Читать книгу Traum oder wahres Leben - Joachim R. Steudel - Страница 6
Das Dorf
ОглавлениеKarim Al-Kismetbahr war mit Sarah wieder nach Kerdasa gefahren. Sie saßen unter dem schattenspendenden Vordach seines Hauses, das azurblau schimmernde Wasser des Swimmingpools zu ihren Füßen. Den Krug mit gut gekühlter Zitronenlimonade auf dem kleinen runden Tisch zwischen ihnen hatten sie schon zur Hälfte geleert. Beide blickten, die Erlebnisse des Tages verarbeitend, aufs Wasser. Nach einiger Zeit richtete sich Sarah auf, sah Karim an und fragte leise:
»Kannst du mir jetzt mehr über dein Leben im alten Ägypten erzählen?«
Al-Kismetbahr brauchte einen Augenblick, um in die Gegenwart zurückzukehren, dann holte er tief Luft und nickte leicht mit dem Kopf.
»Ja, heute kann ich nichts weiter tun, und ich bin dir noch einige Erklärungen schuldig. Soll ich die Ereignisse kurz zusammenfassen, oder willst du wieder in die Geschichte eintauchen, sie fühlen und erleben wie ich?«
»Ja, genauso wie die Zeit in China und Japan. Am besten fängst du mit Siswatis Tod an.«
Sarah stockte, als sie den Schatten auf seinem Antlitz bemerkte.
»Oder mit der Zeit danach«, fügte sie zaghaft hinzu.
»Das geht nicht«, antwortete er mit einem leisen Seufzer. »Zum einen gab es eine relativ lange Zeitspanne, in der ich große Landstriche durchwanderte. Bis nach Europa, an meinen Geburtsort, bin ich dabei gekommen. Aber diese Periode verlief wie im Traum. Nichts, was sich tief ins Gedächtnis eingebrannt hätte, ist geschehen, bis ich ägyptischen Boden betrat. Erst da hielt ich mich wieder über längere Zeiträume an einem Ort auf und achtete auf den Zyklus der Erneuerung. Allerdings wusste ich immer noch nicht, welches Jahr geschrieben wurde. Von der altägyptischen Geschichte war mir viel zu wenig bekannt, um mich daran zu orientieren, und andere Möglichkeiten fand ich nicht. Erst im 17. Jahrhundert, als ich wieder Kontakt zu den Meschwesch aufnahm, bekam ich eine klare Vorstellung von den vergangenen Jahren. Sie gaben und geben bis heute ihre Ahnenlinie mit den Lebensjahren der Verstorbenen weiter. Nur deshalb war es mir möglich, das genaue Alter des Grabes zu benennen, denn bei mir gibt es zwischendurch immer wieder Lücken, in denen ich den Überblick verlor.«
»Bei solch gewaltigen Zeiträumen kann ich das verstehen, dennoch sprachst du von einem ununterbrochenen Erinnerungsstrang. Wie passt das zusammen?«
Karim lachte kurz auf.
»Das ist kein Widerspruch und lässt sich leicht erklären. Ich war immer wieder über längere Zeit auf Wanderschaft, manchmal ein Jahr und länger. Zudem wanderte ich durch verschiedene Klimazonen, was es schwer machte, die Jahre zu berechnen. Einzig meine regelmäßige Erneuerung gab mir Anhaltspunkte, doch wenn du so lange lebst, hörst du irgendwann auf mit dem Zählen.«
Karim trank sein Glas aus, füllte ihnen beiden nach und sank dann wieder in seinen Liegestuhl zurück.
»Doch das nur nebenbei, denn ich wollte dir ja von Ägypten erzählen.«
»Ja«, sagte Sarah begierig, richtete sich auf und wollte näher heranrücken.
»Warte, den ersten Teil erzähle ich dir noch so, denn er hat nichts mit dem Grab zu tun.«
Enttäuscht sank Sarah zurück, aber Karim schien oder wollte es nicht bemerken.
»Ich hielt mich über zwei längere Zeiträume im Land der Pharaonen auf. Einmal zur Regierungszeit von Ramses II und Merenptah und dann etwa 30 Jahre später unter Ramses III in einem anderen Teil des Landes. Der erste Aufenthalt, über den ich dir nur kurz berichten will, geschah aus reiner Neugier und weil mich die Lebensweise dieses Volkes faszinierte. Von Palästina kommend, war ich den Nil hinunter bis nach Theben gelangt. Dort konnte ich dem Vorzeichner Amunwashu einen kleinen Dienst erweisen und durfte deshalb bei ihm in die Lehre gehen.«
Sarah schnellte hoch und sagte mit in Falten gelegter Stirn:
»Wart mal, den Namen habe ich heute schon einmal gehört. War der nicht an einer Grabgestaltung beteiligt, die Nailah erforscht hat?«
Karim lachte leise auf.
»Ja, und ich auch, doch das konnte ich ihr natürlich nicht erzählen.«
»Deshalb wusstest du so gut über dieses Grab Bescheid. Das ist ja gemein.«
Mit einem verschmitzten Lächeln stellte Al-Kismetbahr fest:
»Sie hat dir also davon erzählt. Aber wieso gemein? Ich hatte nur die Absicht, ihr zu helfen. Als sie mich aber demütigen wollte, konnte ich nicht widerstehen und ließ sie in ihre eigene Falle tappen. Das war nicht böse gemeint, im Gegenteil, es hat unsere Beziehung am Ende eher befruchtet. Leider konnte ich ihr nicht alles über die Grabanlage erzählen, denn vieles ließ sich nicht belegen, und deshalb äußerte ich nur einige Vermutungen. Der Hohepriester, für den das Grab eigentlich bestimmt war, wurde nie in ihm beigesetzt. Bei den Unruhen, die zur Zeit von Echnatons Tod ausbrachen, kam er ums Leben und seine Leiche wurde vom Nil verschlungen. Danach blieb das Grab, wie so viele andere auch, ungenutzt. Die Familie dieses ersten Gottesdieners von Aton war hoch angesehen und in vielen wichtigen Positionen vertreten. Der Vorlesepriester Qenamun war ein Spross jenes Clans. Reichtum und Einfluss seiner Familie verhalfen ihm zu hohem Ansehen. Geschickt nutzte er das, um sich emporzuarbeiten. Wäre er nicht in relativ jungen Jahren am Sumpffieber gestorben, hätte sich sein Wunsch, erster Gottesdiener des Amun-Re zu werden, sicher erfüllt. Aufgrund des frühen Todes waren die Vorbereitungen für sein Leben nach dem Tod noch nicht weit gediehen, und die Familie sah sich gezwungen, andere Optionen in Erwägung zu ziehen. Die Wahl fiel auf besagtes Grab. Grabschänder hatten in der Zwischenzeit schon viel Schaden angerichtet, so den Namen des Vorbesitzers getilgt und anderes. Es blieben nur siebzig Tage – die Zeit, in welcher der Leichnam mumifiziert und die Riten zur Vorbereitung auf das ewige Leben vollzogen wurden –, um die Gestaltung des Grabes zu vollenden. Viele Handwerker konnten aus diesem Grund die Arbeit nicht übernehmen, nur Amunwashu, Hui sowie zwei weitere hoch angesehene Künstler hatten gerade ein Fürstengrab fertiggestellt und waren frei. So kam es, dass ich mit Amunwashu die zeichnerischen Arbeiteten ausführte. Nailah wird leider nichts von alldem erfahren, und du bist die Einzige, der ich bisher davon erzählt habe.«
»Verständlich, aber eigentlich schade, denn irgendwie mag ich Nailah sehr. Aber wie kam es, dass du in zwei Etappen im Reich der Pharaonen gelebt hast?«
Wieder einmal fuhr sich Karim mit der Hand über Stirn und Augen und sagte mit trauriger Stimme:
»Bedingt durch mein Nichtaltern, kamen nach vierzehn Jahren Gerüchte auf. Neidische Handwerker streuten sie unter ihresgleichen. Mein Meister war alt geworden und konnte wegen einer Sehschwäche kam noch arbeiten. Ich sollte sein Nachfolger werden, doch das erboste einige. Ein Brand, bei dem ich meinen Tod vortäuschten konnte, kam mir zu Hilfe. Da ich keine tieferen Freundschaften geschlossen hatte, verließ ich das Land. Mit einem kleinen Boot fuhr ich flussaufwärts und wanderte, immer in der Nähe des Nil, bis zu seinen Quellen. Nachdem ich einen großen Teil des Kontinents durchstreift hatte, betrat ich nach etwa dreißig Jahren, aus der lybischen Wüste kommend, erneut das Gebiet der Pharaonen.«
Karim richtete sich auf, entfernte den Tisch zwischen ihnen und rückte näher an Sarah heran.
