Читать книгу Traum oder wahres Leben - Joachim R. Steudel - Страница 6

Das Dorf

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Ka­rim Al-Kis­met­bahr war mit Sa­rah wie­der nach Ker­da­sa ge­fah­ren. Sie sa­ßen un­ter dem schat­ten­spen­den­den Vor­dach sei­nes Hau­ses, das azur­blau schim­mern­de Was­ser des Swim­ming­pools zu ih­ren Fü­ßen. Den Krug mit gut ge­kühl­ter Zi­tro­nen­li­mo­na­de auf dem klei­nen run­den Tisch zwi­schen ih­nen hat­ten sie schon zur Hälf­te ge­leert. Bei­de blick­ten, die Er­leb­nis­se des Ta­ges ver­ar­bei­tend, aufs Was­ser. Nach ei­ni­ger Zeit rich­te­te sich Sa­rah auf, sah Ka­rim an und frag­te lei­se:

»Kannst du mir jetzt mehr über dein Le­ben im al­ten Ägyp­ten er­zäh­len?«

Al-Kis­met­bahr brauch­te einen Au­gen­blick, um in die Ge­gen­wart zu­rück­zu­keh­ren, dann hol­te er tief Luft und nick­te leicht mit dem Kopf.

»Ja, heu­te kann ich nichts wei­ter tun, und ich bin dir noch ei­ni­ge Er­klä­run­gen schul­dig. Soll ich die Er­eig­nis­se kurz zu­sam­men­fas­sen, oder willst du wie­der in die Ge­schich­te ein­tau­chen, sie füh­len und er­le­ben wie ich?«

»Ja, ge­nau­so wie die Zeit in Chi­na und Ja­pan. Am bes­ten fängst du mit Sis­wa­tis Tod an.«

Sa­rah stock­te, als sie den Schat­ten auf sei­nem Ant­litz be­merk­te.

»Oder mit der Zeit da­nach«, füg­te sie zag­haft hin­zu.

»Das geht nicht«, ant­wor­te­te er mit ei­nem lei­sen Seuf­zer. »Zum einen gab es eine re­la­tiv lan­ge Zeit­span­ne, in der ich große Land­stri­che durch­wan­der­te. Bis nach Eu­ro­pa, an mei­nen Ge­burts­ort, bin ich da­bei ge­kom­men. Aber die­se Pe­ri­ode ver­lief wie im Traum. Nichts, was sich tief ins Ge­dächt­nis ein­ge­brannt hät­te, ist ge­sche­hen, bis ich ägyp­ti­schen Bo­den be­trat. Erst da hielt ich mich wie­der über län­ge­re Zeiträu­me an ei­nem Ort auf und ach­te­te auf den Zy­klus der Er­neue­rung. Al­ler­dings wuss­te ich im­mer noch nicht, wel­ches Jahr ge­schrie­ben wur­de. Von der alt­ägyp­ti­schen Ge­schich­te war mir viel zu we­nig be­kannt, um mich dar­an zu ori­en­tie­ren, und an­de­re Mög­lich­kei­ten fand ich nicht. Erst im 17. Jahr­hun­dert, als ich wie­der Kon­takt zu den Me­schwesch auf­nahm, be­kam ich eine kla­re Vor­stel­lung von den ver­gan­ge­nen Jah­ren. Sie ga­ben und ge­ben bis heu­te ihre Ah­nen­li­nie mit den Le­bens­jah­ren der Ver­stor­be­nen wei­ter. Nur des­halb war es mir mög­lich, das ge­naue Al­ter des Gra­bes zu be­nen­nen, denn bei mir gibt es zwi­schen­durch im­mer wie­der Lücken, in de­nen ich den Über­blick ver­lor.«

»Bei solch ge­wal­ti­gen Zeiträu­men kann ich das ver­ste­hen, den­noch sprachst du von ei­nem un­un­ter­bro­che­nen Er­in­ne­rungs­strang. Wie passt das zu­sam­men?«

Ka­rim lach­te kurz auf.

»Das ist kein Wi­der­spruch und lässt sich leicht er­klä­ren. Ich war im­mer wie­der über län­ge­re Zeit auf Wan­der­schaft, manch­mal ein Jahr und län­ger. Zu­dem wan­der­te ich durch ver­schie­de­ne Kli­ma­zo­nen, was es schwer mach­te, die Jah­re zu be­rech­nen. Ein­zig mei­ne re­gel­mä­ßi­ge Er­neue­rung gab mir An­halts­punk­te, doch wenn du so lan­ge lebst, hörst du ir­gend­wann auf mit dem Zäh­len.«

Ka­rim trank sein Glas aus, füll­te ih­nen bei­den nach und sank dann wie­der in sei­nen Lie­ge­stuhl zu­rück.

»Doch das nur ne­ben­bei, denn ich woll­te dir ja von Ägyp­ten er­zäh­len.«

»Ja«, sag­te Sa­rah be­gie­rig, rich­te­te sich auf und woll­te nä­her he­r­an­rücken.

»War­te, den ers­ten Teil er­zäh­le ich dir noch so, denn er hat nichts mit dem Grab zu tun.«

Ent­täuscht sank Sa­rah zu­rück, aber Ka­rim schi­en oder woll­te es nicht be­mer­ken.

»Ich hielt mich über zwei län­ge­re Zeiträu­me im Land der Pha­rao­nen auf. Ein­mal zur Re­gie­rungs­zeit von Ram­ses II und Me­ren­ptah und dann etwa 30 Jah­re spä­ter un­ter Ram­ses III in ei­nem an­de­ren Teil des Lan­des. Der ers­te Auf­ent­halt, über den ich dir nur kurz be­rich­ten will, ge­schah aus rei­ner Neu­gier und weil mich die Le­bens­wei­se die­ses Vol­kes fas­zi­nier­te. Von Pa­läs­ti­na kom­mend, war ich den Nil hi­n­un­ter bis nach The­ben ge­langt. Dort konn­te ich dem Vor­zeich­ner Amun­was­hu einen klei­nen Dienst er­wei­sen und durf­te des­halb bei ihm in die Leh­re ge­hen.«

Sa­rah schnell­te hoch und sag­te mit in Fal­ten ge­leg­ter Stirn:

»Wart mal, den Na­men habe ich heu­te schon ein­mal ge­hört. War der nicht an ei­ner Grab­ge­stal­tung be­tei­ligt, die Nailah er­forscht hat?«

Ka­rim lach­te lei­se auf.

»Ja, und ich auch, doch das konn­te ich ihr na­tür­lich nicht er­zäh­len.«

»Des­halb wuss­test du so gut über die­ses Grab Be­scheid. Das ist ja ge­mein.«

Mit ei­nem ver­schmitz­ten Lä­cheln stell­te Al-Kis­met­bahr fest:

»Sie hat dir also da­von er­zählt. Aber wie­so ge­mein? Ich hat­te nur die Ab­sicht, ihr zu hel­fen. Als sie mich aber de­mü­ti­gen woll­te, konn­te ich nicht wi­der­ste­hen und ließ sie in ihre ei­ge­ne Fal­le tap­pen. Das war nicht böse ge­meint, im Ge­gen­teil, es hat un­se­re Be­zie­hung am Ende eher be­fruch­tet. Lei­der konn­te ich ihr nicht al­les über die Gra­b­an­la­ge er­zäh­len, denn vie­les ließ sich nicht be­le­gen, und des­halb äu­ßer­te ich nur ei­ni­ge Ver­mu­tun­gen. Der Ho­he­pries­ter, für den das Grab ei­gent­lich be­stimmt war, wur­de nie in ihm bei­ge­setzt. Bei den Un­ru­hen, die zur Zeit von Ech­na­tons Tod aus­bra­chen, kam er ums Le­ben und sei­ne Lei­che wur­de vom Nil ver­schlun­gen. Da­nach blieb das Grab, wie so vie­le an­de­re auch, un­ge­nutzt. Die Fa­mi­lie die­ses ers­ten Got­tes­die­ners von Aton war hoch an­ge­se­hen und in vie­len wich­ti­gen Po­si­tio­nen ver­tre­ten. Der Vor­le­se­pries­ter Qen­a­mun war ein Spross je­nes Clans. Reich­tum und Ein­fluss sei­ner Fa­mi­lie ver­hal­fen ihm zu ho­hem An­se­hen. Ge­schickt nutz­te er das, um sich em­por­zu­ar­bei­ten. Wäre er nicht in re­la­tiv jun­gen Jah­ren am Sumpf­fie­ber ge­stor­ben, hät­te sich sein Wunsch, ers­ter Got­tes­die­ner des Amun-Re zu wer­den, si­cher er­füllt. Auf­grund des frü­hen To­des wa­ren die Vor­be­rei­tun­gen für sein Le­ben nach dem Tod noch nicht weit ge­die­hen, und die Fa­mi­lie sah sich ge­zwun­gen, an­de­re Op­tio­nen in Er­wä­gung zu zie­hen. Die Wahl fiel auf be­sag­tes Grab. Grab­schän­der hat­ten in der Zwi­schen­zeit schon viel Scha­den an­ge­rich­tet, so den Na­men des Vor­be­sit­zers ge­tilgt und an­de­res. Es blie­ben nur sieb­zig Tage – die Zeit, in wel­cher der Leich­nam mu­mi­fi­ziert und die Ri­ten zur Vor­be­rei­tung auf das ewi­ge Le­ben voll­zo­gen wur­den –, um die Ge­stal­tung des Gra­bes zu vollen­den. Vie­le Hand­wer­ker konn­ten aus die­sem Grund die Ar­beit nicht über­neh­men, nur Amun­was­hu, Hui so­wie zwei wei­te­re hoch an­ge­se­he­ne Künst­ler hat­ten ge­ra­de ein Fürs­ten­grab fer­tig­ge­stellt und wa­ren frei. So kam es, dass ich mit Amun­was­hu die zeich­ne­ri­schen Ar­bei­te­ten aus­führ­te. Nailah wird lei­der nichts von all­dem er­fah­ren, und du bist die Ein­zi­ge, der ich bis­her da­von er­zählt habe.«

