auch er sich diese Filme reinzog, doch bald erkannte ich seine andere Seite, die vielleicht nicht einmal du kennst. Karim ist anders, er hat Verständnis für alles und eine besondere Art, damit umzugehen.«
»Keine Ahnung, was für eine Seite du meinst, aber offenbar hast du ihn in den wenigen Tagen besser kennengelernt als ich in mehreren Jahren.«
Naila lachte kurz auf.
»Und da wollte ich dir Tipps geben, wie man einen Mann betört. Die könnte ich mir vermutlich bei dir holen.« Sie suchte Sarahs Blickkontakt. »Woher weißt du, dass er kein Make-up mag, und warum hast du die Stringtanga abgelehnt?«
»Weil er mir alles, bis ins kleinste Detail, über seine größte Liebe erzählt hat. Über ein Leben mit einer Frau, die Außergewöhnliches in sich vereinte. Sie war klug, selbstbewusst, sensibel und hatte eine Art, mit dem Leben umzugehen, die vielen unmöglich erscheint. Auch sie mochte kein Make-up und verstand es, Karim mit Halbgezeigtem mehr in Fahrt zu bringen als mit Offensichtlichem.«
Nailahs Augen waren bei jedem Wort größer geworden.
»Das hat er dir alles erzählt? Solche intimen Sachen?«
»Ja und auf eine Art, die du dir nicht vorstellen kannst. Doch das ist jetzt nebensächlich. Ich bin mir nicht mehr so sicher, ob ich die Initiative ergreifen soll. Vielleicht ist es besser, wenn ich erst einmal abwarte, wie sich alles weiterentwickelt.«
»Hm, warum? Du hast von der Frau immer in der Vergangenheitsform gesprochen. Also gehe ich davon aus, dass diese Beziehung nicht mehr besteht. Ich habe ihn bis heute auch nie mit einer Frau gesehen, die seine Partnerin sein könnte, und nahm immer an, dass er ein Einzelgänger ist.«
»Ein Einzelgänger ist er bestimmt nicht, das kann ich mit Sicherheit sagen. Die Frau, von der ich sprach, ist auch schon vor einiger Zeit, durch tragische Umstände ums Leben gekommen, aber in Gedanken hängt er immer noch an ihr. Was mich am meisten verunsichert, ist die kurze Zeit, die wir uns erst kennen. Kann ich da wirklich überzeugt sein, dass ich ihn liebe?«
»Gewiss, auch ich habe mich so verhalten, als ich diese Gefühle für ihn hegte. Ob es allerdings eine Liebe ist, die Bestand hat – die auch im Alltag bestehen kann –, das kann nur die Zeit zeigen.«
»Hat er dich abgewiesen, oder hast du dich ihm nie erklärt?«
Nailah holte tief Luft.
»O doch, das habe ich, aber vielleicht habe ich dabei auch jede Menge Fehler gemacht.«
Sarah wartete, dass sie weitersprach, doch Nailah blickte nachdenklich auf ihre Kaffeetasse.
»Entschuldige, ich wollte nicht an Dingen rühren, die mich nichts angehen.«
Aus ihren Gedanken gerissen, sah Nailah hoch und schüttelte leicht den Kopf.
»Nein, das sind keine Geheimnisse. Ich dachte nur gerade an diese Zeit, die in vieler Hinsicht anders und zum Teil schöner war.«
Sie winkte der Bedienung und bestellte zwei Kaffee mit etwas Gebäck.
»Doch der Reihe nach, wir haben ja noch Zeit. Ich habe Karim Al-Kismetbahr bei meiner früheren Arbeit kennengelernt. Stolz auf meinen frisch erworbenen Doktortitel in Ägyptologie trat ich eine Stelle im Ministerium für Altertümer an. Während einem meiner ersten Feldeinsätze sollte ich mich auf Anweisung meiner Vorgesetzten mit einem Kenner der altägyptischen Geschichte beraten. Seine Hinweise sollte ich unbedingt beachten.«
Nailah lachte kurz auf.