»Jetzt kommt der Teil, den ich dir intensiver wiedergeben möchte. Gib mir bitte deine Hand, du weißt ja, wie es geht.«
Gespannt auf das, was nun kommen würde, und erfreut, es wieder erleben zu dürfen, setzte sich Sarah zurecht, legte ihre linke Hand in seine Hände und schloss die Augen. Sofort spürte sie wieder die Wärme und die Kraft, die von ihm ausging, ließ sich fallen und nahm die Bilder zu seinen erklärenden Worten in sich auf. Wieder tauchte sie in seine Welt ein und schien es, teils aus seiner Sicht, oder über ihm schwebend, mitzuerleben.
»Ungefähr auf halber Strecke von hier bis zur Mittelmeerküste erreichte ich die fruchtbaren Randgebiete des Nildeltas. Eigentlich wollte ich mich nicht wieder für längere Zeit in Ägypten aufhalten, sondern nur das Delta durchqueren, um ins Zweistromland zu gelangen. Ich hatte die Wüste noch nicht verlassen, als mir Brandgeruch in die Nase stieg. Daher wechselte ich die Richtung und lief auf die leichten Rauchwolken zu, die in der Ferne sichtbar wurden. Je näher ich kam, umso beißender wurde der Gestank. Er vermischte sich mit dem Geruch von frischem Blut und verbranntem Fleisch. An einem Kanal, der Wasser von einem der Nil-Arme bis in die Randgebiete der Wüste führte, stapfte ich über ein niedergetrampeltes Hirsefeld auf die Reste eines kleinen Dorfes zu. Nur noch schwelende Trümmer waren von den Wohnstätten übrig. Ein winselnder Hund lief mit eingekniffenem Schwanz davon, als ich den Rand des Dorfes erreichte. Mir stockte der Atem bei dem, was ich sah.
Verstreut lagen Leichen zwischen den Brandherden, teilweise bis zur Unkenntlichkeit verkohlt. Ein Esel hatte versucht, seine Einfriedung zu überwinden, und sich selbst aufgespießt. Die Augen waren angsterfüllt hervorgequollen, doch die dahingeschlachteten Menschen erschütterten mich viel mehr. Viele hatten klaffende Wunden, abgetrennte Gliedmaßen, und wenn noch Gesichtszüge erkennbar waren, zeugten sie von der Panik, die sie ergriffen hatte. Es waren einfache, unbewaffnete Bauern gewesen, von denen anscheinend keiner überlebt hatte.
Nachdem ich zu diesem Schluss gekommen war, wollte ich das Dorf verlassen, um Hilfe zu holen, damit die Leichen geborgen wurden, bevor Aasfresser sich über sie hermachten. Als ich an einem Brunnen vorbei kam, blieb ich abrupt stehen.
Für einen Augenblick war es mir so, als hörte ich ein leises Wimmern, doch kaum stand ich, war es wieder still. Ich schüttelte den Kopf und setzte mich wieder in Bewegung, aber schon nach zwei Schritten hörte ich es wieder. Sowie ich stand, herrschte Stille, doch diesmal war ich mir sicher und ging vorsichtig bis zum Brunnen. Ich blickte über den Rand, aber auf dem tiefen Grund konnte ich im ersten Moment nichts erkennen. Erst nach einiger Zeit sah ich eine Bewegung auf der leicht schimmernden Wasserfläche. Jetzt hörte ich wieder das leise Wimmern sowie ein kratzendes, rutschendes Geräusch, das durch den engen Brunnenschacht verstärkt wurde.
Hastig sah ich mich um, fand ein Seil, an dem noch ein Ledereimer hing, befestigte es an den Überresten des halb zerstörten Schaduf und kletterte in den Brunnenschacht hinab. In etwa fünf Metern Tiefe erreichte ich die Wasseroberfläche und sah ein verängstigtes Kind, das sich kaum noch an einem kleinen Steinvorsprung halten konnte. Gerade in diesem Moment rutschte es mit einer Hand ab und tauchte kurz unter. Prustend tauchte es wieder auf und versuchte Halt zu finden. Schnell löste ich eine Hand vom Seil und griff nach dem kleinen Arm. Als ich das Kind zu mir hochzog, begann es wild zu zappeln und angsterfüllte Schreie auszustoßen. Mit viel Mühe gelang es mir, das kleine Mädchen zu beruhigen.
Nach einer kurzen Verschnaufpause, in der ich es mit einem Arm an mich presste, versuchte ich nach oben zu gelangen. Aber das Kind halten und mich mit einem Arm nach oben ziehen erwies sich als unmöglich. Krampfhaft suchte ich nach einer Lösung, doch mir wollte nichts einfallen, und das Mädchen begann schon wieder in Panik zu verfallen.
Lautstark begann ich um Hilfe zu rufen, als Geräusche von oben herunterdrangen. Bald darauf wurde es dunkel im Brunnen, denn mehrere Männer verdeckten die Öffnung. Sie griffen nach dem straff gespannten Seil und zogen uns mühsam hinauf. Als wir den Rand erreichten, erhaschte das Kind einen Blick auf das zerstörte Dorf. Wimmernd presste es seinen Kopf an meine Brust.
Erleichtert stellte ich fest, dass es Soldaten des Pharao waren, die uns geholfen hatten. Jetzt kam mir zugute, dass ich durch meinen ersten Aufenthalt in Ägypten, die Landessprache hervorragend beherrschte. Schnell überzeugte ich sie davon, dass ich auch ein Opfer war, das sich mit dem Kind im Brunnen versteckt hatte. Glücklicherweise machten ihre Truppenführer Druck, denn sie wollten die lybischen Krieger, die in das Dorf eingefallen waren, verfolgen. Die Einheit setzte sich im Eilschritt wieder in Bewegung, um die deutlich sichtbare Spur nicht zu verlieren. Nur eine kleine Gruppe Soldaten, die sich der Toten annehmen sollten, wurde zurückgelassen.
Keiner kümmerte sich weiter um mich, während sie mit verkniffenen Mienen die Leichen aus den Trümmern zogen und an einem Platz sammelten. Um dem Kind diesen Anblick zu ersparen, griff ich mir unbemerkt mein Wanderbündel, das ich unter die Trümmer des Schaduf geschoben hatte, und strebte mit ihm im Arm dem Wasserkanal zu.
Da einige Büsche die Sicht vom Dorf her behinderten, ließ ich mich an der Böschung nieder. Sanft begann ich das Kind, das sich immer noch an mir festkrallte, von meiner zu Brust lösen, was nur mühsam gelang.