»Ver­ständ­lich, aber ei­gent­lich scha­de, denn ir­gend­wie mag ich Nailah sehr. Aber wie kam es, dass du in zwei Etap­pen im Reich der Pha­rao­nen ge­lebt hast?«

Wie­der ein­mal fuhr sich Ka­rim mit der Hand über Stirn und Au­gen und sag­te mit trau­ri­ger Stim­me:

»Be­dingt durch mein Nichtal­tern, ka­men nach vier­zehn Jah­ren Ge­rüch­te auf. Nei­di­sche Hand­wer­ker streu­ten sie un­ter ih­res­glei­chen. Mein Meis­ter war alt ge­wor­den und konn­te we­gen ei­ner Seh­schwä­che kam noch ar­bei­ten. Ich soll­te sein Nach­fol­ger wer­den, doch das er­bos­te ei­ni­ge. Ein Brand, bei dem ich mei­nen Tod vor­täusch­ten konn­te, kam mir zu Hil­fe. Da ich kei­ne tiefe­ren Freund­schaf­ten ge­schlos­sen hat­te, ver­ließ ich das Land. Mit ei­nem klei­nen Boot fuhr ich fluss­auf­wärts und wan­der­te, im­mer in der Nähe des Nil, bis zu sei­nen Quel­len. Nach­dem ich einen großen Teil des Kon­tinents durch­streift hat­te, be­trat ich nach etwa drei­ßig Jah­ren, aus der ly­bi­schen Wüs­te kom­mend, er­neut das Ge­biet der Pha­rao­nen.«

Ka­rim rich­te­te sich auf, ent­fern­te den Tisch zwi­schen ih­nen und rück­te nä­her an Sa­rah he­r­an.

»Jetzt kommt der Teil, den ich dir in­ten­si­ver wie­der­ge­ben möch­te. Gib mir bit­te dei­ne Hand, du weißt ja, wie es geht.«

Ge­spannt auf das, was nun kom­men wür­de, und er­freut, es wie­der er­le­ben zu dür­fen, setz­te sich Sa­rah zu­recht, leg­te ihre lin­ke Hand in sei­ne Hän­de und schloss die Au­gen. So­fort spür­te sie wie­der die Wär­me und die Kraft, die von ihm aus­ging, ließ sich fal­len und nahm die Bil­der zu sei­nen er­klä­ren­den Wor­ten in sich auf. Wie­der tauch­te sie in sei­ne Welt ein und schi­en es, teils aus sei­ner Sicht, oder über ihm schwe­bend, mit­zu­er­le­ben.

»Un­ge­fähr auf hal­ber Stre­cke von hier bis zur Mit­tel­meer­küs­te er­reich­te ich die frucht­ba­ren Rand­ge­bie­te des Nil­del­tas. Ei­gent­lich woll­te ich mich nicht wie­der für län­ge­re Zeit in Ägyp­ten auf­hal­ten, son­dern nur das Del­ta durch­que­ren, um ins Zwei­strom­land zu ge­lan­gen. Ich hat­te die Wüs­te noch nicht ver­las­sen, als mir Brand­ge­ruch in die Nase stieg. Da­her wech­sel­te ich die Rich­tung und lief auf die leich­ten Rauch­wol­ken zu, die in der Fer­ne sicht­bar wur­den. Je nä­her ich kam, umso bei­ßen­der wur­de der Ge­stank. Er ver­misch­te sich mit dem Ge­ruch von fri­schem Blut und ver­brann­tem Fleisch. An ei­nem Ka­nal, der Was­ser von ei­nem der Nil-Arme bis in die Rand­ge­bie­te der Wüs­te führ­te, stapf­te ich über ein nie­der­ge­tram­pel­tes Hir­se­feld auf die Res­te ei­nes klei­nen Dor­fes zu. Nur noch schwe­len­de Trüm­mer wa­ren von den Wohn­stät­ten üb­rig. Ein win­seln­der Hund lief mit ein­ge­knif­fe­nem Schwanz da­von, als ich den Rand des Dor­fes er­reich­te. Mir stock­te der Atem bei dem, was ich sah.

Ver­streut la­gen Lei­chen zwi­schen den Brand­her­den, teil­wei­se bis zur Un­kennt­lich­keit ver­kohlt. Ein Esel hat­te ver­sucht, sei­ne Ein­frie­dung zu über­win­den, und sich selbst auf­ge­spießt. Die Au­gen wa­ren angst­er­füllt her­vor­ge­quol­len, doch die da­hin­ge­schlach­te­ten Men­schen er­schüt­ter­ten mich viel mehr. Vie­le hat­ten klaf­fen­de Wun­den, ab­ge­trenn­te Glied­ma­ßen, und wenn noch Ge­sichts­zü­ge er­kenn­bar wa­ren, zeug­ten sie von der Pa­nik, die sie er­grif­fen hat­te. Es wa­ren ein­fa­che, un­be­waff­ne­te Bau­ern ge­we­sen, von de­nen an­schei­nend kei­ner über­lebt hat­te.

Nach­dem ich zu die­sem Schluss ge­kom­men war, woll­te ich das Dorf ver­las­sen, um Hil­fe zu ho­len, da­mit die Lei­chen ge­bor­gen wur­den, be­vor Aas­fres­ser sich über sie her­mach­ten. Als ich an ei­nem Brun­nen vor­bei kam, blieb ich ab­rupt ste­hen.

Für einen Au­gen­blick war es mir so, als hör­te ich ein lei­ses Wim­mern, doch kaum stand ich, war es wie­der still. Ich schüt­tel­te den Kopf und setz­te mich wie­der in Be­we­gung, aber schon nach zwei Schrit­ten hör­te ich es wie­der. So­wie ich stand, herrsch­te Stil­le, doch dies­mal war ich mir si­cher und ging vor­sich­tig bis zum Brun­nen. Ich blick­te über den Rand, aber auf dem tie­fen Grund konn­te ich im ers­ten Mo­ment nichts er­ken­nen. Erst nach ei­ni­ger Zeit sah ich eine Be­we­gung auf der leicht schim­mern­den Was­ser­flä­che. Jetzt hör­te ich wie­der das lei­se Wim­mern so­wie ein krat­zen­des, rut­schen­des Ge­räusch, das durch den en­gen Brun­nen­schacht ver­stärkt wur­de.

Has­tig sah ich mich um, fand ein Seil, an dem noch ein Le­de­rei­mer hing, be­fes­tig­te es an den Über­res­ten des halb zer­stör­ten Scha­duf und klet­ter­te in den Brun­nen­schacht hin­ab. In etwa fünf Me­tern Tie­fe er­reich­te ich die Was­ser­ober­flä­che und sah ein ver­ängs­tig­tes Kind, das sich kaum noch an ei­nem klei­nen Stein­vor­sprung hal­ten konn­te. Ge­ra­de in die­sem Mo­ment rutsch­te es mit ei­ner Hand ab und tauch­te kurz un­ter. Prus­tend tauch­te es wie­der auf und ver­such­te Halt zu fin­den. Schnell lös­te ich eine Hand vom Seil und griff nach dem klei­nen Arm. Als ich das Kind zu mir hoch­zog, be­gann es wild zu zap­peln und angst­er­füll­te Schreie aus­zu­sto­ßen. Mit viel Mühe ge­lang es mir, das klei­ne Mäd­chen zu be­ru­hi­gen.

Nach ei­ner kur­zen Ver­schnauf­pau­se, in der ich es mit ei­nem Arm an mich press­te, ver­such­te ich nach oben zu ge­lan­gen. Aber das Kind hal­ten und mich mit ei­nem Arm nach oben zie­hen er­wies sich als un­mög­lich. Krampf­haft such­te ich nach ei­ner Lö­sung, doch mir woll­te nichts ein­fal­len, und das Mäd­chen be­gann schon wie­der in Pa­nik zu ver­fal­len.

Laut­stark be­gann ich um Hil­fe zu ru­fen, als Ge­räusche von oben he­r­un­ter­dran­gen. Bald dar­auf wur­de es dun­kel im Brun­nen, denn meh­re­re Män­ner ver­deck­ten die Öff­nung. Sie grif­fen nach dem straff ge­spann­ten Seil und zo­gen uns müh­sam hi­n­auf. Als wir den Rand er­reich­ten, er­hasch­te das Kind einen Blick auf das zer­stör­te Dorf. Wim­mernd press­te es sei­nen Kopf an mei­ne Brust.

Er­leich­tert stell­te ich fest, dass es Sol­da­ten des Pha­rao wa­ren, die uns ge­hol­fen hat­ten. Jetzt kam mir zu­gu­te, dass ich durch mei­nen ers­ten Auf­ent­halt in Ägyp­ten, die Lan­des­s­pra­che her­vor­ra­gend be­herrsch­te. Schnell über­zeug­te ich sie da­von, dass ich auch ein Op­fer war, das sich mit dem Kind im Brun­nen ver­steckt hat­te. Glück­li­cher­wei­se mach­ten ihre Trup­pen­füh­rer Druck, denn sie woll­ten die ly­bi­schen Krie­ger, die in das Dorf ein­ge­fal­len wa­ren, ver­fol­gen. Die Ein­heit setz­te sich im Eil­schritt wie­der in Be­we­gung, um die deut­lich sicht­ba­re Spur nicht zu ver­lie­ren. Nur eine klei­ne Grup­pe Sol­da­ten, die sich der To­ten an­neh­men soll­ten, wur­de zu­rück­ge­las­sen.

Kei­ner küm­mer­te sich wei­ter um mich, wäh­rend sie mit ver­knif­fe­nen Mie­nen die Lei­chen aus den Trüm­mern zo­gen und an ei­nem Platz sam­mel­ten. Um dem Kind die­sen An­blick zu er­spa­ren, griff ich mir un­be­merkt mein Wan­der­bün­del, das ich un­ter die Trüm­mer des Scha­duf ge­scho­ben hat­te, und streb­te mit ihm im Arm dem Was­ser­ka­nal zu.

Da ei­ni­ge Bü­sche die Sicht vom Dorf her be­hin­der­ten, ließ ich mich an der Bö­schung nie­der. Sanft be­gann ich das Kind, das sich im­mer noch an mir fest­krall­te, von mei­ner zu Brust lö­sen, was nur müh­sam ge­lang.