»Es kam mir wie eine Ohrfeige vor. Ich hatte mir den Titel erarbeitet. Nach meiner Ansicht war mir alles bekannt, was es über die Pharaonenzeit zu wissen gab, und da sollte ich einen unbekannten Möchtegern-Archäologen als Berater akzeptieren? Wütend erwartete ich den Mann an der Grabanlage. Ich hatte mir einen schönen Plan zurechtgelegt, um ihn gleich auflaufen zu lassen, doch der ging gründlich daneben.«
Bei den Bildern, die in ihrer Vorstellung aufstiegen, musste sie kurz auflachen.
»Das Erste, was mich verunsicherte und nachhaltig beeinflusste, war seine Ausstrahlung. Bei der Begrüßung konnte ich nur mühsam den Blick von ihm wenden, und ähnlich erging es allen anderen in unserem Team. Aber das kennst du ja sicher?«, sagte sie mit einem Seitenblick auf Sarah.
»Unsere erste Begegnung verlief etwas anders, denn ich war in diesem Augenblick am Tiefpunkt meines Lebens angelangt, doch ich kann es mir lebhaft vorstellen.«
»Wie dem auch sei, bei mir war es so, dass ich, nachdem ich mich wieder gefangen hatte, meinen schön durchdachten Plan in Angriff nahm. Ich wollte allen zeigen, dass mein Wissen weit über dem seinen lag und wir eine Unterstützung nicht nötig hatten. In einem Priestergrab, nach damaliger Datierung um 1250 v. Chr. angelegt, waren bei Restaurierungsarbeiten übermalte Hieroglyphen zum Vorschein gekommen, deren Hintergründe ich herauszufinden sollte. Ich führte Karim in das Grab und zeigte ihm die besagte Stelle. Eingehend betrachtete er die Wand, beleuchte sie mit einem Scheinwerfer aus verschiedenen Winkeln und erschien ein wenig ratlos. Siegessicher äußerte ich bewusst eine Unwahrheit über den Text an der Wand, um seine mangelnde Fachkenntnis bloßzustellen.«
Nailah stieß geräuschvoll Luft durch die Nase aus und verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln.
»Als hätte er nichts anderes erwartet, sagte er mit einem bezeichnenden Unterton:
›Sie wissen es doch besser. Dieses Grab des Vorlesepriesters Qenamun wurde unter anderen vom Bildhauer Hui und Vorzeichner Amunwashu gestaltet, denselben Handwerkern, die auch im Grab des Paser erwähnt werden. Insofern stimmt die Datierung des Grabes in etwa, aber ich gehe davon aus, dass es zehn bis fünfzehn Jahre jünger ist als das Grab des Paser. Die Reliefs im Eingangsbereich und die Malereien hier sind feiner gearbeitet und weisen auf eine bessere Fertigkeit der Handwerker hin.‹
Ich war für einen Moment unfähig, verständliche Sätze zu bilden, und fragte stotternd, wie er auf diese Handwerker komme.
›Sollten sie die Namenskartusche hier nicht kennen?‹, fragte er mit einem süffisanten Lächeln und deutete auf die von Amunwashu. ›Und hier, wo die alten Zeichnungen zum Vorschein kamen, ist der obere Teil der Namenskartusche des Handwerkers Hui. Es ist äußerst ungewöhnlich, dass so bedeutende Handwerker das Grab eines Vorlesepriesters gestalteten. Entweder hatte er sehr viel Einfluss, oder er verfügte über ein hohes Vermögen. Die Grabanlage ist zudem sehr groß für einen Mann in dieser Position, doch ich denke, das hat andere Gründe.‹
Er griff erneut zu dem Scheinwerfer und beleuchtete die Wand aus einem seitlichen Winkel.
›Sehen sie hier – wo der neuere Verputz sehr dünn ist – scheinen ganz schwach Hieroglyphen durch. Die vorderen könnten ein Teil der Zeichen für erster Gottesdiener – hem-netjer-tepi – sein, und dann folgt die Darstellung des Gottes Aton. Ich vermute, dass dieses Grab ursprünglich für einen Hohepriester des Gottes Aton bestimmt war. Als das Andenken des Ketzerkönigs Echnaton getilgt wurde, erlitten viele seiner hochgestellten Anhänger dasselbe Schicksal, und vielleicht war die Umgestaltung hier ein Teil dieses Prozesses. Doch es liegen circa hundert Jahre zwischen der Regentschaft Echnatons und der zweiten Widmung des Grabes. Meine Gedanken sind also sehr spekulativ.‹
Er hatte mich in meine eigene Falle laufen lassen, und ich stand da wie eine unwissende Schülerin.«
Nailah schüttelte den Kopf, und Sarah nutzte die entstandene Pause für eine Frage.