Mit einem Arm das drei bis vier Jahre alte Mädchen haltend, griff ich mit der anderen Hand seitlich in mein Bündel und entnahm ihm ein sauberes Tuch. Nachdem ich es in dem kleinen Wasserrest des Kanals angefeuchtet hatte, begann ich vorsichtig, das Kind vom Schmutz zu befreien. Am Hinterkopf wurde eine große Beule sichtbar. Die aufgeschürfte Haut an dieser Stelle blutete sofort wieder, doch schnell gelang es mir, die leichte Blutung zu stillen. Das war nicht schmerzfrei verlaufen, doch das Kind gab keinen Laut von sich, zuckte nur bei jeder Berührung zusammen und starrte mich mit seinen großen Augen an.
Diesen Blick werde ich nie vergessen, denn die Angst und das Leid, das in ihm lag, waren greifbar. Schweigend reinigte ich sie weiter. An den kleinen Händen erwies sich das wieder als schwierig, denn sie bluteten an vielen Stellen, weil sie sich beim Festhalten die Haut von den Fingern gerissen hatte.
Zum Verbinden hatte ich nichts dabei. Die Soldaten wollte ich auch nicht aufsuchen, da das Mädchen die Leichen nicht noch einmal sehen sollte. Schützend umfing ich sie mit dem linken Arm und legte die rechte Hand auf ihre heiße Stirn. Ich wollte ihr, wie ich es in Shaolin gelernt hatte, bei der Heilung helfen und gleichzeitig Kraft geben, das Erlebte zu verarbeiten. Sicherheit und Geborgenheit sollte sie empfinden, um Angst und Schrecken zu vergessen. Doch so leicht war das nicht. Zum einen kann ein kleines Kind ein solches Erlebnis sicher niemals vergessen, und zum anderen hatte ich alles, was ich in China und Japan gelernt hatte, kaum noch trainiert.
Mit aller Kraft konzentrierte ich mich auf die selbstgestellte Aufgabe und wurde zum ruhenden Pol, der Energie ausstrahlte. Und was ich kaum zu hoffen gewagt hatte, gelang wenigstens in Ansätzen. Das Mädchen begann ruhiger zu atmen, schloss die Augen und lag ganz entspannt in meinem Arm. Fast entstand der Eindruck, dass sie schlief, doch ich konnte fühlen, wie sie innerlich das Erlebte verarbeitete. Anscheinend hatte ich ihr Vertrauen gewinnen können, und darüber war ich sehr froh.
Kinder sind erstaunliche Wesen und haben den Erwachsenen einiges voraus. Sie spüren schneller, ob es jemand gut meint, und können sich einer unbekannten Situation oftmals besser anpassen. So war es auch hier, und für eine kurze Zeit entstand in und um uns eine Oase des Friedens. Bald stiegen Bilder des zuletzt Erlebten in dem Kind auf, und durch die Verbindung, die ich aufgebaut hatte, wurde ich Zeuge des Angriffs.
Das Mädchen hatte im Haus ihrer Eltern geschlafen, als sie die angsterfüllten Schreie der Dorfbewohner weckten. Der Tumult wurde immer heftiger und die Laute der sterbenden Menschen quälender. Zitternd vor Furcht, versuchte sie unter die Strohmatten zu kriechen, die als Schlafstätte dienten, doch in diesem Augenblick stürmte der Vater ins Haus. Er griff sie mit groben Händen, drehte sich um, riss eine Sichel von der Halterung an der Wand und hastete aus dem Haus. Ein fremder Krieger stand mit dem Rücken zu ihm, über eine tote Frau gebeugt. Es war ihre Mutter, und mit einem Schrei, wie sie ihn noch nie aus der Kehle des Vaters gehört hatte, hieb der dem Krieger die Sichel in den Hals. Wie ein Stein fiel der Mann zu Boden und die Sichel entglitt der Hand des Vaters. Er stockte kurz, blickte sich gehetzt um und rannte weiter, das Kind wie ein Bündel unter dem Arm. Doch es schien keinen Ausweg zu geben, die Fremden waren überall.
Am Brunnen stolperte er über den am Boden liegenden Ledereimer. Ohne weiter zu überlegen, steckte er seine Tochter mit den Füssen zuerst hinein, hob ihn hoch und begann ihn langsam in den Brunnen hinunterzulassen. Starr vor Angst hatte das Kind alles über sich ergehen lassen, doch jetzt, vom Vater getrennt, begann es bitterlich zu weinen. Plötzlich, das Mädchen war noch nicht weit hinabgelassen, ein dumpfes Klatschen, gepresstes Aufstöhnen, und der Eimer sauste ohne Halt in die Tiefe. Sie schlug mit dem Kopf an die Einfassung, fiel aus dem Eimer und landete im Wasser. Instinktiv suchte sie nach Halt und griff nach einem kleinen Steinvorsprung. Jemand beugte sich über den Brunnenrand, und unter höhnischem Lachen wurden Seil und Eimer hochgezogen. Dann war es still.
Ich wusste nun, wie das Mädchen in den Brunnen gelangt war. Auch, dass sie elternlos war, denn den toten Vater hatte ich beim Schaduf liegen sehen. Tief erschüttert öffnete ich die Augen und sah auf das gequälte Kind hinab. Tränen quollen unter ihren gesenkten Lidern hervor, doch stumm verarbeitete sie ihr Leid. Sanft begann ich das Kind zu wiegen, dabei ein Lied summend, das ich von meinem ersten Aufenthalt her kannte. Mit ihm hatte die Frau von Amunwashu ihre Kinder in den Schlaf gewiegt, und auch hier verfehlte es seine Wirkung nicht. Erschöpft von den Erlebnissen schlief das Mädchen ein.
Wie lange wir so ausharrten, kann ich nicht genau sagen, denn ich wagte es nicht, mich zu bewegen, um das Kind nicht zu stören. So nutzte ich die Gelegenheit, lange Vernachlässigtes wieder einzuüben. Ich meditierte mit dem einzigen Ziel, dem Kind und auch mir Frieden zu geben.
Näher kommende Stimmen störten die Ruhe und ich öffnete die Augen. Da die Sonne mich blendete, schirmte ich mit der freien Hand die Augen ab und konnte eine Gruppe Priester erkennen, die auf dem Weg am Kanal daherkamen. Ich sah nach unten und begegnete dem Blick des Mädchens. Erst jetzt erkannte ich, wie dunkel ihre Augen waren. Die Iris hatte eine kastanienbraune Farbe, zum äußeren Rand hin mit fast schwarzen Streifen besetzt. Das sich anschließende strahlende Weiß und die geweiteten Pupillen verstärkten den Eindruck noch.
Das Mädchen hielt den Blickkontakt aufrecht, und als ich mich bewegte, um den eingeschlafenen Arm zu entlasten, klammerte sie sich an meinen Hals. Vorsichtig barg ich sie im anderen Arm und stand auf. Erst in diesem Augenblick bemerkten mich die entgegenkommenden Männer, hielten kurz inne, bevor sie zügig auf mich zukamen. Ein Lesepriester des Ptah-Tempels, der sich etwa eine Stunde Fußmarsch entfernt am selben Kanal befand, stellte sich und seine Begleiter vor. Die Soldaten hatten nach ihnen geschickt, damit sie sich der Toten annahmen.
Nach dieser kurzen Einleitung fragte er mich:
›Gibt es noch weitere Überlebende?‹
›Nein, ich glaube nicht. Nur dieses Kind konnte ich bergen.‹
›Du stammst nicht aus dem Dorf?‹, fragte er mit hochgezogenen Brauen.
›Nein, ich kam zufällig des Weges, und die Angreifer waren schon weg. Nur das Kind hier hörte ich im Brunnen wimmern, kein anderes Leben regte sich. Fast gleichzeitig mit mir kamen die Soldaten an.‹
Der Lesepriester nickte und wollte seinen Weg fortsetzen, doch ein anderer aus der Gruppe kam nach vorn und betrachtete das Mädchen aufmerksam.
›Ich kenne das Kind, sie heißt Tefnut und ist die Tochter von Nebi, dem Einzigen im Dorf, der Esel hielt und für den Tempel oft Transportdienst leistete.‹
Ein Hoffnungsschimmer kam in mir auf.