Mit ei­nem Arm das drei bis vier Jah­re alte Mäd­chen hal­tend, griff ich mit der an­de­ren Hand seit­lich in mein Bün­del und ent­nahm ihm ein sau­be­res Tuch. Nach­dem ich es in dem klei­nen Was­ser­rest des Ka­nals an­ge­feuch­tet hat­te, be­gann ich vor­sich­tig, das Kind vom Schmutz zu be­frei­en. Am Hin­ter­kopf wur­de eine große Beu­le sicht­bar. Die auf­ge­schürf­te Haut an die­ser Stel­le blu­te­te so­fort wie­der, doch schnell ge­lang es mir, die leich­te Blu­tung zu stil­len. Das war nicht schmerz­frei ver­lau­fen, doch das Kind gab kei­nen Laut von sich, zuck­te nur bei je­der Be­rüh­rung zu­sam­men und starr­te mich mit sei­nen großen Au­gen an.

Die­sen Blick wer­de ich nie ver­ges­sen, denn die Angst und das Leid, das in ihm lag, wa­ren greif­bar. Schwei­gend rei­nig­te ich sie wei­ter. An den klei­nen Hän­den er­wies sich das wie­der als schwie­rig, denn sie blu­te­ten an vie­len Stel­len, weil sie sich beim Fest­hal­ten die Haut von den Fin­gern ge­ris­sen hat­te.

Zum Ver­bin­den hat­te ich nichts da­bei. Die Sol­da­ten woll­te ich auch nicht auf­su­chen, da das Mäd­chen die Lei­chen nicht noch ein­mal se­hen soll­te. Schüt­zend um­fing ich sie mit dem lin­ken Arm und leg­te die rech­te Hand auf ihre hei­ße Stirn. Ich woll­te ihr, wie ich es in Shao­lin ge­lernt hat­te, bei der Hei­lung hel­fen und gleich­zei­tig Kraft ge­ben, das Er­leb­te zu ver­ar­bei­ten. Si­cher­heit und Ge­bor­gen­heit soll­te sie emp­fin­den, um Angst und Schre­cken zu ver­ges­sen. Doch so leicht war das nicht. Zum einen kann ein klei­nes Kind ein sol­ches Er­leb­nis si­cher nie­mals ver­ges­sen, und zum an­de­ren hat­te ich al­les, was ich in Chi­na und Ja­pan ge­lernt hat­te, kaum noch trai­niert.

Mit al­ler Kraft kon­zen­trier­te ich mich auf die selbst­ge­stell­te Auf­ga­be und wur­de zum ru­hen­den Pol, der Ener­gie aus­strahl­te. Und was ich kaum zu hof­fen ge­wagt hat­te, ge­lang we­nigs­tens in An­sät­zen. Das Mäd­chen be­gann ru­hi­ger zu at­men, schloss die Au­gen und lag ganz ent­spannt in mei­nem Arm. Fast ent­stand der Ein­druck, dass sie schlief, doch ich konn­te füh­len, wie sie in­ner­lich das Er­leb­te ver­ar­bei­te­te. An­schei­nend hat­te ich ihr Ver­trau­en ge­win­nen kön­nen, und dar­über war ich sehr froh.

Kin­der sind er­staun­li­che We­sen und ha­ben den Er­wach­se­nen ei­ni­ges vor­aus. Sie spü­ren schnel­ler, ob es je­mand gut meint, und kön­nen sich ei­ner un­be­kann­ten Si­tua­ti­on oft­mals bes­ser an­pas­sen. So war es auch hier, und für eine kur­ze Zeit ent­stand in und um uns eine Oase des Frie­dens. Bald stie­gen Bil­der des zu­letzt Er­leb­ten in dem Kind auf, und durch die Ver­bin­dung, die ich auf­ge­baut hat­te, wur­de ich Zeu­ge des An­griffs.

Das Mäd­chen hat­te im Haus ih­rer El­tern ge­schla­fen, als sie die angst­er­füll­ten Schreie der Dorf­be­woh­ner weck­ten. Der Tu­mult wur­de im­mer hef­ti­ger und die Lau­te der ster­ben­den Men­schen quä­len­der. Zit­ternd vor Furcht, ver­such­te sie un­ter die Stroh­mat­ten zu krie­chen, die als Schlaf­s­tät­te dienten, doch in die­sem Au­gen­blick stürm­te der Va­ter ins Haus. Er griff sie mit gro­ben Hän­den, dreh­te sich um, riss eine Si­chel von der Hal­te­rung an der Wand und has­te­te aus dem Haus. Ein frem­der Krie­ger stand mit dem Rücken zu ihm, über eine tote Frau ge­beugt. Es war ihre Mut­ter, und mit ei­nem Schrei, wie sie ihn noch nie aus der Keh­le des Va­ters ge­hört hat­te, hieb der dem Krie­ger die Si­chel in den Hals. Wie ein Stein fiel der Mann zu Bo­den und die Si­chel ent­glitt der Hand des Va­ters. Er stock­te kurz, blick­te sich ge­hetzt um und rann­te wei­ter, das Kind wie ein Bün­del un­ter dem Arm. Doch es schi­en kei­nen Aus­weg zu ge­ben, die Frem­den wa­ren über­all.

Am Brun­nen stol­per­te er über den am Bo­den lie­gen­den Le­de­rei­mer. Ohne wei­ter zu über­le­gen, steck­te er sei­ne Toch­ter mit den Füs­sen zu­erst hi­n­ein, hob ihn hoch und be­gann ihn lang­sam in den Brun­nen hi­n­un­ter­zu­las­sen. Starr vor Angst hat­te das Kind al­les über sich er­ge­hen las­sen, doch jetzt, vom Va­ter ge­trennt, be­gann es bit­ter­lich zu wei­nen. Plötz­lich, das Mäd­chen war noch nicht weit hin­ab­ge­las­sen, ein dump­fes Klat­schen, ge­press­tes Auf­stöh­nen, und der Ei­mer saus­te ohne Halt in die Tie­fe. Sie schlug mit dem Kopf an die Ein­fas­sung, fiel aus dem Ei­mer und lan­de­te im Was­ser. In­stink­tiv such­te sie nach Halt und griff nach ei­nem klei­nen Stein­vor­sprung. Je­mand beug­te sich über den Brun­nen­rand, und un­ter höh­ni­schem La­chen wur­den Seil und Ei­mer hoch­ge­zo­gen. Dann war es still.

Ich wuss­te nun, wie das Mäd­chen in den Brun­nen ge­langt war. Auch, dass sie el­tern­los war, denn den to­ten Va­ter hat­te ich beim Scha­duf lie­gen se­hen. Tief er­schüt­tert öff­ne­te ich die Au­gen und sah auf das ge­quäl­te Kind hin­ab. Trä­nen quol­len un­ter ih­ren ge­senk­ten Li­dern her­vor, doch stumm ver­ar­bei­te­te sie ihr Leid. Sanft be­gann ich das Kind zu wie­gen, da­bei ein Lied sum­mend, das ich von mei­nem ers­ten Auf­ent­halt her kann­te. Mit ihm hat­te die Frau von Amun­was­hu ihre Kin­der in den Schlaf ge­wiegt, und auch hier ver­fehl­te es sei­ne Wir­kung nicht. Er­schöpft von den Er­leb­nis­sen schlief das Mäd­chen ein.

Wie lan­ge wir so aus­harr­ten, kann ich nicht ge­nau sa­gen, denn ich wag­te es nicht, mich zu be­we­gen, um das Kind nicht zu stö­ren. So nutz­te ich die Ge­le­gen­heit, lan­ge Ver­nach­läs­sig­tes wie­der ein­zuü­ben. Ich me­di­tier­te mit dem ein­zi­gen Ziel, dem Kind und auch mir Frie­den zu ge­ben.

Nä­her kom­men­de Stim­men stör­ten die Ruhe und ich öff­ne­te die Au­gen. Da die Son­ne mich blen­de­te, schirm­te ich mit der frei­en Hand die Au­gen ab und konn­te eine Grup­pe Pries­ter er­ken­nen, die auf dem Weg am Ka­nal da­her­ka­men. Ich sah nach un­ten und be­geg­ne­te dem Blick des Mäd­chens. Erst jetzt er­kann­te ich, wie dun­kel ihre Au­gen wa­ren. Die Iris hat­te eine kas­ta­ni­en­brau­ne Far­be, zum äu­ße­ren Rand hin mit fast schwar­zen Strei­fen be­setzt. Das sich an­schlie­ßen­de strah­len­de Weiß und die ge­wei­te­ten Pu­pil­len ver­stärk­ten den Ein­druck noch.

Das Mäd­chen hielt den Blick­kon­takt auf­recht, und als ich mich be­weg­te, um den ein­ge­schla­fe­nen Arm zu ent­las­ten, klam­mer­te sie sich an mei­nen Hals. Vor­sich­tig barg ich sie im an­de­ren Arm und stand auf. Erst in die­sem Au­gen­blick be­merk­ten mich die ent­ge­gen­kom­men­den Män­ner, hiel­ten kurz inne, be­vor sie zü­gig auf mich zu­ka­men. Ein Le­se­pries­ter des Ptah-Tem­pels, der sich etwa eine Stun­de Fuß­marsch ent­fernt am sel­ben Ka­nal be­fand, stell­te sich und sei­ne Be­glei­ter vor. Die Sol­da­ten hat­ten nach ih­nen ge­schickt, da­mit sie sich der To­ten an­nah­men.

Nach die­ser kur­zen Ein­lei­tung frag­te er mich:

›Gibt es noch wei­te­re Über­le­ben­de?‹

›Nein, ich glau­be nicht. Nur die­ses Kind konn­te ich ber­gen.‹

›Du stammst nicht aus dem Dorf?‹, frag­te er mit hoch­ge­zo­ge­nen Brau­en.

›Nein, ich kam zu­fäl­lig des Weges, und die An­grei­fer wa­ren schon weg. Nur das Kind hier hör­te ich im Brun­nen wim­mern, kein an­de­res Le­ben reg­te sich. Fast gleich­zei­tig mit mir ka­men die Sol­da­ten an.‹

Der Le­se­pries­ter nick­te und woll­te sei­nen Weg fort­set­zen, doch ein an­de­rer aus der Grup­pe kam nach vorn und be­trach­te­te das Mäd­chen auf­merk­sam.

