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Das Wie­der­se­hen

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Schon seit ge­rau­mer Zeit lief die jun­ge Frau su­chend durch Lau­scha. Sie hat­te fast den gan­zen Ort durch­wan­dert und auf Grund der Ge­birgs­la­ge ei­ni­ge Stra­ßen auch mehr­fach er­kun­det. Nun lief sie zum zwei­ten Mal an die­ser Stra­ßen­bau­stel­le vor­bei, und die Män­ner dort blick­ten sie wie­der mit un­ver­hoh­le­ner Neu­gier an. So­fort stell­te sich bei ihr die­ses un­gu­te Ge­fühl ein. Sie fühl­te sich durch­schaut, er­kannt und er­nied­rigt.

Nur schnell vor­bei, dach­te sie, doch das soll­te ihr nicht ge­lin­gen. Ei­ner der Bau­ar­bei­ter steu­er­te di­rekt auf sie zu.

Nach­dem er sich mehr­fach be­wun­dernd über die jun­ge Frau ge­äu­ßert hat­te, wur­de er von sei­nen Kol­le­gen so lan­ge an­ge­sta­chelt, bis er al­len Mut zu­sam­men­nahm und auf sie zu­ging. Sie be­merk­te das und such­te ver­zwei­felt nach ei­nem Aus­weg. Am liebs­ten wäre sie im Erd­bo­den ver­sun­ken oder um­ge­kehrt, doch dazu war es be­reits zu spät.

»Hal­lo, Sie se­hen so su­chend aus, kann ich Ih­nen hel­fen?«

Oh, der scheint ja recht freund­lich und nicht nur auf eine dum­me An­ma­che aus zu sein, stell­te sie er­leich­tert fest.

»Ja, viel­leicht. Ich su­che das Haus ei­nes Be­kann­ten und habe dum­mer­wei­se sei­ne Ad­res­se nicht auf­ge­schrie­ben«, ant­wor­te­te sie aus­wei­chend.

»Wie heißt denn ihr Be­kann­ter? Lau­scha ist über­schau­bar, viel­leicht ken­ne ich ihn ja.«

Ihr Ge­sicht hell­te sich auf.

»Gün­ter Kauf­mann heißt er, und nach den Bil­dern, die er mir ge­zeigt hat, wohnt er in ei­nem re­la­tiv neu­en Ein­fa­mi­li­en­haus. Er hat vor et­was mehr als ei­nem Jahr sei­ne ge­sam­te Fa­mi­lie bei ei­nem schwe­ren Ver­kehrs­un­fall ver­lo­ren.«

Das Ge­sicht des Bau­ar­bei­ters ver­än­der­te sich schlag­ar­tig und mit ei­nem trau­ri­gen Blick deu­te­te er nach rechts den Hang hi­n­auf.

»Dort oben, hin­ter den zwei grö­ße­ren Häu­sern, ist eine schma­le Zu­fahrts­s­tra­ße, an der meh­re­re neue Ein­fa­mi­li­en­häu­ser ste­hen. Das vor­letz­te ge­hört Herrn Kauf­mann. Wenn Sie hier vorn rechts ein­bie­gen, sich an der nächs­ten Kreu­zung links hal­ten und an­schlie­ßend im­mer wie­der rechts ab­bie­gen, kön­nen Sie es nicht ver­feh­len.«

»Dan­ke!«, sag­te sie hoch­er­freut und woll­te sich auf den Weg ma­chen, doch der Bau­ar­bei­ter hielt sie noch ein­mal auf.