»Warst du damals nicht sehr wütend auf ihn?«
»Und wie! Ich wünschte ihm die Pest an den Hals, andererseits beeindruckte mich sein Fachwissen enorm. Er hatte mich bewusst vorgeführt, wie ich es mit ihm tun wollte, das gestand er mir später auch ein. Nach diesem ersten Zusammenstoß entwickelte sich eine wundervolle Zusammenarbeit. Ihm standen Mittel zur Verfügung, von denen unser Ministerium nur träumte. Innerhalb von zwei Tagen organisierte er einen modernen Terahertz-Scanner, mit dem wir zerstörungsfrei die unteren Schichten sichtbar machen konnten. Teile der alten Malereien und Hieroglyphen waren unwiederbringlich verloren, vermutlich sogar herausgemeißelt. Das galt für alle Darstellungen des Hohepriesters und auch für seinen Namen. Doch der größte Teil der Schriftzeichen war erkennbar, und Karim las die Hieroglyphen wie ich eine Zeitung. Seine Vermutung bewahrheitete sich: Es war ursprünglich das Grab für einen Hohepriester des Aton gewesen. Ob dieser jemals darin beigesetzt oder ob die Anlage schon vor seinem Tod umgestaltet worden war, konnten wir nicht herausfinden. Auch der Grund, warum später der Lesepriester Qenamun hier seine letzte Ruhe fand, blieb im Dunklen. Die Zusammenarbeit mit Karim Al-Kismetbahr beflügelte mich. Er lehrte mich Dinge über die altägyptische Archäologie, die keiner meiner Professoren je erwähnt hatte. In seiner Nähe fühlte ich mich energiegeladen wie noch nie. Deshalb dauerte es auch nicht lange, bis ich ihn anhimmelte und mich nach mehr sehnte. Aber zweideutige Anspielungen ignorierte er, und als ich mich schließlich offenbarte, wies er mich ab.«
»Er gab dir einen Korb? Mit welcher Begründung?«, fragte Sarah.
»Oh, die war plausibel, und heute bin ich ihm dankbar dafür, denn er hat mir ein glückliches Leben ermöglicht. Nicht ohne bitteren Beigeschmack, aber das liegt nicht an ihm.«
»Weil er dich abgewiesen hat?«
»Nein, heute weiß ich, dass es richtig war, denn meine Sehnsucht beruhte auf der Verehrung für sein Wissen, Können und seiner Ausstrahlung, was er mir deutlich vor Augen führte. Ich bin mir jetzt auch sicher, dass es bald Konflikte zwischen uns gegeben hätte, denn seine Art zu leben steht im krassen Gegensatz zu meiner. Dieses Unstete, wenig Sesshafte passt nicht zu mir. Im ersten Moment war ich wie vernichtet, doch andere Ereignisse traten in den Vordergrund. Mursi kam an die Macht und besetzte immer mehr Posten mit islamistisch geprägten Männern. Dummerweise war unser Ministerium schon vorher von Mustafa Amin übernommen worden. Er ist streng gläubiger Muslim und bevorzugt Männer als Mitarbeiter. Bald wurden mir von allen Seiten Steine in den Weg gelegt, und ich bekam nur noch die Aufgaben einer besseren Sekretärin. Eine Entlassung drohte mir nicht, aber die Arbeit füllte mich nicht mehr aus. In dieser Phase öffnete mir Karim auch in anderer Hinsicht die Augen. Ich arbeitete schon einige Zeit mit Hamadi zusammen, hatte aber durch meine Fixierung auf Karim nicht bemerkt, wie sehr er sich nach mir verzehrte. Bei Hamadi erkannte ich die wahre Liebe und bin überaus glücklich mit ihm.«
»Aber wie kommst du bei so einem beruflichen Werdegang zu diesem Geschäft?«, fragte Sarah mit einem Stirnrunzeln.