›Ich ken­ne das Kind, sie heißt Tef­nut und ist die Toch­ter von Nebi, dem Ein­zi­gen im Dorf, der Esel hielt und für den Tem­pel oft Trans­port­dienst leis­te­te.‹

Ein Hoff­nungs­schim­mer kam in mir auf.

›Du kennst die Fa­mi­lie? Viel­leicht auch noch an­de­re, die nicht hier im Dorf ge­lebt ha­ben?‹

Trau­rig schüt­tel­te er den Kopf.

›Nein, ihre Groß­mut­ter, Tan­te und On­kel, alle leb­ten hier mit ih­ren Fa­mi­li­en, und wenn sie tot sind, ken­ne ich kei­ne wei­te­ren An­ge­hö­ri­gen.‹

Der Licht­blick ver­blass­te so schnell, wie er ge­kom­men war.

›Aber was soll jetzt aus ihr wer­den? Wer wird sich um sie küm­mern?‹

Der Le­se­pries­ter über­nahm die Ant­wort:

›Du hast sie ge­fun­den, jetzt bist du auch für sie ver­ant­wort­lich. Kei­ne Fa­mi­lie wird ein Mäd­chen auf­neh­men. Einen Jun­gen viel­leicht, doch ein Mäd­chen …‹, be­merk­te er ab­schät­zig.

Er mach­te einen Schritt in Rich­tung Dorf, wand­te sich dann aber noch ein­mal an mich.

›Wenn du sie nicht be­hal­ten willst, dann gib sie dem Tem­pel als Skla­vin, wir wer­den schon eine Ver­wen­dung für sie fin­den.‹

Wut woll­te in mir auf­stei­gen. Hat­te das Kind noch nicht ge­nug er­dul­den müs­sen? Soll­te sein wei­te­res Schick­sal jetzt auch noch die Skla­ve­rei sein? Nein, das woll­te ich auf kei­nen Fall. Eine an­de­re Lö­sung muss­te her. Aber wel­che? Eine schar­fe Er­wi­de­rung lag mir auf der Zun­ge, doch er kam mir zu­vor.

›Hm, sie ist ja noch viel zu klein, muss erst groß­ge­zo­gen wer­den, wer soll­te das denn ma­chen? Nein, ver­giss das Ge­sag­te, und sieh zu, wie du mit ihr zu­recht­kommst.‹

Er dreh­te sich um und setz­te sei­nen Weg ohne ein wei­te­res Wort fort. Die an­de­ren folg­ten ihm auf dem Fuß, nur der das Mäd­chen er­kannt hat­te, blieb ste­hen. Er mus­ter­te mich nach­denk­lich und frag­te dann:

›Was wirst du jetzt ma­chen?‹

›Ich weiß es nicht‹, ant­wor­te­te ich nie­der­ge­schla­gen und sank auf den Bo­den.

Tef­nut hat­te ver­mut­lich al­les ver­stan­den, wuss­te, dass es um ihr wei­te­res Schick­sal ging, und klam­mer­te sich im­mer fes­ter an mei­nen Hals. Kein Ton kam aus ih­rem Mund, aber Trä­nen der Angst netz­ten mei­ne Haut. Hilf­los sah ich den Pries­ter an. Der ging ne­ben mir in die Hocke, kne­te­te sei­ne Hän­de und starr­te ins Lee­re.

›Ich habe ih­ren Va­ter sehr ge­mocht. Er war ein flei­ßi­ger Mann und un­se­re Zu­sam­men­ar­beit war von ge­gen­sei­ti­gem Nut­zen. Als Ver­wal­ter der Tri­but­zah­lun­gen ob­lag es mir, den Wert des Ge­lie­fer­ten zu be­stim­men, auf den Pa­py­ri fest­zu­hal­ten und im Früh­jahr das Saat­gut zu­zu­tei­len. Nebi hat vie­les mit sei­nen Eseln trans­por­tiert und auch sei­nen Vor­teil da­von ge­habt. Jetzt wird sich al­les än­dern. Das Land wird neu ver­teilt oder von Skla­ven des Tem­pels be­ar­bei­tet wer­den, denn es ge­hört zum Tem­pel. Je­den­falls was die Ver­wal­tung be­trifft. Ich brau­che wie­der einen, auf den ich mich ver­las­sen kann, um mei­ne Ar­beit rich­tig zu ma­chen.‹

Er hob den Kopf und blick­te mir in die Au­gen.

›Wo kommst du her, und wo­mit be­strei­test du dei­nen Le­bens­un­ter­halt?‹

Ich konn­te es kaum fas­sen. Was bot er mir hier an? Ganz of­fen­sicht­lich be­rei­cher­te er sich mit­tels Un­ter­schla­gun­gen, und Tef­nuts Va­ter hat­te dazu ge­schwie­gen oder sich dar­an be­tei­ligt. Groß kann Ne­bis Ge­winn al­ler­dings nicht ge­we­sen sein, denn er leb­te hier wie alle an­de­ren. Was er­war­te­te der Pries­ter jetzt von mir, und wie soll­te ich mich ver­hal­ten?

›Ich kom­me aus der Nähe von The­ben, wo ich bei ei­nem Hand­wer­ker in die Leh­re ging. Als er starb, ha­ben an­de­re sei­ne Ar­bei­ten über­nom­men, und ich muss­te ge­hen.‹

Es war nur die hal­be Wahr­heit, denn ich wuss­te ja nicht, ob Amun­was­hu nicht mehr leb­te. An­zu­neh­men war es, denn sonst wäre er zu die­sem Zeit­punkt über acht­zig Jah­re alt ge­we­sen. Ein über­aus ho­hes Al­ter für einen Mann in die­ser Schicht.

›Du bist recht alt für einen Lehr­ling, doch das soll mir egal sein, ein Hand­wer­ker nützt mir nichts.‹

Er stand auf und woll­te ge­hen, aber ich hielt ihn zu­rück.

›War­te, ich war nicht im­mer Hand­wer­ker. Vor­her habe ich Fel­der be­stellt und Rin­der ge­züch­tet.‹

Lang­sam dreh­te er sich um und mus­ter­te mich nach­denk­lich.

›Erst Bau­er, dann Hand­wer­ker. Wie alt bist du denn ei­gent­lich? Wer wech­selt denn so die Ar­beit?‹

›Mein Al­ter spielt doch kei­ne Rol­le, und ar­bei­ten kann ich, da kannst du si­cher sein. Au­ßer­dem gibt es im­mer wie­der Grün­de, mit et­was Neu­em an­zu­fan­gen, so wie jetzt, hier zum Bei­spiel‹, sag­te ich zwei­deu­tig.

Wie­der kne­te­te er ner­vös sei­ne Hän­de.

›Be­sitzt du et­was, um dir das Recht auf Ne­bis Land zu si­chern? Wenn nicht, kön­nen wir es viel­leicht auch mit hö­he­ren Ab­ga­ben ver­rech­nen.‹

Ich war an­schei­nend an einen ge­ris­se­nen Ge­schäf­te­ma­cher ge­ra­ten, der aus je­dem und al­lem Ge­winn schlug. Auf kei­nen Fall woll­te ich mich in die Ab­hän­gig­keit ei­nes sol­chen Men­schen be­ge­ben.

›Das wird nicht nö­tig sein. Ich habe ein we­nig Schmuck, der dem Wert ent­spre­chen müss­te.‹

›Schmuck?‹ Sei­ne Au­gen leuch­te­ten vor Gier auf.

›Wie kommt so ei­ner wie du zu Schmuck?‹

Bei die­sen Wor­ten wan­der­te ein ab­schät­zen­der Blick über mich, was ich ver­ste­hen konn­te, denn auf mei­nen lan­gen ein­sa­men Wan­de­run­gen hat­te ich we­nig auf mein Äu­ße­res ge­ach­tet.

›War­te, bis ich wie­der ein Dach über dem Kopf habe, dann wirst du an­ders den­ken. Den Schmuck habe ich üb­ri­gens ehr­lich ver­dient, durch Ar­bei­ten die ich zu­sätz­lich über­nahm.‹

Das stimm­te auch, denn oft woll­ten Kun­den Amun­was­hus Diens­te in An­spruch neh­men, konn­ten sie sich aber nicht leis­ten. Ich hat­te zu der Zeit schon einen ho­hen Fer­tig­keits­grad er­reicht, und über­nahm die Ar­bei­ten mit sei­nem Ein­ver­ständ­nis. Die Kun­den wa­ren meist so zu­frie­den, dass die Ver­gü­tung über­durch­schnitt­lich aus­fiel.

›Schon gut, ich will es ei­gent­lich gar nicht wis­sen. Kannst du mir zei­gen, was du hast?‹

›Ja, ich hab’s in mei­nem Bün­del. War­te, ich hole es.‹

Der Mann war über­aus gie­rig, das konn­te man an sei­nen Au­gen se­hen, und ich woll­te ihn auf kei­nen Fall al­les zei­gen, was ich be­saß.

Vor­sich­tig, um nicht mit dem Kind im Arm aus­zu­rut­schen, ging ich die drei Schrit­te die Bö­schung hi­n­un­ter. Dann woll­te ich Tef­nut ab­set­zen, um bes­ser in mei­nen Hab­se­lig­kei­ten kra­men zu kön­nen, doch sie ließ sich nicht ohne Ge­walt lö­sen.

›Tef­nut, bit­te‹, sag­te ich sanft und griff nach ih­ren klei­nen Hän­den.