»War­ten Sie! Et­was muss ich Ih­nen noch sa­gen! Ich weiß nicht, wann und wo Sie Herrn Kauf­mann zum letz­ten Mal ge­se­hen ha­ben, doch seit dem Un­fall hat er sich sehr ver­än­dert. Ich woh­ne ganz in der Nähe, und wir ha­ben uns frü­her manch­mal ge­trof­fen, aber nach dem Tod sei­ner Fa­mi­lie war er nicht mehr der­sel­be. Erst war er to­tal am Bo­den und nur noch ein Schat­ten sei­ner selbst. Er hat sein Ge­schäft ver­nach­läs­sigt, und vie­le ha­ben schon be­fürch­tet, dass es den Bach run­ter­geht. Manch­mal ist er, ohne zu sa­gen wo­hin, ein­fach ver­schwun­den und Tage spä­ter erst wie­der auf­ge­taucht. Dann hat er ohne ir­gend­ei­ne Be­grün­dung sein Ge­schäft plötz­lich ab­ge­ge­ben. Man mun­kelt, er hät­te so eine Art Ak­ti­en­fonds ein­ge­rich­tet und die­sen un­ter sei­nen An­ge­stell­ten auf­ge­teilt. Die fä­higs­ten von ih­nen hat er zur Lei­tung der Fir­ma be­stimmt und ih­nen alle wei­te­ren Ent­schei­dun­gen über­las­sen. Er soll zwar bei Fra­gen und Pro­ble­men im­mer noch zur Ver­fü­gung ste­hen, aber an­sons­ten küm­mert er sich nicht mehr um das Ge­schäft.«

Er hol­te tief Luft und schüt­tel­te den Kopf.

»Ich sehe ihn noch ab und zu, doch ich habe das Ge­fühl, dass er jetzt ein ganz an­de­rer Mensch ist. Er mei­det den Kon­takt mit an­de­ren und sucht die Ein­sam­keit. Manch­mal habe ich ihn in den Ber­gen stun­den­lang still an ei­nem Fleck sit­zen se­hen, und er schi­en nichts um sich he­r­um wahr­zu­neh­men. Ir­gend­wie ist er sehr selt­sam ge­wor­den. Also wenn Sie ihn von frü­her her ken­nen, dann soll­ten Sie kei­nen über­schwäng­li­chen Emp­fang er­war­ten.«

Sie lä­chel­te ihn an und sag­te:

»Dan­ke für den Tipp, aber ich den­ke, er wird mich schon er­war­ten. Wir ha­ben uns erst vor ei­ni­gen Ta­gen zu­fäl­lig ge­trof­fen und hat­ten ein lan­ges und in­ter­essan­tes Ge­spräch. Also noch­mals dan­ke für al­les und: Auf Wie­der­se­hen!«

Mit die­sen Wor­ten wen­de­te sie sich ab und folg­te dem be­schrie­be­nen Weg.

Ihr nach­denk­lich nach­schau­end, ging der Bau­ar­bei­ter zu­rück zu sei­nen Kol­le­gen, und die­se emp­fin­gen ihn mit neu­gie­ri­gen Wor­ten:

»Eh, das war ja an­schei­nend eine sehr er­folg­rei­che An­ma­che! Du hast ihr wohl gleich den Weg zu dir nach Hau­se be­schrie­ben?«

»Quatsch­kopp, seh ich so aus, als ob so ne Frau auf mich flie­gen wür­de!? Ne, sie woll­te wis­sen, wo der Kauf­mann wohnt. Kennt ihn ir­gend­wo­her und will ihn be­su­chen.«

»Na, dann viel Spaß! Der lässt sich doch auf kein Ge­spräch mehr ein.«

»Glaub ich nicht! Sie scheint ihn erst vor kur­zem ge­trof­fen zu ha­ben. Auf alle Fäl­le kennt sie ihn recht gut, denn nichts von dem, was ich über ihn ge­sagt habe, hat sie wirk­lich über­rascht.«

»Viel­leicht ist das ja so ne Psy­cho-Tan­te, die ihn wie­der auf die Rei­he krie­gen will«, sag­te ein Drit­ter und schau­te ihr noch ein­mal hin­ter­her.