›Du kennst die Familie? Vielleicht auch noch andere, die nicht hier im Dorf gelebt haben?‹
Traurig schüttelte er den Kopf.
›Nein, ihre Großmutter, Tante und Onkel, alle lebten hier mit ihren Familien, und wenn sie tot sind, kenne ich keine weiteren Angehörigen.‹
Der Lichtblick verblasste so schnell, wie er gekommen war.
›Aber was soll jetzt aus ihr werden? Wer wird sich um sie kümmern?‹
Der Lesepriester übernahm die Antwort:
›Du hast sie gefunden, jetzt bist du auch für sie verantwortlich. Keine Familie wird ein Mädchen aufnehmen. Einen Jungen vielleicht, doch ein Mädchen …‹, bemerkte er abschätzig.
Er machte einen Schritt in Richtung Dorf, wandte sich dann aber noch einmal an mich.
›Wenn du sie nicht behalten willst, dann gib sie dem Tempel als Sklavin, wir werden schon eine Verwendung für sie finden.‹
Wut wollte in mir aufsteigen. Hatte das Kind noch nicht genug erdulden müssen? Sollte sein weiteres Schicksal jetzt auch noch die Sklaverei sein? Nein, das wollte ich auf keinen Fall. Eine andere Lösung musste her. Aber welche? Eine scharfe Erwiderung lag mir auf der Zunge, doch er kam mir zuvor.
›Hm, sie ist ja noch viel zu klein, muss erst großgezogen werden, wer sollte das denn machen? Nein, vergiss das Gesagte, und sieh zu, wie du mit ihr zurechtkommst.‹
Er drehte sich um und setzte seinen Weg ohne ein weiteres Wort fort. Die anderen folgten ihm auf dem Fuß, nur der das Mädchen erkannt hatte, blieb stehen. Er musterte mich nachdenklich und fragte dann:
›Was wirst du jetzt machen?‹
›Ich weiß es nicht‹, antwortete ich niedergeschlagen und sank auf den Boden.
Tefnut hatte vermutlich alles verstanden, wusste, dass es um ihr weiteres Schicksal ging, und klammerte sich immer fester an meinen Hals. Kein Ton kam aus ihrem Mund, aber Tränen der Angst netzten meine Haut. Hilflos sah ich den Priester an. Der ging neben mir in die Hocke, knetete seine Hände und starrte ins Leere.
›Ich habe ihren Vater sehr gemocht. Er war ein fleißiger Mann und unsere Zusammenarbeit war von gegenseitigem Nutzen. Als Verwalter der Tributzahlungen oblag es mir, den Wert des Gelieferten zu bestimmen, auf den Papyri festzuhalten und im Frühjahr das Saatgut zuzuteilen. Nebi hat vieles mit seinen Eseln transportiert und auch seinen Vorteil davon gehabt. Jetzt wird sich alles ändern. Das Land wird neu verteilt oder von Sklaven des Tempels bearbeitet werden, denn es gehört zum Tempel. Jedenfalls was die Verwaltung betrifft. Ich brauche wieder einen, auf den ich mich verlassen kann, um meine Arbeit richtig zu machen.‹
Er hob den Kopf und blickte mir in die Augen.
›Wo kommst du her, und womit bestreitest du deinen Lebensunterhalt?‹
Ich konnte es kaum fassen. Was bot er mir hier an? Ganz offensichtlich bereicherte er sich mittels Unterschlagungen, und Tefnuts Vater hatte dazu geschwiegen oder sich daran beteiligt. Groß kann Nebis Gewinn allerdings nicht gewesen sein, denn er lebte hier wie alle anderen. Was erwartete der Priester jetzt von mir, und wie sollte ich mich verhalten?
›Ich komme aus der Nähe von Theben, wo ich bei einem Handwerker in die Lehre ging. Als er starb, haben andere seine Arbeiten übernommen, und ich musste gehen.‹
Es war nur die halbe Wahrheit, denn ich wusste ja nicht, ob Amunwashu nicht mehr lebte. Anzunehmen war es, denn sonst wäre er zu diesem Zeitpunkt über achtzig Jahre alt gewesen. Ein überaus hohes Alter für einen Mann in dieser Schicht.
›Du bist recht alt für einen Lehrling, doch das soll mir egal sein, ein Handwerker nützt mir nichts.‹
Er stand auf und wollte gehen, aber ich hielt ihn zurück.
›Warte, ich war nicht immer Handwerker. Vorher habe ich Felder bestellt und Rinder gezüchtet.‹
Langsam drehte er sich um und musterte mich nachdenklich.
›Erst Bauer, dann Handwerker. Wie alt bist du denn eigentlich? Wer wechselt denn so die Arbeit?‹
›Mein Alter spielt doch keine Rolle, und arbeiten kann ich, da kannst du sicher sein. Außerdem gibt es immer wieder Gründe, mit etwas Neuem anzufangen, so wie jetzt, hier zum Beispiel‹, sagte ich zweideutig.
Wieder knetete er nervös seine Hände.
›Besitzt du etwas, um dir das Recht auf Nebis Land zu sichern? Wenn nicht, können wir es vielleicht auch mit höheren Abgaben verrechnen.‹
Ich war anscheinend an einen gerissenen Geschäftemacher geraten, der aus jedem und allem Gewinn schlug. Auf keinen Fall wollte ich mich in die Abhängigkeit eines solchen Menschen begeben.
›Das wird nicht nötig sein. Ich habe ein wenig Schmuck, der dem Wert entsprechen müsste.‹
›Schmuck?‹ Seine Augen leuchteten vor Gier auf.
›Wie kommt so einer wie du zu Schmuck?‹
Bei diesen Worten wanderte ein abschätzender Blick über mich, was ich verstehen konnte, denn auf meinen langen einsamen Wanderungen hatte ich wenig auf mein Äußeres geachtet.
›Warte, bis ich wieder ein Dach über dem Kopf habe, dann wirst du anders denken. Den Schmuck habe ich übrigens ehrlich verdient, durch Arbeiten die ich zusätzlich übernahm.‹
Das stimmte auch, denn oft wollten Kunden Amunwashus Dienste in Anspruch nehmen, konnten sie sich aber nicht leisten. Ich hatte zu der Zeit schon einen hohen Fertigkeitsgrad erreicht, und übernahm die Arbeiten mit seinem Einverständnis. Die Kunden waren meist so zufrieden, dass die Vergütung überdurchschnittlich ausfiel.
›Schon gut, ich will es eigentlich gar nicht wissen. Kannst du mir zeigen, was du hast?‹
›Ja, ich hab’s in meinem Bündel. Warte, ich hole es.‹
Der Mann war überaus gierig, das konnte man an seinen Augen sehen, und ich wollte ihn auf keinen Fall alles zeigen, was ich besaß.
Vorsichtig, um nicht mit dem Kind im Arm auszurutschen, ging ich die drei Schritte die Böschung hinunter. Dann wollte ich Tefnut absetzen, um besser in meinen Habseligkeiten kramen zu können, doch sie ließ sich nicht ohne Gewalt lösen.
›Tefnut, bitte‹, sagte ich sanft und griff nach ihren kleinen Händen.
Sie schüttelte leicht den Kopf und krallte sich nur noch fester an mich. Mühsam öffnete ich daher mit einer Hand die Verschnürung, rollte die Decke auf, in die alles eingewickelt war, und versuchte mit meinem Körper die Sicht auf den Inhalt zu verstellen. Ich griff nach einem weißen, mit einem Lederband verschnürten Tuch, und schlug die Decke wieder über die restlichen Habseligkeiten. Nachdem ich das Lederband geöffnet hatte, entnahm ich dem Tuch ein Achatamulett und eine fein gearbeitete Silberkette mit einem Anhänger aus Lapislazuli. Den Rest schob ich zurück in das Bündel.