Sie schüt­tel­te leicht den Kopf und krall­te sich nur noch fes­ter an mich. Müh­sam öff­ne­te ich da­her mit ei­ner Hand die Ver­schnü­rung, roll­te die De­cke auf, in die al­les ein­ge­wi­ckelt war, und ver­such­te mit mei­nem Kör­per die Sicht auf den In­halt zu ver­stel­len. Ich griff nach ei­nem wei­ßen, mit ei­nem Le­der­band ver­schnür­ten Tuch, und schlug die De­cke wie­der über die rest­li­chen Hab­se­lig­kei­ten. Nach­dem ich das Le­der­band ge­öff­net hat­te, ent­nahm ich dem Tuch ein Acha­ta­mu­lett und eine fein ge­ar­bei­te­te Sil­ber­ket­te mit ei­nem An­hän­ger aus La­pis­la­zu­li. Den Rest schob ich zu­rück in das Bün­del.

Als ich mit den bei­den Ge­gen­stän­den auf den Pries­ter zu­ging, wei­te­ten sich des­sen Au­gen noch mehr.

›So kost­ba­re Ge­gen­stän­de in dei­nem Be­sitz? Egal, es soll­te aus­rei­chen. Gib her und ich ver­an­las­se al­les Not­wen­di­ge.‹

Ich lach­te kurz auf, denn die Ket­te al­lein war mehr wert, als er mir da­für bot. Ich hat­te sie, als ich The­ben ver­ließ, ge­gen vie­le an­de­re, we­ni­ger wert­vol­le Ge­gen­stän­de ein­ge­tauscht, um nicht so viel mit­schlep­pen zu müs­sen.

›Nicht so has­tig, mein Freund, ich ken­ne den Wert die­ses Schmucks wohl. Du be­kommst das Amu­lett im Vor­aus, die Ket­te aber erst, wenn al­les zu mei­ner Zu­frie­den­heit ge­re­gelt ist.‹

Miss­mu­tig schnauft er und wink­te ab.

›Lass es blei­ben, das Ri­si­ko ist es mir nicht wert. Wer weiß, wo­her du den Hals­schmuck hast.‹

Er hat­te an­ge­bis­sen, das konn­te ich se­hen, denn es ge­lang ihm nicht, die Au­gen von der Ket­te ab­zu­wen­den.

›Gut, ich ver­hand­le doch bes­ser mit dem Le­se­pries­ter oder viel­leicht gleich mit dem zwei­ten Pro­phe­ten eu­res Tem­pels.‹

Das lag nicht in sei­nem Sin­ne, und wie er­war­tet, kam er mir ent­ge­gen.

›Hm, war­te, was hast du dir denn vor­ge­stellt?‹

›Die Ket­te ist mit Si­cher­heit drei­ein­halb De­ben wert.‹

Wie­der ein miss­mu­ti­ges Schnau­fen.

›Was? Bist du an­de­rer Mei­nung? Wol­len wir es las­sen?‹, frag­te ich mit ei­nem über­le­ge­nen Schmun­zeln.

Er merk­te, dass ich ihm ge­wach­sen war, und gab sei­ne Stra­te­gie auf.

›Nein, nein, schon gut. Also wei­ter‹, sag­te er mit ei­ner be­schwich­ti­gen­den Ges­te.

›Ich weiß ja nicht, wie viel Land du mir ver­schaf­fen willst, aber ich den­ke, mehr als für ein­ein­halb De­ben brau­che ich nicht. Für den Rest lässt du mir das Haus von Nebi wie­der­auf­bau­en und be­schaffst mir drei Esel, da­mit ich auch die Trans­port­diens­te über­neh­men kann.‹

Ner­vös kne­te­te der Pries­ter wie­der sei­ne Hän­de. Er hat­te sich einen viel hö­he­ren Ge­winn er­hofft, doch nach ei­ni­gen Hm und Naja schi­en er zu dem Schluss zu kom­men, dass im­mer noch ge­nug für ihn da­bei he­r­aus­sprang, und wil­lig­te ein.

›Also gut, ich bin ein­ver­stan­den. Gib das Amu­lett her.‹

For­dernd streck­te er mir sei­ne Hand ent­ge­gen, und ich leg­te es hi­n­ein, hielt es je­doch noch einen Au­gen­blick fest.

›Ver­su­che nicht, mich zu be­trü­gen! Du kannst si­cher sein, dass du es sonst be­reust!‹

Sein Ge­sichts­aus­druck zeig­te mir, dass er mich ver­stan­den hat­te. Er schloss die Hand ums Amu­lett und sag­te:

›Ich mer­ke schon, mit dir wird es schwie­ri­ger als mit Nebi, viel­leicht aber auch ein­träg­li­cher. Was willst du jetzt ma­chen? Hier kannst du nicht blei­ben, bis al­les ge­re­gelt ist.‹

›Für mich wäre das kein Pro­blem, doch für das Kind brau­che ich eine fes­te Un­ter­kunft. Ist in der Nähe des Tem­pels so et­was zu fin­den?‹

Er nick­te.

›Fol­ge dem Ka­nal bis zum Hei­lig­tum. Fra­ge dort nach ei­nem Un­rei­nen, der Se­neb heißt. Sei­ne El­tern sind vor Kur­zem ge­stor­ben, und er hat noch kei­ne Kin­der, also Platz im Haus. Sag ihm: Ich, der Rei­ne Tchen­ti, wün­sche, dass er dich für ei­ni­ge Zeit auf­nimmt, die Un­kos­ten be­glei­che ich.‹

Ich nick­te und woll­te mich schon ab­wen­den, da fiel mir noch et­was ein.

›Wie­so führt ei­gent­lich ein Le­se­pries­ter eure Grup­pe an, die neh­men doch nur un­gern an sol­chen Auf­ga­ben teil?‹

Er leg­te den Kopf schief und fi­xier­te mich ge­spannt.

›Du kennst dich aber gut aus in Tem­pe­lan­ge­le­gen­hei­ten. Hast du mit dei­nem Meis­ter für einen Tem­pel ge­ar­bei­tet?‹

›Nein, aber ich hat­te oft ge­nug mit Pries­tern zu tun, und soll­ten wir nicht alle un­se­re hem-net­jer gut ken­nen? Was ist also mit dem Le­se­pries­ter?‹

Die Schär­fe und Selbst­si­cher­heit, mit der ich sprach, ver­wirr­ten ihn zu­se­hends.

›Das Dorf ist wich­tig für den Tem­pel, und Tei­le des Lan­des ge­hö­ren der Fa­mi­lie des zwei­ten Pro­phe­ten. Der ist aber sehr alt und kann ge­ra­de noch sei­nen Auf­ga­ben nach­kom­men. Der Le­se­pries­ter Rai ist als sein Nach­fol­ger im Ge­spräch und wird auch vom zwei­ten Pro­phe­ten be­vor­zugt. Die­ser hat ihn be­auf­tragt, al­les Not­wen­di­ge in die Wege zu lei­ten.‹

›Schön, es ist im­mer gut zu wis­sen, mit wem und wel­chen Ver­hält­nis­sen man es zu tun hat‹, sag­te ich mit ei­nem hin­ter­grün­di­gen Lä­cheln. ›Und noch eins: Un­ter­schät­ze nicht, was ich kann und bin!‹

Mit die­sen Wor­ten dreh­te ich mich um und ging, einen höchst ver­wirr­ten Pries­ter zu­rück­las­send, zu mei­nen Hab­se­lig­kei­ten. Nor­ma­ler­wei­se wa­ren sie es, die ar­ro­gant und selbst­be­wusst da­her­ka­men, so aber von ei­nem be­han­delt zu wer­den, der dem Schein nach weit un­ter ih­nen stand, war mehr als un­ge­wöhn­lich. Ver­mut­lich frag­te er sich jetzt, ob es klug war, den Han­del mit mir ein­zu­ge­hen, aber ge­nau das war mei­ne Ab­sicht. Er soll­te nicht auf den Ge­dan­ken kom­men, sich an mir schad­los zu hal­ten.

Ver­drieß­lich folg­te Tchen­ti den an­de­ren, wäh­rend ich mein Bün­del schnür­te, und den Weg zum Tem­pel ein­schlug.

Tef­nut auf mei­nem Arm hat­te die gan­ze Zeit kei­nen Ton von sich ge­ge­ben, sich nur ganz eng an mich ge­schmiegt. Jetzt hob sie den Kopf und sah zu den im­mer noch schwe­len­den Trüm­mern des Dor­fes. Ein lei­ser, kla­gen­der Laut ent­rang sich ih­rer Brust und ich blieb noch ein­mal ste­hen.

Sanft lös­te ich sie so weit, dass ich ihr in die Au­gen se­hen konn­te.

›Tef­nut, was hier ge­sche­hen ist, tut mir sehr leid, ich kann es aber nicht än­dern. Eins ver­spre­che ich dir je­doch: Ich las­se dich nicht im Stich und sor­ge für dich, so gut ich kann. Wir kom­men auch wie­der hier­her, wenn die Spu­ren der Ver­wüs­tung nicht mehr sicht­bar sind. Ver­stehst du das?‹

Sie nick­te und leg­te ih­ren Kopf wie­der ver­trau­ens­voll auf mei­ne Schul­ter, doch ich spür­te die Trä­nen, die mei­ne Haut netz­ten. Was mich aber noch mehr be­drück­te, war die Stil­le, mit der sie ih­ren Schmerz ver­ar­bei­te­te. Mein Herz krampf­te sich zu­sam­men, und ich hat­te Mühe, nicht in ihr Leid ein­zu­stim­men.

Zü­gig schritt ich vor­an, um mich ab­zu­len­ken, wes­halb ich weit vor der Abend­däm­merung den Tem­pel er­reich­te. Bei den Wa­chen am Tor er­kun­dig­te ich mich nach dem Un­rei­nen, und man wies mir den Weg zu ei­nem Vor­ratsspei­cher. Dort fand ich Se­neb da­mit be­schäf­tigt, mit ei­ner Kat­ze durch den Spei­cher zu strei­fen und Mäu­se zu ja­gen.

