Читать книгу Traum oder wahres Leben - Joachim R. Steudel - Страница 5
Das Angebot
Оглавление»Am nächsten Morgen weckte mich eine Unruhe, die bei den Verletzten ausgebrochen war. Der Heiler hatte sich gleich beim ersten Tageslicht zu ihnen begeben und festgestellt, dass der Mann mit der Bauchverletzung in der Nacht gestorben war. Als ich hinzukam, sah er mich mit einem bedauernden Blick an und sagte:
›Was ich befürchtet hatte, ist eingetreten. Die Verletzungen dieses Mannes waren so schwer, dass es uns nicht gelungen ist, ihm zu helfen. Schon der erste Eindruck hatte mich das befürchten lassen, dennoch haben wir ihn nicht aufgegeben, aber all unser Bemühen war vergeblich.‹
Traurig blickte ich auf diesen weiteren Toten, und die Gedanken, etwas versäumt oder falsch gemacht zu haben, stiegen wieder in mir auf. Der Heiler, der dies sah, überlegte schon, wie er mir helfen könnte, als wir vom Daimyo und seinem dolmetschenden Samurai gestört wurden.
›Gibt es Probleme mit den Verletzten?‹, fragte Katakura Shigenaga.
Ich holte tief Luft und antwortete:
›Leider ist dieser Mann seinen schweren Verletzungen erlegen. Alle Kunst der Mönche konnte ihm nicht mehr helfen, und wir müssen den anderen Gräbern ein weiteres hinzufügen.‹
Bedauernd betrachteten ihn die beiden Japaner, und der Samurai übersetzte die Worte des Fürsten:
›Er war ein guter Mann, und er wird als solcher wiedergeboren. Wir werden ihm die gebührende Ehre erweisen.‹
Da wir bald aufbrechen wollten, ging ich mit Wang Lee daran, ein neues Grab auszuheben, während einige Mönche die nötigen buddhistischen Riten vollzogen.
Die Sonne hatte schon einen großen Teil ihrer Vormittagsbahn hinter sich, als auch dieser Japaner seine letzte Ruhe gefunden hatte. Die Männer aus dem Dorf waren inzwischen angekommen und hatten mitgeholfen, die Verwundeten transportfähig zu machen. Nachdem das alles geschehen war, verließen wir diesen Ort, den ich auch niemals wiedersehen sollte.
Die nächsten drei Wochen vergingen auf Grund der vielen Arbeit, die wir hatten, wie im Fluge. Mit unserer Hilfe bauten die Dorfbewohner innerhalb kurzer Zeit eine neue Hütte auf, in der alle Verwundeten untergebracht wurden. Es war bestimmt kein Meisterwerk, doch für die vorläufige Unterbringung in diesen warmen Sommermonaten war die Behausung ausreichend. Die Dorfbewohner gingen danach erleichtert wieder ihren täglichen Arbeiten nach. Froh über ihre bisherige Hilfe, unterstützten wir sie, wo wir nur konnten.
In einigen Nacht-und-Nebel-Aktionen wurde Nachschub aus dem Kloster geholt, und auch die Dorfbewohner wurden reichlich entschädigt. Allerdings mussten sie dafür versprechen, für immer über diese Vorgänge zu schweigen, und auf Grund der abgelegenen Lage des Dorfes bestand die berechtigte Hoffnung, dass das auch geschehen würde. Außerdem hatten sie mit der Hütte, die wir gebaut hatten, einen Speicherraum gewonnen, den sie gemeinsam nutzen wollten, und waren froh, dass sie diese Unannehmlichkeiten auf sich genommen hatten.
Der Tag des Aufbruchs kam näher, und ich saß mit Wang Lee, Chen Shi Mal und den Japanern beisammen, um das weiter Vorgehen zu besprechen.
›Meine Männer haben sich so weit erholt, dass wir unsere Reise fortsetzen können. Die zwei, die noch nicht so gut zu Fuß sind, bekommen die Pferde, die uns das Kloster freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Ich möchte deshalb in den nächsten Tagen aufbrechen. Werden die Kampfmönche, die uns begleiten sollen, bis dahin hier sein?‹, fragte der Daimyo.