Als ich mit den beiden Gegenständen auf den Priester zuging, weiteten sich dessen Augen noch mehr.
›So kostbare Gegenstände in deinem Besitz? Egal, es sollte ausreichen. Gib her und ich veranlasse alles Notwendige.‹
Ich lachte kurz auf, denn die Kette allein war mehr wert, als er mir dafür bot. Ich hatte sie, als ich Theben verließ, gegen viele andere, weniger wertvolle Gegenstände eingetauscht, um nicht so viel mitschleppen zu müssen.
›Nicht so hastig, mein Freund, ich kenne den Wert dieses Schmucks wohl. Du bekommst das Amulett im Voraus, die Kette aber erst, wenn alles zu meiner Zufriedenheit geregelt ist.‹
Missmutig schnauft er und winkte ab.
›Lass es bleiben, das Risiko ist es mir nicht wert. Wer weiß, woher du den Halsschmuck hast.‹
Er hatte angebissen, das konnte ich sehen, denn es gelang ihm nicht, die Augen von der Kette abzuwenden.
›Gut, ich verhandle doch besser mit dem Lesepriester oder vielleicht gleich mit dem zweiten Propheten eures Tempels.‹
Das lag nicht in seinem Sinne, und wie erwartet, kam er mir entgegen.
›Hm, warte, was hast du dir denn vorgestellt?‹
›Die Kette ist mit Sicherheit dreieinhalb Deben wert.‹
Wieder ein missmutiges Schnaufen.
›Was? Bist du anderer Meinung? Wollen wir es lassen?‹, fragte ich mit einem überlegenen Schmunzeln.
Er merkte, dass ich ihm gewachsen war, und gab seine Strategie auf.
›Nein, nein, schon gut. Also weiter‹, sagte er mit einer beschwichtigenden Geste.
›Ich weiß ja nicht, wie viel Land du mir verschaffen willst, aber ich denke, mehr als für eineinhalb Deben brauche ich nicht. Für den Rest lässt du mir das Haus von Nebi wiederaufbauen und beschaffst mir drei Esel, damit ich auch die Transportdienste übernehmen kann.‹
Nervös knetete der Priester wieder seine Hände. Er hatte sich einen viel höheren Gewinn erhofft, doch nach einigen Hm und Naja schien er zu dem Schluss zu kommen, dass immer noch genug für ihn dabei heraussprang, und willigte ein.
›Also gut, ich bin einverstanden. Gib das Amulett her.‹
Fordernd streckte er mir seine Hand entgegen, und ich legte es hinein, hielt es jedoch noch einen Augenblick fest.
›Versuche nicht, mich zu betrügen! Du kannst sicher sein, dass du es sonst bereust!‹
Sein Gesichtsausdruck zeigte mir, dass er mich verstanden hatte. Er schloss die Hand ums Amulett und sagte:
›Ich merke schon, mit dir wird es schwieriger als mit Nebi, vielleicht aber auch einträglicher. Was willst du jetzt machen? Hier kannst du nicht bleiben, bis alles geregelt ist.‹
›Für mich wäre das kein Problem, doch für das Kind brauche ich eine feste Unterkunft. Ist in der Nähe des Tempels so etwas zu finden?‹
Er nickte.
›Folge dem Kanal bis zum Heiligtum. Frage dort nach einem Unreinen, der Seneb heißt. Seine Eltern sind vor Kurzem gestorben, und er hat noch keine Kinder, also Platz im Haus. Sag ihm: Ich, der Reine Tchenti, wünsche, dass er dich für einige Zeit aufnimmt, die Unkosten begleiche ich.‹
Ich nickte und wollte mich schon abwenden, da fiel mir noch etwas ein.
›Wieso führt eigentlich ein Lesepriester eure Gruppe an, die nehmen doch nur ungern an solchen Aufgaben teil?‹
Er legte den Kopf schief und fixierte mich gespannt.
›Du kennst dich aber gut aus in Tempelangelegenheiten. Hast du mit deinem Meister für einen Tempel gearbeitet?‹
›Nein, aber ich hatte oft genug mit Priestern zu tun, und sollten wir nicht alle unsere hem-netjer gut kennen? Was ist also mit dem Lesepriester?‹
Die Schärfe und Selbstsicherheit, mit der ich sprach, verwirrten ihn zusehends.
›Das Dorf ist wichtig für den Tempel, und Teile des Landes gehören der Familie des zweiten Propheten. Der ist aber sehr alt und kann gerade noch seinen Aufgaben nachkommen. Der Lesepriester Rai ist als sein Nachfolger im Gespräch und wird auch vom zweiten Propheten bevorzugt. Dieser hat ihn beauftragt, alles Notwendige in die Wege zu leiten.‹
›Schön, es ist immer gut zu wissen, mit wem und welchen Verhältnissen man es zu tun hat‹, sagte ich mit einem hintergründigen Lächeln. ›Und noch eins: Unterschätze nicht, was ich kann und bin!‹
Mit diesen Worten drehte ich mich um und ging, einen höchst verwirrten Priester zurücklassend, zu meinen Habseligkeiten. Normalerweise waren sie es, die arrogant und selbstbewusst daherkamen, so aber von einem behandelt zu werden, der dem Schein nach weit unter ihnen stand, war mehr als ungewöhnlich. Vermutlich fragte er sich jetzt, ob es klug war, den Handel mit mir einzugehen, aber genau das war meine Absicht. Er sollte nicht auf den Gedanken kommen, sich an mir schadlos zu halten.
Verdrießlich folgte Tchenti den anderen, während ich mein Bündel schnürte, und den Weg zum Tempel einschlug.
Tefnut auf meinem Arm hatte die ganze Zeit keinen Ton von sich gegeben, sich nur ganz eng an mich geschmiegt. Jetzt hob sie den Kopf und sah zu den immer noch schwelenden Trümmern des Dorfes. Ein leiser, klagender Laut entrang sich ihrer Brust und ich blieb noch einmal stehen.
Sanft löste ich sie so weit, dass ich ihr in die Augen sehen konnte.
›Tefnut, was hier geschehen ist, tut mir sehr leid, ich kann es aber nicht ändern. Eins verspreche ich dir jedoch: Ich lasse dich nicht im Stich und sorge für dich, so gut ich kann. Wir kommen auch wieder hierher, wenn die Spuren der Verwüstung nicht mehr sichtbar sind. Verstehst du das?‹
Sie nickte und legte ihren Kopf wieder vertrauensvoll auf meine Schulter, doch ich spürte die Tränen, die meine Haut netzten. Was mich aber noch mehr bedrückte, war die Stille, mit der sie ihren Schmerz verarbeitete. Mein Herz krampfte sich zusammen, und ich hatte Mühe, nicht in ihr Leid einzustimmen.
Zügig schritt ich voran, um mich abzulenken, weshalb ich weit vor der Abenddämmerung den Tempel erreichte. Bei den Wachen am Tor erkundigte ich mich nach dem Unreinen, und man wies mir den Weg zu einem Vorratsspeicher. Dort fand ich Seneb damit beschäftigt, mit einer Katze durch den Speicher zu streifen und Mäuse zu jagen.
Ich richtete ihm aus, was mir Tchenti gesagt hatte und dass er für die Unkosten aufkommen wolle. An Senebs Gesichtsausdruck erkannte ich, dass er dann wohl leer ausgehen würde. Das wollte ich auf keinen Fall und bat ihn einen Augenblick zu warten. Ohne dass er es sah, öffnete ich mein Bündel und entnahm ihm einen Zierkamm und Ohrschmuck aus Elfenbein. Beides legte ich ihm in die Hand und sagte:
›Ich hoffe, das deckt die Ausgaben, wenn du für das Mädchen und mich ein paar Tage Quartier und Essen stellst.‹
›Aber Herr.‹ Er wollte auf die Knie sinken, und nur eine Geste von mir hielt ihn davon ab. ›Das ist zu viel. Das kann ich nicht annehmen, wo doch mein Herr Tchenti für die Kosten aufkommen will.‹
Ich lachte leise auf.