Ich rich­te­te ihm aus, was mir Tchen­ti ge­sagt hat­te und dass er für die Un­kos­ten auf­kom­men wol­le. An Se­nebs Ge­sichts­aus­druck er­kann­te ich, dass er dann wohl leer aus­ge­hen wür­de. Das woll­te ich auf kei­nen Fall und bat ihn einen Au­gen­blick zu war­ten. Ohne dass er es sah, öff­ne­te ich mein Bün­del und ent­nahm ihm einen Zier­kamm und Ohr­schmuck aus El­fen­bein. Bei­des leg­te ich ihm in die Hand und sag­te:

›Ich hof­fe, das deckt die Aus­ga­ben, wenn du für das Mäd­chen und mich ein paar Tage Quar­tier und Es­sen stellst.‹

›Aber Herr.‹ Er woll­te auf die Knie sin­ken, und nur eine Ges­te von mir hielt ihn da­von ab. ›Das ist zu viel. Das kann ich nicht an­neh­men, wo doch mein Herr Tchen­ti für die Kos­ten auf­kom­men will.‹

Ich lach­te lei­se auf.

›Gehe ich recht in der An­nah­me, dass du von ihm nicht viel zu er­war­ten hast?‹

Er drucks­te he­r­um, wand sich, wag­te in­des nicht, das Ge­gen­teil zu be­haup­ten.

›Gut, das habe ich mir ge­dacht.‹ Ich lä­chel­te ihn an und schloss sei­ne noch of­fe­ne Hand über den Schmuck. ›Nimm das und schwei­ge dar­über, sonst will er viel­leicht noch et­was da­von ab­ha­ben. Jetzt bring mich zu dei­nem Haus, das Kind braucht Ruhe.‹

›Ja, Herr.‹

Se­neb stell­te den Stock, mit dem er die Mäu­se auf­ge­scheucht hat­te, an die Wand, griff die Kat­ze, und wir ver­lie­ßen den Raum. Nach­dem er die Kat­ze bei ei­nem an­de­ren Un­rei­nen ab­ge­ge­ben hat­te, gin­gen wir zu­sam­men aus dem Tem­pel­be­reich in das an­gren­zen­de große Dorf.

Auf dem Weg zu sei­nem Haus mus­ter­te ich ihn ein­dring­lich. Er war noch jung, höchs­tens 18 oder 19 Jah­re alt. Sehr schlank, eher dürr, aber sau­ber und ge­pflegt. Ra­ben­schwar­ze kur­ze krau­se Haa­re be­deck­ten sein Haupt. Im schma­len Ge­sicht stach eine kräf­ti­ge Nase her­vor, und die Au­gen wur­den von star­ken Brau­en be­schat­tet. Sein Mund war ein biss­chen ver­knif­fen, ver­mut­lich war er ein ehr­li­cher Mann, der nicht wuss­te, ob er sich über die Ga­ben freu­en soll­te.

Se­nebs Haus war zwei­stö­ckig, mit ei­ner Grund­flä­che von etwa vier mal zwölf Me­tern. Im Erd­ge­schoss gab es einen Ein­gangs­be­reich, von dem aus eine Trep­pe in die obe­re Eta­ge führ­te, den Wohn­be­reich der Fa­mi­lie und eine Art Bad. In dem klei­nen Raum stan­den Krü­ge mit fri­schem Was­ser und in ei­ner Ecke ein mit Sand halb­ge­füll­ter Topf, der für die Not­durft ge­dacht war. Da­ne­ben stand ein läng­li­cher Tisch, mit ei­ner Wasch­schüs­sel und Schmink­uten­si­li­en, denn auch die är­me­ren Frau­en und Män­ner schmink­ten sich, vor al­lem um die Au­gen, was zum Teil Ent­zün­dun­gen vor­beu­gen soll­te, die in dem hei­ßen, tro­ckenen Kli­ma nicht un­ge­wöhn­lich wa­ren.

In der ers­ten Eta­ge be­fan­den sich die halb of­fe­ne Kü­che und zwei ab­ge­trenn­te Ru­he­be­rei­che. In der hei­ßen Jah­res­zeit wur­de aber meis­tens auf dem Dach, durch Net­ze vor In­sek­ten ge­schützt, ge­schla­fen.

Un­ser Gast­ge­ber führ­te uns in die Kü­che, wo wir sei­ne Frau vor­fan­den.

›Ne­fret, ich habe Gäs­te mit­ge­bracht. Tchen­ti wünscht, dass sie für eine ge­wis­se Zeit bei uns woh­nen.‹

Die Haus­her­rin hat­te mit dem Rücken zu uns am Bo­den ge­hockt und Teig für Fla­den­brot ge­k­ne­tet. Sie er­hob sich müh­sam und stieß da­bei einen selt­sa­men Laut aus, wo­bei un­klar blieb, ob aus Un­mut oder weil ihr we­gen der schon weit fort­ge­schrit­te­nen Schwan­ger­schaft das Auf­ste­hen schwer­fiel. Doch ihr Mann ver­stand, dass sie ver­är­gert war. Er ging auf sie zu und zeig­te ihr Kamm und Ohr­schmuck.

›Hier, schau nur, was der Herr uns als Ent­schä­di­gung für den Auf­wand ge­ge­ben hat.‹

›Tchen­ti?‹, frag­te sie un­gläu­big.

›Nein, un­ser Gast.‹

›Oh.‹

Die Ver­le­gen­heit war ihr ins Ge­sicht ge­schrie­ben. Für einen Mo­ment wuss­te sie nicht, wie sie sich ver­hal­ten soll­te.

Um ihr zu hel­fen, sag­te ich:

›Her­rin, mein Name ist Se­fua­mun. Ich bin un­tröst­lich, dass ich euch Um­stän­de be­rei­te, doch ich weiß sonst nicht, wo­hin. Ich kann über­all un­ter­kom­men, das klei­ne Mäd­chen aber braucht einen Ort der Ge­bor­gen­heit. Ihr Dorf wur­de heu­te über­fal­len, und alle, auch ihre El­tern, sind tot. Ich fand sie im Brun­nen, wo sie ihr Va­ter ver­steck­te hat­te, und wer­de mich be­mü­hen, ihr wie­der ein Heim zu ge­ben. Das geht aber nicht von ei­nem Tag auf den an­de­ren. Für die Zwi­schen­zeit brau­che ich eine Un­ter­kunft, haupt­säch­lich für Tef­nut.‹

Als ich von dem Dorf er­zähl­te, hat­te Ne­fret, als woll­te sie ihr un­ge­bo­re­nes Kind schüt­zen, die Hän­de um ih­ren Bauch ge­legt. Man sah ihr an, dass sie mit dem Mäd­chen fühl­te, doch als sie nä­her­trat, um Tef­nut zu strei­cheln, ent­zog sich das Kind auf mei­nem Arm den sanf­ten Hän­den der Frau. Es schob sich un­ter mei­nem Kopf hin­durch auf die an­de­re Schul­ter, um sein Ge­sicht wie­der an mei­nem Hals zu ber­gen.

›Tef­nut, was ist mit dir? Hier will dir nie­mand ein Leid zu­fü­gen‹, doch sie schüt­tel­te nur den Kopf.

›Ent­schul­digt, Her­rin, sie ist im­mer noch ganz ver­stört von dem Er­leb­ten.‹

Die Frau des Hau­ses trat einen Schritt zu­rück, nick­te und sag­te mit­füh­lend:

›Ver­ständ­lich. Ich kann mir kaum vor­stel­len, was sie durch­ma­chen muss­te. Na­tür­lich seid ihr will­kom­men. Sie soll es gut ha­ben bei uns, so­lan­ge ihr die­se Un­ter­kunft braucht. Ist sie eine Ver­wand­te von dir?‹

›Nein, ich leb­te vor­her in der Nähe von The­ben und kam zu­fäl­lig nach dem Über­fall an dem Dorf vor­bei.‹

Wie­der strich sie sich sanft mit bei­den Hän­den über den Bauch.

›Er­staun­lich, das Mäd­chen klam­mert sich an dir fest, als wäre es dei­ne Toch­ter.‹

›Ja, ich kann’s auch nicht ver­ste­hen. Ich möch­te mir aber ger­ne den Staub des Ta­ges ab­wa­schen und da­bei kann ich dich nicht auf dem Arm hal­ten‹, füg­te ich, an Tef­nut ge­wandt, hin­zu.

Sie re­agier­te nicht und mir blieb nichts an­de­res üb­rig, als sie sanft, aber mit der nö­ti­gen Kraft von mir zu lö­sen. Als ich sie an­blick­te und mit ihr spre­chen woll­te, schloss sie die Au­gen und dreh­te den Kopf weg.

›Tef­nut, ich kann dich nicht im­mer im Arm hal­ten. Ich habe dir ver­spro­chen, dass ich mich um dich küm­mern wer­de, und das ma­che ich, so gut ich kann.‹

Kein Ton kam über ihre Lip­pen, aber sie ließ sich wi­der­stands­los auf den Bo­den set­zen. Mit ge­schlos­se­nen Au­gen saß das klei­ne Häuf­lein Elend da, und ich muss­te mich über­win­den, sie nicht gleich wie­der auf den Arm zu neh­men. Nach­dem ich um die Er­laub­nis ge­be­ten hat­te, das Bad zu be­nut­zen, rei­nig­te ich mich gründ­lich, nahm aus mei­nem Bün­del ein klei­nes Bron­ze­mes­ser und ra­sier­te mich. Wenn nur eine hoch­po­lier­te Schei­be aus Bron­ze als Spie­gel dient, ist das gar nicht so ein­fach, doch schließ­lich war ich es ge­wohnt. Mein ziem­lich lan­ges Haar stutz­te ich auf we­ni­ge Mil­li­me­ter zu­rück, und schmink­te mir die Au­gen wie es üb­lich war. Wenn ich für das Kind sor­gen woll­te, muss­te ich da­zu­ge­hö­ren. Nach­dem ich mei­nen Hab­se­lig­kei­ten einen fri­schen Schurz ent­nom­men und um­ge­legt hat­te, ging ich wie­der in die Kü­che des Hau­ses.

Ich war vor­zeig­bar ge­wor­den, das konn­te ich den Bli­cken von Ne­fret und Se­neb ent­neh­men. Tef­nut al­ler­dings noch nicht, was ich schnell nach­ho­len woll­te. Un­se­re Gast­ge­ber ba­ten mich aber, erst die Mahl­zeit mit ih­nen ein­zu­neh­men, denn die Fla­den­bro­te so­wie eine Hir­se­sup­pe wa­ren in­zwi­schen fer­tig. Im ers­ten Au­gen­blick dach­te ich, Tef­nut sei im­mer noch böse mit mir, da sie mich kei­nes Blickes wür­dig­te. Be­we­gungs­los saß sie auf dem Bo­den, doch als ich sie auf den Arm nahm, schmieg­te sie sich gleich wie­der an mich.