Alle außer mir, Wang Lee und Chen Shi Mal waren, soweit sie nicht mehr gebraucht wurden, nach und nach ins Kloster zurückgekehrt. Dem Abt war es gelungen, die wahren Hintergründe ihrer Abwesenheit zu verschleiern, und jetzt sollten zehn Kampfmönche zur Begleitung der Japaner kommen. Ich wusste nicht, wie Hu Kang das begründen wollte, doch ihm würde schon etwas einfallen. Wir erwarteten täglich ihre Ankunft, was ich dem Fürsten auch mitteilte:
›Ich denke, sie könnten heute schon kommen, und dann steht Ihrem Aufbruch nichts mehr im Wege.‹
›Und Sie, werden Sie Ihre Reise zu dem anderen Kloster jetzt fortsetzen?‹, fragte mich Katakura Shigenaga.
Ich hatte mich über diesen Punkt schon mit Wang Lee und Chen Shi Mal unterhalten. Bei diesen Gesprächen hatte ich beschlossen, dass mich eigentlich nichts drängte und ich deshalb gerne die Reise zur Küste mitmachen würde. Auch Wang Lee und Chen Shi Mal wollten mitkommen, um dann gemeinsam mit ihrem Freund Liu Shi Meng, der mit dem Schriftstück des Fürsten zum Schiff aufgebrochen war, wieder zurückzureisen. Ich hatte mir vorgenommen, von der Küste aus auf einem anderen Weg nach Wudang zu wandern, um so Land und Leute noch besser kennen zu lernen. Deshalb sagte ich:
›Ich hatte gehofft, Sie würden mir und meinen Freunden gestatten, Sie bis zu Ihrem Schiff zu begleiten.‹
›Natürlich gerne, doch wir hatten angenommen, dass es Sie auf Grund dieses langen Aufenthalts drängen würde, Ihre Reise zu dem anderen Kloster so schnell wie nur möglich fortzusetzen.‹
›Mich drängt nichts, und ich werde auch nicht erwartet. Also spielt es keine Rolle, wann ich ankomme. Diese Reise ist ohnehin ein Abschied von Shaolin, da ich das Kloster verlassen möchte, um nicht ständig Konflikte heraufzubeschwören.‹
Katakura Shigenaga übersetzte mit vielsagenden Miene meine Antwort, und der Daimyo blickte überrascht auf.
›Der Fürst möchte gerne wissen, ob das nur ein zeitweiliger Abschied von Shaolin ist und warum Ihre Anwesenheit für Konflikte sorgt.‹
›Nun, darauf kann ich nicht so einfach antworten, aber einige sind der Meinung, dass ich nicht in dieses Kloster gehöre, und sie lassen es mich auch unmissverständlich spüren. Zu einem Teil haben sie durchaus recht, denn ich bin kein Mönch, sondern nur ein Gast, und Gäste sollten nach einer gewissen Zeit den Ort verlassen, den sie besuchen.‹
Wang Lee wollte widersprechen, doch ich unterbrach ihn mit einer Handbewegung und fuhr fort:
›Es wäre nicht weiter schlimm, da nur wenige so denken, mittlerweile leiden aber auch jene darunter, die sich zu mir bekennen und die ich zu meinen Freunden zähle. Um diesen Zustand zu beenden, habe ich mich entschlossen, in das andere Kloster zu gehen, da ich dort bei meinen bisherigen Besuchen immer willkommen war. Das Dumme ist aber, dass ich auch dort nur ein Gast bin‹, sagte ich nachdenklich.
Das Angebot, dass mir der Daimyo daraufhin machte, überraschte mich sehr.