›Gehe ich recht in der Annahme, dass du von ihm nicht viel zu erwarten hast?‹
Er druckste herum, wand sich, wagte indes nicht, das Gegenteil zu behaupten.
›Gut, das habe ich mir gedacht.‹ Ich lächelte ihn an und schloss seine noch offene Hand über den Schmuck. ›Nimm das und schweige darüber, sonst will er vielleicht noch etwas davon abhaben. Jetzt bring mich zu deinem Haus, das Kind braucht Ruhe.‹
›Ja, Herr.‹
Seneb stellte den Stock, mit dem er die Mäuse aufgescheucht hatte, an die Wand, griff die Katze, und wir verließen den Raum. Nachdem er die Katze bei einem anderen Unreinen abgegeben hatte, gingen wir zusammen aus dem Tempelbereich in das angrenzende große Dorf.
Auf dem Weg zu seinem Haus musterte ich ihn eindringlich. Er war noch jung, höchstens 18 oder 19 Jahre alt. Sehr schlank, eher dürr, aber sauber und gepflegt. Rabenschwarze kurze krause Haare bedeckten sein Haupt. Im schmalen Gesicht stach eine kräftige Nase hervor, und die Augen wurden von starken Brauen beschattet. Sein Mund war ein bisschen verkniffen, vermutlich war er ein ehrlicher Mann, der nicht wusste, ob er sich über die Gaben freuen sollte.
Senebs Haus war zweistöckig, mit einer Grundfläche von etwa vier mal zwölf Metern. Im Erdgeschoss gab es einen Eingangsbereich, von dem aus eine Treppe in die obere Etage führte, den Wohnbereich der Familie und eine Art Bad. In dem kleinen Raum standen Krüge mit frischem Wasser und in einer Ecke ein mit Sand halbgefüllter Topf, der für die Notdurft gedacht war. Daneben stand ein länglicher Tisch, mit einer Waschschüssel und Schminkutensilien, denn auch die ärmeren Frauen und Männer schminkten sich, vor allem um die Augen, was zum Teil Entzündungen vorbeugen sollte, die in dem heißen, trockenen Klima nicht ungewöhnlich waren.
In der ersten Etage befanden sich die halb offene Küche und zwei abgetrennte Ruhebereiche. In der heißen Jahreszeit wurde aber meistens auf dem Dach, durch Netze vor Insekten geschützt, geschlafen.
Unser Gastgeber führte uns in die Küche, wo wir seine Frau vorfanden.
›Nefret, ich habe Gäste mitgebracht. Tchenti wünscht, dass sie für eine gewisse Zeit bei uns wohnen.‹
Die Hausherrin hatte mit dem Rücken zu uns am Boden gehockt und Teig für Fladenbrot geknetet. Sie erhob sich mühsam und stieß dabei einen seltsamen Laut aus, wobei unklar blieb, ob aus Unmut oder weil ihr wegen der schon weit fortgeschrittenen Schwangerschaft das Aufstehen schwerfiel. Doch ihr Mann verstand, dass sie verärgert war. Er ging auf sie zu und zeigte ihr Kamm und Ohrschmuck.
›Hier, schau nur, was der Herr uns als Entschädigung für den Aufwand gegeben hat.‹
›Tchenti?‹, fragte sie ungläubig.
›Nein, unser Gast.‹
›Oh.‹
Die Verlegenheit war ihr ins Gesicht geschrieben. Für einen Moment wusste sie nicht, wie sie sich verhalten sollte.
Um ihr zu helfen, sagte ich:
›Herrin, mein Name ist Sefuamun. Ich bin untröstlich, dass ich euch Umstände bereite, doch ich weiß sonst nicht, wohin. Ich kann überall unterkommen, das kleine Mädchen aber braucht einen Ort der Geborgenheit. Ihr Dorf wurde heute überfallen, und alle, auch ihre Eltern, sind tot. Ich fand sie im Brunnen, wo sie ihr Vater versteckte hatte, und werde mich bemühen, ihr wieder ein Heim zu geben. Das geht aber nicht von einem Tag auf den anderen. Für die Zwischenzeit brauche ich eine Unterkunft, hauptsächlich für Tefnut.‹
Als ich von dem Dorf erzählte, hatte Nefret, als wollte sie ihr ungeborenes Kind schützen, die Hände um ihren Bauch gelegt. Man sah ihr an, dass sie mit dem Mädchen fühlte, doch als sie nähertrat, um Tefnut zu streicheln, entzog sich das Kind auf meinem Arm den sanften Händen der Frau. Es schob sich unter meinem Kopf hindurch auf die andere Schulter, um sein Gesicht wieder an meinem Hals zu bergen.
›Tefnut, was ist mit dir? Hier will dir niemand ein Leid zufügen‹, doch sie schüttelte nur den Kopf.
›Entschuldigt, Herrin, sie ist immer noch ganz verstört von dem Erlebten.‹
Die Frau des Hauses trat einen Schritt zurück, nickte und sagte mitfühlend:
›Verständlich. Ich kann mir kaum vorstellen, was sie durchmachen musste. Natürlich seid ihr willkommen. Sie soll es gut haben bei uns, solange ihr diese Unterkunft braucht. Ist sie eine Verwandte von dir?‹
›Nein, ich lebte vorher in der Nähe von Theben und kam zufällig nach dem Überfall an dem Dorf vorbei.‹
Wieder strich sie sich sanft mit beiden Händen über den Bauch.
›Erstaunlich, das Mädchen klammert sich an dir fest, als wäre es deine Tochter.‹
›Ja, ich kann’s auch nicht verstehen. Ich möchte mir aber gerne den Staub des Tages abwaschen und dabei kann ich dich nicht auf dem Arm halten‹, fügte ich, an Tefnut gewandt, hinzu.
Sie reagierte nicht und mir blieb nichts anderes übrig, als sie sanft, aber mit der nötigen Kraft von mir zu lösen. Als ich sie anblickte und mit ihr sprechen wollte, schloss sie die Augen und drehte den Kopf weg.
›Tefnut, ich kann dich nicht immer im Arm halten. Ich habe dir versprochen, dass ich mich um dich kümmern werde, und das mache ich, so gut ich kann.‹
Kein Ton kam über ihre Lippen, aber sie ließ sich widerstandslos auf den Boden setzen. Mit geschlossenen Augen saß das kleine Häuflein Elend da, und ich musste mich überwinden, sie nicht gleich wieder auf den Arm zu nehmen. Nachdem ich um die Erlaubnis gebeten hatte, das Bad zu benutzen, reinigte ich mich gründlich, nahm aus meinem Bündel ein kleines Bronzemesser und rasierte mich. Wenn nur eine hochpolierte Scheibe aus Bronze als Spiegel dient, ist das gar nicht so einfach, doch schließlich war ich es gewohnt. Mein ziemlich langes Haar stutzte ich auf wenige Millimeter zurück, und schminkte mir die Augen wie es üblich war. Wenn ich für das Kind sorgen wollte, musste ich dazugehören. Nachdem ich meinen Habseligkeiten einen frischen Schurz entnommen und umgelegt hatte, ging ich wieder in die Küche des Hauses.
Ich war vorzeigbar geworden, das konnte ich den Blicken von Nefret und Seneb entnehmen. Tefnut allerdings noch nicht, was ich schnell nachholen wollte. Unsere Gastgeber baten mich aber, erst die Mahlzeit mit ihnen einzunehmen, denn die Fladenbrote sowie eine Hirsesuppe waren inzwischen fertig. Im ersten Augenblick dachte ich, Tefnut sei immer noch böse mit mir, da sie mich keines Blickes würdigte. Bewegungslos saß sie auf dem Boden, doch als ich sie auf den Arm nahm, schmiegte sie sich gleich wieder an mich.