»Durch Karim Al-Kismetbahr. Er bemerkte sofort, dass mich der Beruf nicht mehr ausfüllte, und baute mit mir zusammen diese neue Existenzgrundlage auf. Ohne seine Mittel wäre das niemals möglich gewesen. Das Schöne daran ist, dass ich anderen Frauen, die in ähnlichen Situationen sind, helfen kann. In unserer intimen Atmosphäre kann ich Beziehungen aufbauen, in solchen Kaffeegesprächen Hintergrundwissen erwerben und über ein geheimes Netzwerk von Karim Unterstützung anbieten. Vielen Frauen, die unter den neuen Verhältnissen leiden, konnten wir in der kurzen Zeit, in der mein Geschäft besteht, schon helfen. Aber das Beste ist, dass ich durch meinen Mann weiterhin an der Forschung zur altägyptischen Geschichte beteiligt bin, denn abends wird unsere Wohnung zu einem Büro für Ägyptologie.«
Beide Frauen nippten nachdenklich an ihrem Kaffee. Nailah dachte an ihre Zeit im Ministerium zurück, und Sarah fragte sich, ob ihre Liebe zu Karim wirklich echt war und eine Zukunft hatte.
Zur gleichen Zeit saß Safi Al-Meschwesch mit seinem Vater Zarif unweit der Pyramiden von Gizeh unter einem Vorzelt und trank arabischen Kaffee. Safi hatte sich im Zelt seines Vaters umgezogen und passte nun perfekt in das beduinische Umfeld. Der abgegrenzte Bereich mit den zehn Zelten und doppelt so vielen Kamelen wirkte wie aus einer anderen Zeit. Aber das war gewollt, denn die Bewohner verdienten ihren Lebensunterhalt damit, den Touristen genau das vorzugaukeln. Reiseveranstalter buchten Wüstentouren bei ihnen, und Einzelpersonen konnten kurze Kameltrips in die Umgebung unternehmen. Vor einem der Zelte war ein Stand mit Souvenirs, und gegen Bakschisch ließen sich die Bewohner fotografieren. Abende am Lagerfeuer gehörten genauso zum Angebot wie eine Einladung zum arabischen Kaffee.
Soeben hatte sich eine junge Europäerin mit den beiden Männern fotografieren lassen, und Zarif nahm mit einem freundlichen Lächeln das Trinkgeld in Empfang. Safi musste seine ganze innere Kraft aufwenden, um keinen Abscheu zu zeigen. Sobald die Touristen außer Hörweite waren, zischte er seinem Vater zu:
»Es ist erniedrigend! Ich komme mir vor wie ein Affe im Zoo. Wie kannst du nur so leben? Es geht sicher auch ohne diese demütigenden Auftritte, die einer der Gründe sind, warum ich nicht mehr hier leben möchte.«
Dabei stand seine Mimik im krassen Gegensatz zu seinen Worten, und jeder Außenstehende hätte einen ganz anderen Gesprächsinhalt vermutet.
»Es ist weiter nichts als ein Geschäft. Wenn du im Namen Karims Verhandlungen führst, trägst du auch nicht deine wahren Gedanken nach außen. Es wäre ja auch unpassend, wenn du zeigtest, wie einträglich das Gespräch gerade war. Genauso ist es hier, ich kann diese Menschen freundlich behandeln, ihnen das Gefühl geben, willkommen zu sein, und meinen Vorteil daraus ziehen. Der eine ist mir sympathischer als der andere, doch nur in ganz seltenen Fällen zeige ich das. Außerdem verdiene ich gutes Geld damit, und es erinnert mich immer an die Vergangenheit unseres Volkes.«
»Warum bist du nur so sehr dem Vergangenen verhaftet? Wir leben doch jetzt in einer völlig anderen Zeit mit unendlich vielen Möglichkeiten, die es früher nicht gab. Nutze die doch! Fahr die Touristen mit dem Quad oder einem Jeep in die Wüste. Auf diese Weise kannst du sie viel weiter hineinbringen und ihnen Dinge zeigen, die sie hier, in der Nähe des Flusses, niemals zu sehen bekommen«, zischte Safi zurück.