In die­sem Au­gen­blick bog die jun­ge Frau in die Sei­ten­stra­ße ein und ent­schwand ih­ren Bli­cken. Zü­gig schritt sie den be­schrie­be­nen Weg ent­lang, und als sie die Zu­fahrts­s­tra­ße er­reich­te, be­schlich sie das Ge­fühl, die­ses Bild schon ein­mal ge­se­hen zu ha­ben. Sie dach­te einen Au­gen­blick nach und er­in­ner­te sich an Bil­der aus der Ge­schich­te des Man­nes, den sie such­te. Nun brauch­te sie die Be­schrei­bung des Bau­ar­bei­ters nicht mehr. Schnell und si­cher streb­te sie dem Haus zu und er­kann­te es so­fort wie­der. Ein Blick auf die Klin­gel, und sie wuss­te, sie war rich­tig.

Sie hol­te tief Luft, drück­te auf den Klin­gel­knopf und schau­te er­war­tungs­voll zur Haus­tür. Doch nichts be­weg­te sich, kein Ge­räusch war zu hö­ren, und nie­mand war zu se­hen. Noch zwei­mal wie­der­hol­te sie die­sen Ver­such, dann war ihr klar, es war nie­mand zu Hau­se.

Was nun? Soll­te sie um­keh­ren und ein an­de­res Mal wie­der­kom­men? Aber da wä­ren die Chan­cen auch nicht bes­ser. Ge­nau­so gut konn­te sie war­ten, viel­leicht war er ja nur kurz weg­ge­gan­gen und kam bald zu­rück. Sie schau­te sich um und stell­te fest, dass das Haus in ei­ner sehr schö­nen Lage stand. Nicht weit hin­ter dem Haus be­gann der Wald, der sich über den ge­sam­ten rest­li­chen Hang bis zum Gip­fel des Ber­ges hin­zog. Nur noch ein Haus folg­te, und dann en­de­te die Stra­ße in ei­ner sanft ab­fal­len­den Wie­se. Die­ser streb­te sie nun zu. Das Gras war noch nicht lan­ge ge­mäht, und die jun­gen fri­schen Spit­zen ver­lie­hen der Wie­se eine saf­tig grü­ne Far­be. Nach­denk­lich setz­te sie sich und schau­te ins Tal.

Eine an­ge­neh­me Ruhe um­gab sie. Nur Vo­gel­stim­men und der leich­te Wind, der mit den Blät­tern der Bäu­me spiel­te, wa­ren zu hö­ren. Erst wenn man sich sehr an­streng­te, konn­te man die Ge­räusche aus der im Tal lie­gen­den Stadt wahr­neh­men. Die­se wirk­ten je­doch nicht stö­rend, im Ge­gen­teil, sie wa­ren lei­se und nah­men ei­nem das Ge­fühl der Ein­sam­keit.

Lang­sam wan­der­te ihr Blick über die schö­ne Land­schaft, und es dau­er­te nicht lan­ge, bis sie sich in die­sen Ort ver­liebt hat­te. Träu­me­risch schau­te sie von ei­nem Fleck zum an­de­ren, doch nach ei­ni­ger Zeit nahm sie nichts mehr da­von wahr. In ih­ren Ge­dan­ken tauch­ten Bil­der der Ge­schich­te auf, die sie hier­her ge­führt hat­te.

Sie konn­te nicht sa­gen, wie lan­ge sie so ge­ses­sen hat­te, als hin­ter ihr eine wohl­be­kann­te Stim­me er­tön­te.

»Wenn Sie kei­nen Son­nen­brand ha­ben wol­len, soll­ten Sie nicht so in der pral­len Son­ne sit­zen.«

Sie fuhr he­r­um und schau­te in das freund­li­che Ge­sicht des Man­nes, den Sie ge­sucht hat­te.

»Hal­lo!«, sag­te sie und stand auf. »Ich den­ke, Sie wer­den mich er­war­tet ha­ben, und ich möch­te ger­ne er­fah­ren, wie die­se Ge­schich­te aus­ge­gan­gen ist.«

Schmun­zelnd sah er sie an.