Wir hatten gegessen, wobei das Kind kaum einen Bissen hinunterbrachte. Dann säuberte ich das Mädchen, fühlte mich dabei aber unwohl, doch sie ließ sich von keinem anderen anfassen, auch von Nefret nicht. Die kurze Dämmerung war hereingebrochen, wir saßen in den angenehmen Temperaturen des Abends auf dem Dach und unterhielten uns. Der Hausherr hatte einen großen Krug Bier gebracht, und langsam fiel die Anspannung des Tages von mir ab. Tefnut schlief auf meinem Schoß ein. Ich wagte kaum, mich zu bewegen, doch konnten wir nicht die ganze Nacht so sitzen bleiben. Seneb bereitete unser Lager im Ruheraum seiner verstorbenen Eltern vor. Da wir den dritten Teil des Peret hatten – nach unserem Kalender etwa Anfang Januar –, waren die Nächte zu kalt, um auf dem Dach zu schlafen.
Vorsichtig stand ich mit dem Kind auf, trug es zu seinem Lager, deckte sie zu und schloss das Netz über ihr. Anschließend legte ich mich auf die Matte daneben. Kaum lag ich, schreckte die Kleine hoch, gab einen erstickenden Laut von sich und versuchte unter dem Netz hervorzukriechen. Ich sprach beruhigend auf sie ein, doch es half nichts, sie kroch zu mir unter die Decke. Nichts was ich sagte, konnte sie davon abbringen. Tefnut kuschelte sich ganz eng an mich, legte den Kopf auf meinen Arm, wurde ruhig und schlief schnell wieder ein.
Die nächsten Tage waren angefüllt mit den Vorbereitungen für mein neues Leben. Ich besorgte mir frische Kleidung, auch für das Kind, obwohl es, wie alle Kinder in diesem Alter meist nackt herumlaufen würde. Tchenti hatte Wort gehalten und das Land von Tefnuts Vater für mich gesichert. Die Häuser wurden schon wieder aufgebaut und vieles von der Verwüstung war im groben beseitigt. Der Tempel erhielt bei diesen Arbeiten Unterstützung durch die in der Nähe stationierten Militäreinheiten, von denen ich einen Teil der Männer schon kannte. Ich war froh, dass sie von nun ab regelmäßige Sicherungsstreifen bis weit in die Wüste aussandten.
Der Priester hatte mir die drei gewünschten Esel besorgt, und zu meinen ersten Aufgaben gehörte der Transport von Baumaterial ins Dorf. Es war nicht möglich, Tefnut allein oder bei Nefret zu lassen. Also blieb mir nichts anderes übrig, als sie mitzunehmen. Ich hatte befürchtet, dass sie der Anblick ihres zerstörten Wohnortes zu stark belasten würde, doch das Kind entwickelte seine eigene Strategie. Sie schien das Vergangene ab diesem Zeitpunkt einfach auszublenden, tat so, als wäre ihr das Dorf unbekannt und alles erst im Aufbau begriffen. Mich bezeichnete sie als Vater.
Ja, sie sprach jetzt, nicht viel, nur das Nötigste. Wenn sich jemand nach ihren Eltern erkundigte, zuckte sie mit den Schultern und wies auf mich. Es war einerseits beklemmend für mich, hatte ich doch Angst, zu versagen und der Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Andererseits war es schön, das Mädchen wieder einmal lachen zu sehen, wenn ich mir Zeit für sie nahm, mit ihr spielte oder sie auf einem von mir geführten Esel reiten durfte. Abends, bei meinen Gastgebern, kroch sie immer wieder zu mir auf die Strohmatte. Allein wollte sie einfach nicht schlafen.
Mit der Zeit machte es mir richtig Spaß, Tefnut um mich zu haben, denn sie war wissbegierig, aufmerksam und ahmte vieles von mir nach. Bald waren wir eine gut eingespielte Minifamilie.
Drei Wochen waren vergangen, Tefnuts Elternhaus repariert und fast wieder bewohnbar. Wieder einmal hatte ich den ganzen Tag, die heißen Mittagsstunden ausgenommen, mit den Eseln Transportdienst geleistet, und wir trafen mit der letzten Ladung, die diesmal für uns bestimmt war, bei dem Haus ein. Nachdem ich den Leitesel angebunden hatte, hob ich Tefnut von ihm herunter und brachte die Einrichtungsgegenstände, die ich besorgt hatte, ins Haus. Dann tränkte ich die Tiere am Brunnen und führte sie anschließend auf das Feld, das ich von nun an bearbeiten würde. Es war ein gutes Stück Land nahe am Hauptkanal. Die diesjährige Ernte war zu einem großen Teil vernichtet, da die lybischen Krieger ihre erbeuteten Rinder, Schafe und Ziegen über die Felder getrieben hatten. Nur ein kleiner Teil Gerste am Feldrand war stehen geblieben, alles andere würde sich nicht wieder aufrichten, und die Halme begannen am Boden zu faulen. Die Ähren hatten sich gerade erst ausgebildet, und es gab keine Möglichkeit, den Schaden wiedergutzumachen. Willkommenes Futter für die Tiere.
Ich löste meine kleine Karawane auf – denn ein Tier war an das andere gebunden – und pflockte die Esel so an, dass sie sich satt fressen konnten. Nachdem Tefnut und ich unseren Durst gestillt hatten, setzte ich mich in Meditationshaltung in den Schatten eines Feigenbaumes. Ich schloss die Augen und begann mich, wie schon öfter in den letzten Tagen, wieder in Meditation zu üben. Bisher hatte Tefnut immer schweigend zugesehen, doch diesmal wurde ihr die Zeit zu lang.
›Vater, schläfst du?‹
Ich brauchte einen Augenblick, um aus meiner Versenkung zu erwachen, sah sie an und strich ihr zärtlich über den Kopf.
›Nein, ich versuche nur, aus innerer Ruhe Kraft zu schöpfen, und spreche dabei auch manchmal mit meinem Gott.‹
›Mit Amun?‹
Ich legte die Stirn in Falten und fragte:
›Wie kommst du auf Amun?‹
›Nefret hat mir deinen Namen erklärt. Der bedeutet ja: Schwert des Amun, und deshalb …‹
Wie gut sie auf einmal sprechen konnte, und was für kluge Schlussfolgerungen sie traf.
›Ja, der Name hat diese Bedeutung, doch er wurde mir von einem anderen gegeben.‹
›Von deinem Vater?‹
›Nein, ich wurde in einem anderen Land geboren. Der Name, den mir mein Vater gab, ist hier unverständlich. Als ich in Theben lebte, kam ich dazu, als mein späterer Lehrmeister in einen Konflikt mit Wagenlenkern der Amun-Division geriet. Ich konnte ihm helfen, und Amunwashu nannte mich von da an Sefuamun.‹
›Oh, Wagenlenker sind doch große Krieger. Erzählst du mir die Geschichte?‹
›Jetzt nicht, mein Sonnenschein.‹
Ich strich ihr wieder zärtlich über den Kopf und fragte mich, warum sie vorher nur so wenig oder gar nicht gesprochen hatte. Tefnut bemerkte es anscheinend kaum, sie senkte den Kopf und kaute nachdenklich an ihrer Unterlippe.
›Ich habe gelernt, Amenemope anzubeten. Mein … der Mann, bei dem ich vorher gelebt habe, hat sehr oft zu ihm gebetet, weil er die Felder beschützt hat. Wie heißt dein Gott?‹
Sie hatte gezögert und konnte das Wort Vater in diesem Zusammenhang nicht aussprechen. Es machte mich traurig, dass Tefnut ihre Vergangenheit so verdrängte, dass sie selbst ihren leiblichen Vater aus der Erinnerung zu verbannen schien. Wie sollte ich damit umgehen? Für den Augenblick entschied ich mich dafür, erst einmal ihre Frage zu beantworten und später mit ihr darüber zu sprechen.