Traurig schüttelte Zarif den Kopf.
»Und schon sind wir wieder an dem Punkt, der uns entzweit hat. Warte hier, ich möchte dir etwas zeigen«, sagte er beim Aufstehen und ging ins Zelt.
Kurze Zeit später kam er mit einem akkurat gewebten Sitzkissen zurück, ging in die Hocke, nahm das, auf dem er gesessen hatte, in die andere Hand und hielt beide Safi entgegen.
»Welches Kissen ist besser?«
»Was soll denn das jetzt wieder?«, fauchte Safi ungehalten.
»Beantworte einfach meine Frage, ohne gleich wieder aggressiv zu werden.«
Safi holte tief Luft, schloss kurz die Augen und dachte an die Gespräche mit Karim zurück. Der hatte ihm oft seine ungeduldige und intolerante Art, die er vor allem gegenüber seinem Vater an den Tag legte, vor Augen geführt. Mit einem Lächeln öffnete er die Lider, musterte die Kissen eingehend und sagte:
»Natürlich das, auf dem du gesessen hast.«
Zarif nickte.
»Gut, und warum? Das andere hier scheint doch perfekter zu sein. Keine Webfehler, feinere Fäden, makellose Muster. Weshalb würdest du das alte Kissen dem neuen vorziehen?«
Schon wieder wollte Ungeduld in Safi aufsteigen, doch er beherrschte sich und sagte betont ruhig:
»Weil ich dasselbe weiß wie du. Das neuere Kissen ist industriell gefertigt und taugt nicht für das Alltagsleben. Jedenfalls nicht bei uns. Die feineren Fäden sind bei dem ständigen Gebrauch hier viel schneller durchgescheuert, der allgegenwärtige Sand tut ein Übriges. Bei dem anderen Kissen wurde die Schafwolle mit Kamelhaar gemischt, wodurch die Fäden viel haltbarer sind. Die Füllung des alten Kissens ist auch besser zum Sitzen geeignet. Sie …«
»Bleiben wir mal beim Bezug, denn der spielt bei dem, was ich dir erklären will, die Hauptrolle«, unterbrach ihn sein Vater.
Er setzte sich wieder auf das alte Kissen und legte das andere zwischen sie.
»Du weißt, dass unsere Frauen die Kissen nach der alten Tradition fertigen. Da wir nicht ausreichend Kamelhaar beschaffen können, werden die meisten Bezüge aus reiner Schurwolle gewebt, was wir den Besuchern immer gesagt haben, und wenn einer ein traditionelles haben wollte, hat er es für einen angemessenen Preis auch bekommen. Eine Zeitlang war die Nachfrage so groß, dass wir weder die einen noch die anderen anbieten konnten. Da haben wir uns entschlossen, Bezüge hinzuzukaufen. Einen solchen siehst du hier.«
Zarif zeigte auf das Kissen zwischen ihnen.
»Es hat uns nichts als Ärger gebracht. Die Käufer haben bemerkt, dass sie die gleichen anderswo zu einem günstigeren Preis kaufen konnten. Dass die Herstellung nichts mit der Lebenswese hier zu tun hat, und sie fühlten sich betrogen. Wir mussten für eine gewisse Zeit einen gewaltigen Imageschaden hinnehmen, von dem wir uns nur mit Mühe erholt haben. Jetzt verzichten wir auf das Geschäft, wenn wir keine Bezüge vorrätig haben, aber den Frauen kann gegen ein Bakschisch beim Weben zugesehen werden. Es kommt sogar vor, dass wir Bestellungen entgegennehmen und den Bezug, dessen Herstellung gesehen wurde, zu einem deutlich höheren Preis zusenden. Die Käufer fühlen sich aber nicht betrogen, im Gegenteil, sie sind glücklich über das einmalige Produkt. Die Menschen kommen hierher, weil sie für eine begrenzte Zeit ihrem hektischen Leben entfliehen wollen. Sie genießen es, das Ursprüngliche zu sehen und zu fühlen. Deshalb werden sie bei einem Kamelritt viel intensivere Erinnerungen mitnehmen als bei einer Fahrt mit dem Jeep. Sie wissen, dass sie auf Dauer ihrem Alltag nicht entfliehen können und tragen oft eine große Sehnsucht nach dem einfachen Leben in sich, das sie hier sehen. Auch wenn ihnen die Wirklichkeit hier vielleicht nicht gefallen würde, die Träume dazu können wir ihnen geben.«
Er rückte sich zurecht und füllte die Tassen noch einmal mit arabischem Kaffee.