Wir hat­ten ge­ges­sen, wo­bei das Kind kaum einen Bis­sen hi­n­un­ter­brach­te. Dann säu­ber­te ich das Mäd­chen, fühl­te mich da­bei aber un­wohl, doch sie ließ sich von kei­nem an­de­ren an­fas­sen, auch von Ne­fret nicht. Die kur­ze Däm­me­rung war he­r­ein­ge­bro­chen, wir sa­ßen in den an­ge­neh­men Tem­pe­ra­tu­ren des Abends auf dem Dach und un­ter­hiel­ten uns. Der Haus­herr hat­te einen großen Krug Bier ge­bracht, und lang­sam fiel die An­span­nung des Ta­ges von mir ab. Tef­nut schlief auf mei­nem Schoß ein. Ich wag­te kaum, mich zu be­we­gen, doch konn­ten wir nicht die gan­ze Nacht so sit­zen blei­ben. Se­neb be­rei­te­te un­ser La­ger im Ru­he­raum sei­ner ver­stor­be­nen El­tern vor. Da wir den drit­ten Teil des Peret hat­ten – nach un­se­rem Ka­len­der etwa An­fang Ja­nu­ar –, wa­ren die Näch­te zu kalt, um auf dem Dach zu schla­fen.

Vor­sich­tig stand ich mit dem Kind auf, trug es zu sei­nem La­ger, deck­te sie zu und schloss das Netz über ihr. An­schlie­ßend leg­te ich mich auf die Mat­te da­ne­ben. Kaum lag ich, schreck­te die Klei­ne hoch, gab einen er­sti­cken­den Laut von sich und ver­such­te un­ter dem Netz her­vor­zu­krie­chen. Ich sprach be­ru­hi­gend auf sie ein, doch es half nichts, sie kroch zu mir un­ter die De­cke. Nichts was ich sag­te, konn­te sie da­von ab­brin­gen. Tef­nut ku­schel­te sich ganz eng an mich, leg­te den Kopf auf mei­nen Arm, wur­de ru­hig und schlief schnell wie­der ein.

Die nächs­ten Tage wa­ren an­ge­füllt mit den Vor­be­rei­tun­gen für mein neu­es Le­ben. Ich be­sorg­te mir fri­sche Klei­dung, auch für das Kind, ob­wohl es, wie alle Kin­der in die­sem Al­ter meist nackt he­r­um­lau­fen wür­de. Tchen­ti hat­te Wort ge­hal­ten und das Land von Tef­nuts Va­ter für mich ge­si­chert. Die Häu­ser wur­den schon wie­der auf­ge­baut und vie­les von der Ver­wüs­tung war im gro­ben be­sei­tigt. Der Tem­pel er­hielt bei die­sen Ar­bei­ten Un­ter­stüt­zung durch die in der Nähe sta­tio­nier­ten Mi­li­tär­ein­hei­ten, von de­nen ich einen Teil der Män­ner schon kann­te. Ich war froh, dass sie von nun ab re­gel­mä­ßi­ge Si­che­rungs­strei­fen bis weit in die Wüs­te aus­sand­ten.

Der Pries­ter hat­te mir die drei ge­wünsch­ten Esel be­sorgt, und zu mei­nen ers­ten Auf­ga­ben ge­hör­te der Trans­port von Bau­ma­te­ri­al ins Dorf. Es war nicht mög­lich, Tef­nut al­lein oder bei Ne­fret zu las­sen. Also blieb mir nichts an­de­res üb­rig, als sie mit­zu­neh­men. Ich hat­te be­fürch­tet, dass sie der An­blick ih­res zer­stör­ten Wohn­or­tes zu stark be­las­ten wür­de, doch das Kind ent­wi­ckel­te sei­ne ei­ge­ne Stra­te­gie. Sie schi­en das Ver­gan­ge­ne ab die­sem Zeit­punkt ein­fach aus­zu­blen­den, tat so, als wäre ihr das Dorf un­be­kannt und al­les erst im Auf­bau be­grif­fen. Mich be­zeich­ne­te sie als Va­ter.

Ja, sie sprach jetzt, nicht viel, nur das Nö­tigs­te. Wenn sich je­mand nach ih­ren El­tern er­kun­dig­te, zuck­te sie mit den Schul­tern und wies auf mich. Es war ei­ner­seits be­klem­mend für mich, hat­te ich doch Angst, zu ver­sa­gen und der Auf­ga­be nicht ge­wach­sen zu sein. An­de­rer­seits war es schön, das Mäd­chen wie­der ein­mal la­chen zu se­hen, wenn ich mir Zeit für sie nahm, mit ihr spiel­te oder sie auf ei­nem von mir ge­führ­ten Esel rei­ten durf­te. Abends, bei mei­nen Gast­ge­bern, kroch sie im­mer wie­der zu mir auf die Stroh­mat­te. Al­lein woll­te sie ein­fach nicht schla­fen.

Mit der Zeit mach­te es mir rich­tig Spaß, Tef­nut um mich zu ha­ben, denn sie war wiss­be­gie­rig, auf­merk­sam und ahm­te vie­les von mir nach. Bald wa­ren wir eine gut ein­ge­spiel­te Mi­ni­fa­mi­lie.

Drei Wo­chen wa­ren ver­gan­gen, Tef­nuts El­tern­haus re­pa­riert und fast wie­der be­wohn­bar. Wie­der ein­mal hat­te ich den gan­zen Tag, die hei­ßen Mit­tags­stun­den aus­ge­nom­men, mit den Eseln Trans­port­dienst ge­leis­tet, und wir tra­fen mit der letz­ten La­dung, die dies­mal für uns be­stimmt war, bei dem Haus ein. Nach­dem ich den Lei­t­esel an­ge­bun­den hat­te, hob ich Tef­nut von ihm he­r­un­ter und brach­te die Ein­rich­tungs­ge­gen­stän­de, die ich be­sorgt hat­te, ins Haus. Dann tränk­te ich die Tie­re am Brun­nen und führ­te sie an­schlie­ßend auf das Feld, das ich von nun an be­ar­bei­ten wür­de. Es war ein gu­tes Stück Land nahe am Haupt­ka­nal. Die dies­jäh­ri­ge Ern­te war zu ei­nem großen Teil ver­nich­tet, da die ly­bi­schen Krie­ger ihre er­beu­te­ten Rin­der, Scha­fe und Zie­gen über die Fel­der ge­trie­ben hat­ten. Nur ein klei­ner Teil Gers­te am Feld­rand war ste­hen ge­blie­ben, al­les an­de­re wür­de sich nicht wie­der auf­rich­ten, und die Hal­me be­gan­nen am Bo­den zu fau­len. Die Äh­ren hat­ten sich ge­ra­de erst aus­ge­bil­det, und es gab kei­ne Mög­lich­keit, den Scha­den wie­der­gutz­u­ma­chen. Will­kom­me­nes Fut­ter für die Tie­re.

Ich lös­te mei­ne klei­ne Ka­ra­wa­ne auf – denn ein Tier war an das an­de­re ge­bun­den – und pflock­te die Esel so an, dass sie sich satt fres­sen konn­ten. Nach­dem Tef­nut und ich un­se­ren Durst ge­stillt hat­ten, setz­te ich mich in Me­di­ta­ti­ons­hal­tung in den Schat­ten ei­nes Fei­gen­bau­mes. Ich schloss die Au­gen und be­gann mich, wie schon öf­ter in den letz­ten Ta­gen, wie­der in Me­di­ta­ti­on zu üben. Bis­her hat­te Tef­nut im­mer schwei­gend zu­ge­se­hen, doch dies­mal wur­de ihr die Zeit zu lang.

›Va­ter, schläfst du?‹

Ich brauch­te einen Au­gen­blick, um aus mei­ner Ver­sen­kung zu er­wa­chen, sah sie an und strich ihr zärt­lich über den Kopf.

›Nein, ich ver­su­che nur, aus in­ne­rer Ruhe Kraft zu schöp­fen, und spre­che da­bei auch manch­mal mit mei­nem Gott.‹

›Mit Amun?‹

Ich leg­te die Stirn in Fal­ten und frag­te:

›Wie kommst du auf Amun?‹

›Ne­fret hat mir dei­nen Na­men er­klärt. Der be­deu­tet ja: Schwert des Amun, und des­halb …‹

Wie gut sie auf ein­mal spre­chen konn­te, und was für klu­ge Schluss­fol­ge­run­gen sie traf.

›Ja, der Name hat die­se Be­deu­tung, doch er wur­de mir von ei­nem an­de­ren ge­ge­ben.‹

›Von dei­nem Va­ter?‹

›Nein, ich wur­de in ei­nem an­de­ren Land ge­bo­ren. Der Name, den mir mein Va­ter gab, ist hier un­ver­ständ­lich. Als ich in The­ben leb­te, kam ich dazu, als mein spä­te­rer Lehr­meis­ter in einen Kon­flikt mit Wa­gen­len­kern der Amun-Di­vi­si­on ge­riet. Ich konn­te ihm hel­fen, und Amun­was­hu nann­te mich von da an Se­fua­mun.‹

›Oh, Wa­gen­len­ker sind doch große Krie­ger. Er­zählst du mir die Ge­schich­te?‹

›Jetzt nicht, mein Son­nen­schein.‹

Ich strich ihr wie­der zärt­lich über den Kopf und frag­te mich, warum sie vor­her nur so we­nig oder gar nicht ge­spro­chen hat­te. Tef­nut be­merk­te es an­schei­nend kaum, sie senk­te den Kopf und kau­te nach­denk­lich an ih­rer Un­ter­lip­pe.