»Naja, sa­gen wir, ich habe ge­hofft, dass Sie nicht tun, was Sie auf die­sen Berg ge­führt hat­te, und wenn Sie es möch­ten, dann wer­de ich Ih­nen auch den Rest der Ge­schich­te er­zäh­len. Aber eins soll­ten Sie wis­sen. Es könn­te län­ger dau­ern.«

»Das hab ich mir schon ge­dacht, doch die Bil­der die­ser Ge­schich­te las­sen mich nicht mehr los, und ich den­ke auch, dass es nicht nur eine Ge­schich­te ist, son­dern ein ge­leb­tes Le­ben. Ich weiß zwar nicht, wie das mög­lich ist, doch viel­leicht wer­de ich es ja noch er­fah­ren.«

»Na, dann kom­men Sie mal mit. Wir kön­nen uns auf die Ter­ras­se hin­term Haus set­zen, dort ist es jetzt et­was schat­tig, und das dürf­te Ih­rer Haut gut­tun.«

Sie sah sich ihre schon leicht ge­röte­ten Arme an und stimm­te dank­bar zu. Auf dem Weg zum Haus mus­ter­te sie ihn prü­fend. Das Bild, das sie von ihm hat­te, und sei­ne Aus­strah­lung pass­ten so gar nicht zu dem, was der Bau­ar­bei­ter über ihn ge­äu­ßert hat­te. Doch wahr­schein­lich ist das so, wenn sich ein Mensch ge­än­dert hat und nicht mehr in die Scha­blo­ne passt, die man an­legt. Nur Au­ßen­ste­hen­de konn­ten sein neu­es und wah­res Ich er­ken­nen, alle an­de­ren hiel­ten ihn für über­ge­schnappt oder bes­ten­falls von den tra­gi­schen Er­eig­nis­sen ge­zeich­net.

Sie be­tra­ten den klei­nen Vor­gar­ten, und er führ­te sie um das Haus he­r­um zu der schön an­ge­leg­ten Ter­ras­se. Dort bat er sie, auf der Hol­ly­wood­schau­kel Platz zu neh­men, und rück­te einen klei­nen Tisch he­r­an. An­schlie­ßend schloss er die Tür auf, die von der Ter­ras­se ins Wohn­zim­mer führ­te. Von da ging er in die Kü­che, um Glä­ser und et­was zum Trin­ken zu ho­len.

»Was möch­ten Sie trin­ken? Ich habe gut ge­kühl­ten Ap­fel­saft, Oran­gen­li­mo­na­de und ein­fa­chen Spru­del«, rief er aus dem Haus he­r­aus.

»Viel­leicht den Ap­fel­saft. Oder war­ten Sie, brin­gen Sie den Spru­del doch mit. Mit Was­ser ver­dünn­ten Ap­fel­saft trink ich ei­gent­lich sehr ger­ne.«

Mit den bei­den Fla­schen und zwei Glä­sern in der Hand kam er wie­der he­r­aus. Nach­dem er ihr ein­ge­gos­sen hat­te, zog er einen Gar­ten­stuhl he­r­an und setz­te sich ihr ge­gen­über hin. Lan­ge und ein­dring­lich schau­te er sie an.

Selt­sa­mer­wei­se emp­fand sie die­sen Blick nicht als un­an­ge­nehm, son­dern es wur­de ihr da­bei rich­tig warm ums Herz. Sie hielt sei­nem Blick lan­ge stand, und erst als er sie an­sprach, griff sie zum Glas und trank in tie­fen Zü­gen.

»Was hat Ihre Mei­nung ge­än­dert? Was hat Sie be­wo­gen, doch das Le­ben zu wäh­len?«

»Ich kann es Ih­nen nicht ge­nau sa­gen! Zum einen si­cher­lich die Neu­gier­de, denn ich möch­te zu ger­ne wis­sen, wie die Ge­schich­te wei­ter­geht.«

Sie mach­te eine Pau­se und dach­te an­ge­strengt nach, doch als sie eine Wei­le spä­ter im­mer noch nicht fort­fuhr, frag­te er:

»Und zum an­de­ren?«

Ruck­ar­tig blick­te sie von dem Glas hoch, das sie an­ge­strengt fi­xiert hat­te.