»Aus dieser Sicht musst du unsere Lebensweise beim Umgang mit den Fremden sehen. Das andere, was du mit dem in der Vergangenheit verhaftet sein meinst, beruht zu einem großen Teil auf meinem Wissen über die Geschichte unseres Volkes. Den Teil, der mit dem Grab zusammenhängt, wirst du in den nächsten Tagen durch Karim erfahren. Ich möchte dem jetzt nicht vorgreifen, denn wenn er wirklich den Fluch brechen kann, ist es nicht mehr nötig, dir die Geschichte auf die althergebrachte Weise mitzuteilen.«
Safi setzte zu einer Entgegnung an, doch sein Vater unterbrach ihn.
»Lass es bitte dabei bewenden. Ich möchte dir aber einen anderen Teil unserer Familiengeschichte weitergeben, damit du meine Lebensweise besser verstehst.«
Fragend sah Zarif seinen Sohn an:
»Wenn du nicht selbst nachgeforscht hast, dürften dir kaum Hintergründe zu unserem Familiennamen bekannt sein.«
»Ja, es hat mich bisher wenig interessiert und heute habe ich zum ersten Mal etwas von der alten Geschichte der Meschwesch gehört. Bisher ging ich immer davon aus, dass Meschwesch nicht mehr als ein Clan- oder Familienname ist.«
Zarif nickte.
»Ja, über die Jahre wurde vieles über unsere Herkunft vergessen und von manchen unserer Vorfahren auch bewusst verdrängt. Einerseits können wir stolz auf das große Volk der Meschwesch sein, andernteils gibt es auch dunkle Flecken. Dein Großvater hat mir alles, was ihm bekannt war, überliefert, angefangen von den Kampfhandlungen, die Al-Kismetbahr heute bei dem Grab erwähnte. Aus denen ging die Streitmacht des Pharao siegreich hervor und unser Volk war gezwungen, seine Lebensweise grundlegend zu ändern, denn Ramses III oder seine Ratgeber verfolgten eine gut durchdachte Strategie. Das Nomadenleben unseres Volkes hatte ein Ende, und wir wurden im Nildelta angesiedelt. Unser Volk bekam Land, aber nicht zusammenhängend, sondern verstreut zwischen den ursprünglichen Bewohnern. Fast alle guten Krieger wurden in die Streitmacht des Pharao integriert, andere kamen entsprechend ihren Fähigkeiten bei Handwerkern oder Viehzüchtern unter. Die Stammesführer erhielten hohe Positionen in der Verwaltung oder in lokalen Tempeln. Keiner hatte mehr Grund, Feindschaft gegen das ägyptische Volk zu hegen, da sie selbst zu Ägyptern geworden waren. Es lebte sich nicht schlecht in dieser neuen Gesellschaft, zumal es unseren Führen mit der Zeit gelang, ein kleines Fürstentum der Meschwesch zu bilden. Der Ahnenlinie unserer Familie entstammen die Fürsten, die durch kluge Politik immer weiter in die Führungsriege Ägyptens aufstiegen. Schließlich wurde Scheschonq I König von Unterägypten und in seinem fünften Regierungsjahr Herrscher über ganz Ägypten. Osochor, sein Onkel, war schon vor ihm als erster Meschwesch König im ganzen Reich, doch er steht nicht in direkter Ahnenfolge zu uns. Namilt, der erste Sohn von Scheschonq I, ist der Nächste in unserer Ahnenlinie und wurde zum Befehlshaber der ägyptischen Armee.«
Zarif bemerkte die ungeduldige Geste seines Sohnes und machte eine kleine Pause, in der er an seinem Kaffee nippte.