›Ich habe ge­lernt, Ame­ne­mo­pe an­zu­be­ten. Mein … der Mann, bei dem ich vor­her ge­lebt habe, hat sehr oft zu ihm ge­be­tet, weil er die Fel­der be­schützt hat. Wie heißt dein Gott?‹

Sie hat­te ge­zö­gert und konn­te das Wort Va­ter in die­sem Zu­sam­men­hang nicht aus­spre­chen. Es mach­te mich trau­rig, dass Tef­nut ihre Ver­gan­gen­heit so ver­dräng­te, dass sie selbst ih­ren leib­li­chen Va­ter aus der Er­in­ne­rung zu ver­ban­nen schi­en. Wie soll­te ich da­mit um­ge­hen? Für den Au­gen­blick ent­schied ich mich da­für, erst ein­mal ihre Fra­ge zu be­ant­wor­ten und spä­ter mit ihr dar­über zu spre­chen.

›Mein Gott hat kei­nen Na­men. Er ist der Ein­zi­ge für mich, ich kann ihn über­all fin­den.‹

›Kei­nen Na­men? Wie sieht er aus? Hast du eine Sta­tue von ihm?‹

›Nein, ich habe kei­ne Bil­der von ihm. Er ist für mich über­all. In der Luft, die wir at­men, im Bo­den, auf dem wir ge­hen, im Was­ser und in je­dem Men­schen.‹

Das wa­ren un­ge­wöhn­lich Ge­dan­ken für sie.

›Auch in mir?‹

›Ja, auch in dir. Durch dich spricht er mit mir, gibt mir Kraft, die Ar­beit des Ta­ges zu leis­ten, dich zu schüt­zen und dir ein gu­tes Le­ben zu er­mög­li­chen.‹

Sie rich­te­te ih­ren Blick nach in­nen und über­leg­te, doch dann schüt­tel­te sie ih­ren klei­nen Kopf.

›Ich kann ihn nicht se­hen und spü­ren, des­halb kann ich auch nicht zu ihm be­ten. Ich wer­de wei­ter zu Ame­ne­mo­pe be­ten, dass er uns be­schützt und uns eine gute Ern­te bringt.‹

Ich hat­te kein Recht, ihr mei­nen Glau­ben auf­zu­drän­gen. Zu­mal ich mir nicht si­cher war, ob ich wirk­lich noch einen fes­ten Glau­ben hat­te. Viel­leicht war es nur noch eine An­ge­wohn­heit, mit Gott zu spre­chen, zu viel war ge­sche­hen, was sich nicht er­klä­ren ließ. Lang­sam be­gann ich, vie­les, was mir ein­mal wich­tig und rich­tig er­schie­nen war, in­fra­ge zu stel­len.

›Tu das, mein Herz, aber mit der Ern­te wird in die­sem Jahr nicht mehr viel wer­den, du siehst ja, wie das Feld aus­sieht.‹

›Ich hei­ße Tef­nut, warum sagst du im­mer mein Herz oder mein Son­nen­schein?!‹, sag­te sie mit ent­rüs­te­tem Blick.

Ich lach­te lei­se auf.

›Weil du ein Son­nen­schein bist, mein Son­nen­schein, und weil du, wann im­mer ich dich an­se­he oder mit dir spre­che, mein Herz be­rührst.‹

Sie sah auf ihre Hän­de, die sie, um mich nach­zuah­men, im mida-no-jouin Mu­dra in den Schoss ge­legt hat­te. Nach­dem sie eine Wei­le über mei­ne Ant­wort nach­ge­dacht hat­te, nick­te sie und sag­te:

›Das ist schön, und du kannst mich auch wei­ter so ru­fen, aber das mit der Ern­te stimmt nicht, du kannst ja noch mal sä­hen.‹

›Dazu brau­chen wir Was­ser, die Flut ist aber schon lan­ge vor­bei. Es sind nur noch Pfüt­zen im Ka­nal.‹

Sie setz­te eine über­le­ge­ne Mie­ne auf und wies mit ih­rer klei­nen Hand auf die letz­ten Fel­der vor der Wüs­te.

›Ein­mal hat­ten die Fel­der da hin­ten nicht ge­nug Was­ser ab­be­kom­men. Sie sa­hen ganz trau­rig aus. Da ha­ben die Män­ner vom Dorf vie­le Tage lang, weit weg von hier, Was­ser in den Ka­nal ge­schöpft und noch ein­mal ge­sät.‹

Das Mäd­chen war ge­ni­al. An die­se Mög­lich­keit hat­te ich bis­her nicht ge­dacht. In der Nähe von The­ben hat­ten die Bau­ern auf ei­ni­gen Fel­dern zwei Ern­ten ein­ge­bracht, in­dem sie nach der ers­ten die Fel­der über Scha­dufs noch ein­mal be­wäs­ser­ten. Al­lein war es be­stimmt nicht mach­bar, aber wenn ich von den neu­en Dorf­be­woh­nern ge­nü­gend Män­ner über­zeu­gen könn­te, wäre es be­stimmt mög­lich. Vor­aus­ge­setzt, der Tem­pel wür­de uns Saat­gut zur Ver­fü­gung stel­len.

Zärt­lich strich ich ihr übers Haar.

›Dan­ke, das ist ein gu­ter Ge­dan­ke. Ich wer­de se­hen, ob er sich ver­wirk­li­chen lässt.‹

Das Lob mach­te sie stolz. Zu­frie­den lä­chelnd schloss sie die Au­gen und gab vor zu me­di­tie­ren. Auch ich ver­such­te wie­der zur Ruhe zu kom­men, doch es hielt nicht lan­ge an. Ich spür­te Tef­nuts Un­ru­he und ihre Bli­cke, die auf mir ruh­ten. Da ich aber noch ein we­nig Kraft schöp­fen woll­te, leg­te ich, ohne die Au­gen zu öff­nen, mei­ne Hand auf ihre und sag­te lei­se:

›Noch ein biss­chen, und dann zei­ge ich dir ein Ge­heim­nis.‹

Die Auf­re­gung, die sie so­gleich be­fiel, war fast schlim­mer als die vor­he­ri­ge Un­ru­he. Ich ver­such­te, wie es einst mein Shao­lin-Lehr­meis­ter ge­tan hat­te, sie mit der Kraft mei­nes Chi zu be­ru­hi­gen. Tat­säch­lich ge­lang es mir, Tef­nut in einen Zu­stand in­ne­ren Gleich­ge­wichts zu ver­set­zen, und ich ver­spür­te er­staun­li­cher­wei­se fast die glei­che Wir­kung.

Ent­spannt wie schon lan­ge nicht mehr öff­ne­te ich nach ei­ni­ger Zeit die Au­gen. Ein Blick in Tef­nuts Ge­sicht zeig­te mir, dass es auch ihr sehr gut ge­tan hat­te. Tief luft­ho­lend, sag­te sie:

›Das war schön. Eine Zeit lang konn­te ich schwe­ben, und ich hör­te die Luft flüs­tern. Und dann, dann hat eine Frau ein wun­der­schö­nes Lied in ei­ner Spra­che ge­sun­gen, die ich nicht ver­stand. Wie hast du das ge­macht, Va­ter?‹

Für einen Mo­ment war ich sprach­los. Was hat­te das Kind da er­lebt? Ich hat­te kei­ne Ah­nung, was ich aus­ge­löst hat­te und wie ich es ihr er­klä­ren soll­te.

›Kannst du es noch mal ma­chen? Bit­te‹, setz­te sie fle­hend hin­zu.

›Ich weiß gar nicht, was ge­sche­hen ist, Tef­nut. Du soll­test nur zur Ruhe kom­men, als ich dich be­rühr­te. In dem fer­nen Land, in dem ich eine Zeit lang leb­te, ging ich bei ei­nem al­ten Meis­ter in die Leh­re. Er hat mir ge­zeigt, wie ich Kraft aus mir sel­ber und aus al­lem um mich he­r­um schöp­fen kann. Nichts wei­ter woll­te ich jetzt ma­chen und dir ein biss­chen da­von ab­ge­ben. Ich habe das sehr lan­ge ver­nach­läs­sigt und möch­te es jetzt, so­oft ich die Zeit dazu fin­de, wie­der aus­üben. Es hat mich da­mals, nach ei­nem Ver­lust, wie du ihn er­lit­ten hast, wie­der ins Le­ben zu­rück­ge­holt. Ob das noch ein­mal so ge­schieht wie eben, kann ich nicht sa­gen, aber ich wer­de es ger­ne wie­der mit dir ver­su­chen.‹

Bei mei­nen ers­ten Wor­ten war ihre Mie­ne im­mer trau­ri­ger ge­wor­den, doch nach dem letz­ten Satz strahl­te sie mich an.

›Ja, bit­te.‹

Sie nahm mei­ne Hand, die ich in den Schoss ge­legt hat­te, und schob ihre dar­un­ter.

›Nicht jetzt, mein Son­nen­schein, mor­gen wie­der. Jetzt woll­te ich dir noch et­was an­de­res zei­gen, was du aber kei­ne ver­ra­ten darfst. Es ist auch ein Ge­heim­nis von dem al­ten Meis­ter und ich möch­te es von jetzt ab, so­oft es geht, mit dir üben.‹

Ob­wohl sie ein klein we­nig ent­täuscht war, be­sänf­tig­te sie die Aus­sicht auf das Ge­heim­nis.

Ich stand auf und über­zeug­te mich, dass wir von nie­mand be­ob­ach­tet wur­den, und ging mit ihr auf die an­de­re Sei­te des Ka­nals. Dort gab es eine klei­ne, mit Schilf be­wach­se­ne sump­fi­ge Stel­le. Da­hin­ter, vor den Bli­cken aus dem Dorf ge­schützt, be­gann ich mit ei­ner Tai-Chi-Vor­füh­rung, an der ich Tef­nut schließ­lich teil­neh­men ließ.

Be­dingt durch ihr Al­ter, fie­len die Be­we­gun­gen ein biss­chen tap­sig aus, doch es ge­fiel ihr sehr. Es war der Be­ginn mei­ner Rückerin­ne­rung er­lern­ter Wer­te und half dem Kind, sich selbst zu fin­den. Die Fra­ge, ob es rich­tig war, je­mand zu die­ser Zeit mit der­ar­ti­gem Kön­nen in Be­rüh­rung zu brin­gen, ver­dräng­te ich be­wusst.«

Traum oder wahres Leben

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