»Ja, und zum an­de­ren hat mich ei­ni­ges nach­denk­lich ge­macht. Das, was Sie mir er­zählt ha­ben, oder bes­ser ge­sagt, was ich mit Ih­nen er­lebt habe, hat mich sehr be­schäf­tigt. Jetzt fra­ge ich mich, ob ich das Recht habe, ein­fach so aus mei­nem Le­ben zu flüch­ten. Viel­leicht kann ich die­sem ja ein neu­es Ziel ge­ben, einen neu­en Weg fin­den, um ein sinn­vol­les und er­füll­tes Le­ben zu füh­ren.«

Sie hol­te tief Luft, schüt­tel­te den Kopf und sah ihm in die Au­gen.

»Ich weiß es nicht. Doch ich möch­te ger­ne mehr hö­ren von Ih­rer Ge­schich­te. Sie ha­ben bei un­se­rem ers­ten Tref­fen so plötz­lich ab­ge­bro­chen und sind dann so schnell ver­schwun­den. Warum? Was hat Sie dazu ver­an­lasst?«

Nun war er es, der tief Luft hol­te und über­leg­te. Was und wie viel durf­te er ihr er­zäh­len? Schließ­lich schüt­tel­te er den Kopf und sag­te, sie da­bei an­lä­chelnd:

»Das ist schwie­rig zu er­klä­ren, aber ich mer­ke, dass ich das, was ich ein­mal be­gon­nen habe, auch ir­gend­wie zu Ende füh­ren muss. Ich hof­fe, Sie ha­ben ge­nü­gend Zeit mit­ge­bracht!?«

»Ja, na­tür­lich! Nur des­halb bin ich hier.«

»Gut, dann wür­de ich vor­schla­gen, wir las­sen das mit dem Sie sein, denn Sie, oder bes­ser ge­sagt, du tauchst so tief in mei­ne Welt ein und er­fährst so vie­le in­ti­me, per­sön­li­che Din­ge, dass es schon ein we­nig selt­sam klingt, wenn wir uns wei­ter sie­zen.«

»Ja doch! Ger­ne! Ich hei­ße Sa­rah, Sa­rah Lieb­herr, und wie soll ich dich nen­nen? Gün­ter Kauf­mann, Gü Mann, Xu Shen Po oder viel­leicht noch an­ders?«

»He, du kannst ja so­gar sar­kas­tisch sein!«, sag­te er mit ei­nem kur­zen Auf­la­chen. »Doch Spaß bei­sei­te, ich bin Gün­ter Kauf­mann, denn das ist der Name, den ich bei mei­ner Ge­burt er­hal­ten habe, al­les an­de­re war nur zweck­be­dingt und spielt kei­ne Rol­le im Jetzt und Hier.«

»Also Gün­ter, warum bist du letz­tens so schnell ver­schwun­den?«

»Du hast ja Leu­te ge­trof­fen, als du zu dei­nem Auto ge­lau­fen bist, und hast si­cher­lich auch ge­merkt, dass mit mir und um mich man­ches an­ders ist als bei an­de­ren.«

Sie nick­te und sah ihn ge­spannt an.

»Nun ja, es wa­ren zwar an­de­re Leu­te, als ich be­fürch­tet hat­te, aber auch sol­che kön­nen von dem, was sie ge­se­hen und ge­hört ha­ben, be­rich­ten. Durch die welt­wei­te Ver­net­zung und durch den pro­blem­lo­sen Zu­gang zu be­stimm­ten Me­di­en ge­langt eine Nach­richt dann sehr schnell von ei­nem zum an­de­ren. Es ist also bloß eine Fra­ge der Zeit, bis be­stimm­te Men­schen da­von er­fah­ren. In­zwi­schen ha­ben sich Grup­pen ge­bil­det, die je­dem un­ge­wöhn­li­chen Er­eig­nis nach­spü­ren, es aus­wer­ten, sich Mei­nun­gen dazu bil­den und dann ei­ner brei­ten Mas­se zu­gäng­lich ma­chen.«

Er lehn­te sich zu­rück und schloss kurz die Au­gen.