»Die komplette Ahnenliste erspare ich dir vorerst und berichte dir nur vom weiteren Werdegang unserer Familie. Bis die Römer in unser Land eindrangen, war es unseren Vorfahren gelungen, stets wichtige Positionen innezuhaben. Doch schon als die Assyrer und später die Perser das Reich regierten, wurde der Einfluss der Meschwesch immer geringer. Das Fürstentum zerfiel, und unser Volk vermischte sich mehr und mehr mit allen anderen Volksgruppen. Nur unser Familienclan hatte Bestand. Unter der Herrschaft der römischen Kaiser verließ eine kleine Gruppe Meschwesch, angeführt von einem deiner Urväter, das Nildelta. Sie züchteten Kamele, Rinder und eine Zeit lang Pferde. Der westliche Randbereich der Nilebene war ihre neue Heimat, und so lebt ein Teil unserer Familie jetzt immer noch.«
Stille trat ein. Safis Neugierde war geweckt, doch sein Vater bemerkte es nicht und leerte gedankenverloren seine Tasse. Er erinnerte sich daran, wie gebannt er seinem Vater gelauscht hatte, als dieser ihm von der Vergangenheit erzählte. Die Ungeduld und das Desinteresse seines Sohnes machten ihn traurig. Er fand sich schon mit dem Gedanken ab, es bei dem Gesagten zu belassen, weshalb ihn Safis Fragen kurz aus dem Konzept brachten.
»Mir ist niemand bekannt, der seine Ahnenfolge über einen so langen Zeitraum zurückverfolgen kann. Warum wird bei uns so viel Wert darauf gelegt? Und aus welchem Grund ist unsere Familie wieder in die Wüste gegangen?«
»Warum … Ach so, ja, das hat beides den gleichen Grund. Es hängt mit dem Grab zusammen, bei dem wir heute waren, und verbindet uns zugleich mit den Kismetbahr.«
»Das ist keine Erklärung. Weshalb also?«
»Wegen des Fluches, den der erste männliche Bekannte in unserer Ahnenfolge – Meschascher – verursacht hat. Wegen ihm und seinen Mitkämpfern sind wir seit dieser Generation an das Grab gebunden. Einmal im Jahr müssen wir es aufsuchen, doch mehr werde ich dir vorerst nicht darüber erzählen. Ich hoffe, dass Karim Al-Kismetbahr gelingt, was er vorhat, und das Ganze ein Ende findet.«
Safi wartete, dass der Vater weiterspreche, doch der blickte trübsinnig auf die Tasse, die er in seinen Händen drehte.
»Weshalb willst du, jetzt, wo du mein Interesse geweckt hast, nichts weiter preisgeben?«
»Weil ich hoffe, dass du nicht das erdulden musst, was ich erlebt habe. Nur so viel: Meschascher beging mit einigen seiner Garde eine verwerfliche Schandtat. Seine Mitstreiter bezahlten es mit dem Leben, doch er entkam. Dem Fluch jedoch konnte er nicht entgehen. In seinem ersten Sohn lebte der weiter, und dessen erster Sohn übernahm ihn später auch. Und so weiter bis zu mir. Starb einmal der erste Sohn, ging er auf den zweiten über. Es gab kein Entkommen.«
»Flüche sind doch Aberglaube«, warf Safi verächtlich hin.
»Das glaubst du nicht mehr, wenn dir wiederfahren sollte, was ich erlebt habe!«
Die Überzeugung, mit der diese Antwort kam, ließ Safi unsicher werden, und nachdem er die trübsinnige Miene seines Vaters einige Zeit beobachtet hatte, wechselte er das Thema.
Bei ihren langen Gesprächen kamen sich Vater und Sohn wieder näher. Sie fanden viele Gemeinsamkeiten, aber auch gegensätzliche Ansichten, doch Safi beherzigte den Rat Karims und versuchte, sich in die ältere Generation hineinzuversetzen. Es half ihm, vieles zu akzeptieren, und machte diesen Tag zu einem der schönsten im Leben der Familie.