›Mein Gott hat keinen Namen. Er ist der Einzige für mich, ich kann ihn überall finden.‹
›Keinen Namen? Wie sieht er aus? Hast du eine Statue von ihm?‹
›Nein, ich habe keine Bilder von ihm. Er ist für mich überall. In der Luft, die wir atmen, im Boden, auf dem wir gehen, im Wasser und in jedem Menschen.‹
Das waren ungewöhnlich Gedanken für sie.
›Auch in mir?‹
›Ja, auch in dir. Durch dich spricht er mit mir, gibt mir Kraft, die Arbeit des Tages zu leisten, dich zu schützen und dir ein gutes Leben zu ermöglichen.‹
Sie richtete ihren Blick nach innen und überlegte, doch dann schüttelte sie ihren kleinen Kopf.
›Ich kann ihn nicht sehen und spüren, deshalb kann ich auch nicht zu ihm beten. Ich werde weiter zu Amenemope beten, dass er uns beschützt und uns eine gute Ernte bringt.‹
Ich hatte kein Recht, ihr meinen Glauben aufzudrängen. Zumal ich mir nicht sicher war, ob ich wirklich noch einen festen Glauben hatte. Vielleicht war es nur noch eine Angewohnheit, mit Gott zu sprechen, zu viel war geschehen, was sich nicht erklären ließ. Langsam begann ich, vieles, was mir einmal wichtig und richtig erschienen war, infrage zu stellen.
›Tu das, mein Herz, aber mit der Ernte wird in diesem Jahr nicht mehr viel werden, du siehst ja, wie das Feld aussieht.‹
›Ich heiße Tefnut, warum sagst du immer mein Herz oder mein Sonnenschein?!‹, sagte sie mit entrüstetem Blick.
Ich lachte leise auf.
›Weil du ein Sonnenschein bist, mein Sonnenschein, und weil du, wann immer ich dich ansehe oder mit dir spreche, mein Herz berührst.‹
Sie sah auf ihre Hände, die sie, um mich nachzuahmen, im mida-no-jouin Mudra in den Schoss gelegt hatte. Nachdem sie eine Weile über meine Antwort nachgedacht hatte, nickte sie und sagte:
›Das ist schön, und du kannst mich auch weiter so rufen, aber das mit der Ernte stimmt nicht, du kannst ja noch mal sähen.‹
›Dazu brauchen wir Wasser, die Flut ist aber schon lange vorbei. Es sind nur noch Pfützen im Kanal.‹
Sie setzte eine überlegene Miene auf und wies mit ihrer kleinen Hand auf die letzten Felder vor der Wüste.
›Einmal hatten die Felder da hinten nicht genug Wasser abbekommen. Sie sahen ganz traurig aus. Da haben die Männer vom Dorf viele Tage lang, weit weg von hier, Wasser in den Kanal geschöpft und noch einmal gesät.‹
Das Mädchen war genial. An diese Möglichkeit hatte ich bisher nicht gedacht. In der Nähe von Theben hatten die Bauern auf einigen Feldern zwei Ernten eingebracht, indem sie nach der ersten die Felder über Schadufs noch einmal bewässerten. Allein war es bestimmt nicht machbar, aber wenn ich von den neuen Dorfbewohnern genügend Männer überzeugen könnte, wäre es bestimmt möglich. Vorausgesetzt, der Tempel würde uns Saatgut zur Verfügung stellen.
Zärtlich strich ich ihr übers Haar.
›Danke, das ist ein guter Gedanke. Ich werde sehen, ob er sich verwirklichen lässt.‹
Das Lob machte sie stolz. Zufrieden lächelnd schloss sie die Augen und gab vor zu meditieren. Auch ich versuchte wieder zur Ruhe zu kommen, doch es hielt nicht lange an. Ich spürte Tefnuts Unruhe und ihre Blicke, die auf mir ruhten. Da ich aber noch ein wenig Kraft schöpfen wollte, legte ich, ohne die Augen zu öffnen, meine Hand auf ihre und sagte leise:
›Noch ein bisschen, und dann zeige ich dir ein Geheimnis.‹
Die Aufregung, die sie sogleich befiel, war fast schlimmer als die vorherige Unruhe. Ich versuchte, wie es einst mein Shaolin-Lehrmeister getan hatte, sie mit der Kraft meines Chi zu beruhigen. Tatsächlich gelang es mir, Tefnut in einen Zustand inneren Gleichgewichts zu versetzen, und ich verspürte erstaunlicherweise fast die gleiche Wirkung.
Entspannt wie schon lange nicht mehr öffnete ich nach einiger Zeit die Augen. Ein Blick in Tefnuts Gesicht zeigte mir, dass es auch ihr sehr gut getan hatte. Tief luftholend, sagte sie:
›Das war schön. Eine Zeit lang konnte ich schweben, und ich hörte die Luft flüstern. Und dann, dann hat eine Frau ein wunderschönes Lied in einer Sprache gesungen, die ich nicht verstand. Wie hast du das gemacht, Vater?‹
Für einen Moment war ich sprachlos. Was hatte das Kind da erlebt? Ich hatte keine Ahnung, was ich ausgelöst hatte und wie ich es ihr erklären sollte.
›Kannst du es noch mal machen? Bitte‹, setzte sie flehend hinzu.
›Ich weiß gar nicht, was geschehen ist, Tefnut. Du solltest nur zur Ruhe kommen, als ich dich berührte. In dem fernen Land, in dem ich eine Zeit lang lebte, ging ich bei einem alten Meister in die Lehre. Er hat mir gezeigt, wie ich Kraft aus mir selber und aus allem um mich herum schöpfen kann. Nichts weiter wollte ich jetzt machen und dir ein bisschen davon abgeben. Ich habe das sehr lange vernachlässigt und möchte es jetzt, sooft ich die Zeit dazu finde, wieder ausüben. Es hat mich damals, nach einem Verlust, wie du ihn erlitten hast, wieder ins Leben zurückgeholt. Ob das noch einmal so geschieht wie eben, kann ich nicht sagen, aber ich werde es gerne wieder mit dir versuchen.‹
Bei meinen ersten Worten war ihre Miene immer trauriger geworden, doch nach dem letzten Satz strahlte sie mich an.
›Ja, bitte.‹
Sie nahm meine Hand, die ich in den Schoss gelegt hatte, und schob ihre darunter.
›Nicht jetzt, mein Sonnenschein, morgen wieder. Jetzt wollte ich dir noch etwas anderes zeigen, was du aber keine verraten darfst. Es ist auch ein Geheimnis von dem alten Meister und ich möchte es von jetzt ab, sooft es geht, mit dir üben.‹
Obwohl sie ein klein wenig enttäuscht war, besänftigte sie die Aussicht auf das Geheimnis.
Ich stand auf und überzeugte mich, dass wir von niemand beobachtet wurden, und ging mit ihr auf die andere Seite des Kanals. Dort gab es eine kleine, mit Schilf bewachsene sumpfige Stelle. Dahinter, vor den Blicken aus dem Dorf geschützt, begann ich mit einer Tai-Chi-Vorführung, an der ich Tefnut schließlich teilnehmen ließ.
Bedingt durch ihr Alter, fielen die Bewegungen ein bisschen tapsig aus, doch es gefiel ihr sehr. Es war der Beginn meiner Rückerinnerung erlernter Werte und half dem Kind, sich selbst zu finden. Die Frage, ob es richtig war, jemand zu dieser Zeit mit derartigem Können in Berührung zu bringen, verdrängte ich bewusst.«