»Nun, stell dir vor, die­se Men­schen wür­den von mei­ner Ge­schich­te er­fah­ren. Was wür­de wohl ge­sche­hen? Wo könn­te ich noch in Frie­den le­ben, ohne dass mir stän­dig je­mand an den Fer­sen klebt? Und au­ßer­dem ...«

Mit ei­nem Ruck rich­te­te er sich wie­der auf und öff­ne­te die Au­gen. »Au­ßer­dem könn­te es ja auch nur ein Traum sein.«

Sie schüt­tel­te den Kopf, deu­te­te auf sei­ne lin­ke Brust und sag­te:

»Das glaub ich nicht! Dazu hab ich die­se Ge­schich­te viel zu deut­lich er­lebt und nicht nur ge­hört. Und da, auf dei­ner lin­ken Brust, dass könn­te die Nar­be sein, die von dem Trai­nings­un­fall in Wu­dang stammt.«

Auf Grund des war­men Som­mer­ta­ges hat­te er das Hemd weit auf­ge­knöpft, und nun war es im Sit­zen ver­rutscht. Da­durch war der Blick auf die pflau­men­große Nar­be, die auf sei­ner lin­ken Brust prang­te, frei ge­wor­den. Er schau­te hi­n­un­ter und knöpf­te lä­chelnd sein Hemd wei­ter zu.

»Gut auf­ge­passt! Aber es könn­te auch an­ders sein, und die Nar­be hat viel­leicht einen ganz an­de­ren Hin­ter­grund. Doch das spielt jetzt kei­ne Rol­le! Du sollst selbst fest­le­gen, was du glau­ben willst und was nicht. Ich den­ke, jede Ge­schich­te und je­des Le­ben ist es wert, dass man ge­nau­er dar­über nach­denkt. Viel­leicht kann man ja ei­ni­ges dar­aus ler­nen, für sich ver­wer­ten und mit die­sen Er­fah­run­gen et­was bes­ser ma­chen. Vie­les von dem, was das Le­ben und die Mensch­heit ver­än­dert hat, baut auf sol­chen Er­fah­run­gen auf.«

»Ich weiß, das hab ich schon bei den Ge­sprä­chen er­kannt, die du mit Han Li­ang Tian und Ti­ang Li Yang ge­führt hast. Was ist ei­gent­lich aus dei­nen chi­ne­si­schen Freun­den ge­wor­den? Du hast bei un­se­rem Ab­schied an­ge­deu­tet, dass du Chi­na dann ver­las­sen hast.«

»Ja, das war auch so, und von mei­nen Freun­den, die ich in die­ser Zeit ge­won­nen hat­te, habe ich bis auf Lei Cheng kei­nen mehr zu Ge­sicht be­kom­men. Doch das war viel, viel spä­ter und ein sehr großer Zu­fall. Aber die­se Ge­schich­te wer­de ich viel­leicht ein an­de­res Mal er­zäh­len. Jetzt möch­te ich erst ein­mal dort fort­fah­ren, wo wir bei un­se­rem letz­ten Tref­fen un­ter­bro­chen wur­den.«

Er beug­te sich vor und leg­te sei­ne Hand auf den Tisch.

»Gib mir dei­ne Hand, Sa­rah. Du weißt, dass du die Ge­schich­te so bes­ser er­le­ben kannst, und es ist auch ein­fa­cher für mich.“

Sie leg­te Ihre Hand in die sei­ne und schloss die Au­gen. Jetzt hat­te sie kei­ne Angst mehr da­vor, sich so zu er­ge­ben und fal­len zu las­sen. Beim ers­ten Mal war es eine neue be­ängs­ti­gen­de Er­fah­rung ge­we­sen, doch nun war­te­te sie mit Span­nung dar­auf, wie­der in die­se Ge­schich­te ein­zu­tau­chen.

Kaum hat­te sie ihre Hand in die sei­ne ge­legt, spür­te sie wie­der die­se Ruhe und Kraft, die sie durch­ström­te. Al­les um sie he­r­um ver­blass­te, und die Bil­der der letz­ten Er­eig­nis­se stie­gen in ihr auf, wäh­rend sie die er­klä­ren­den Ge­dan­ken von ihm wahr­nahm.

Traum oder wahres Leben

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