›Da Sie an nichts gebunden sind, möchte der Fürst Sie fragen, ob Sie ihn nach Japan begleiten würden? Er ist Ihnen dankbar für all die Hilfe, die Sie uns geleistet haben, und möchte sich auf diese Art dafür bedanken.‹
Ich muss wohl ein wenig seltsam dreingeschaut haben, denn er fügte schnell hinzu:
›Nicht als Gast, sondern als Lehrer in diplomatischen Dingen, was entsprechend entlohnt würde. Date Masamune hat sehr viel Achtung vor Ihnen und Ihren Fähigkeiten, und er möchte einiges davon lernen.‹
›Ich bin mir nicht sicher, ob ich dazu in der Lage bin. Denn mich führt in solchen Dingen oft mein Chi, und das kann man nicht so einfach weitergeben.‹
›Machen Sie sich darüber keine Gedanken, der Fürst ist überzeugt davon, und das reicht. Sie müssen sich auch nicht gleich entscheiden. Da es Date Masamune sehr recht ist, wenn Sie uns bis zur Küste begleiten, ist es ausreichend, wenn Sie Ihre Entscheidung an unserem Ziel bekannt geben.‹
Mit diesem Gedanken musste ich mich erst einmal anfreunden, würde es doch bedeuten, dass ich wieder in eine neue, unbekannte Umgebung wechseln müsste. Mich wieder mit einer neuen Sprache, anderen Sitten und Gebräuchen anzufreunden erschien mir im ersten Moment auch wenig erstrebenswert. Deshalb war ich unschlüssig, was ich antworten sollte. Doch dieses Thema wurde erst einmal fallengelassen, und wir wandten uns wieder den anstehenden Aufgaben zu.
Am Ende unserer Zusammenkunft kamen wir überein, alles für die Reise vorzubereiten und nur noch die Kampfmönche abzuwarten. Die Dorfbewohner hatten zwar auch Vorteile von unserer Anwesenheit gehabt, aber alles in allem waren sie froh, dass wieder Ruhe einkehren würde. Um die Mittagszeit des folgenden Tages trafen die Kampfmönche im Dorf ein, und der Aufbruch wurde auf den nächsten Morgen festgelegt.
Die Gruppe bestand ausschließlich aus Mönchen, die in das alte Klosterleben zurückgekehrt waren und die ich alle sehr gut kannte. Jeder von ihnen war vertrauenswürdig, und keiner würde jemals mit Nichteingeweihten darüber sprechen.
Hu Kang hatte als offiziellen Grund eine Hilfeleistung für ein entfernteres Dorf angegeben und die Dauer dieses Einsatzes offen gelassen. Auch für die lange Abwesenheit von Wang Lee, Chen Shi Mal und Liu Shi Meng hatte er eine gute Begründung gefunden. Alle glaubten, dass sie mich aus Freundschaft nun doch weiter begleiteten als ursprünglich geplant, und so ganz unwahr war das ja auch nicht.
Als wir am Morgen des nächsten Tages aufbrachen, wurden wir freundlich von den Dorfbewohnern verabschiedet. An der Spitze unserer Gesellschaft gingen Wang Lee, Chen Shi Mal und ich. Uns folgte die japanische Gesandtschaft, die zum großen Teil beritten war. Die beiden japanischen Soldaten, die als einzige zu Fuß gingen, führten die Packpferde. Ihnen folgten am Ende unserer Reisegesellschaft die Kampfmönche. Es wurde nicht viel gesprochen, und ich konnte ungehindert meinen Gedanken nachhängen. Diese drehten sich hauptsächlich um das Angebot des Fürsten. Lange wägte ich das Für und das Wider ab, bevor ich einen Entschluss fasste, der erst an der Küste feststand.
Nachdem wir das Song-Shan-Gebirge verlassen hatten, strebten wir der alten Handelsstraße zu, die über Kaifeng, Shangqiu und Tongshan an die Küste führte. Auf ihr erreichten wir ohne besondere Vorkommnisse nach vierzehn Tagen Lianyungang.
Liu Shi Meng hatte seinen Auftrag ausgeführt und dem Führer des japanischen Schiffes die Nachricht des Fürsten überbracht. Der Kapitän hatte den langen Aufenthalt genutzt, um Silber, Kupfer und chinesische Seide zu kaufen. Es war für ihn die einmalige Gelegenheit in China Waren aufzunehmen, denn normalerweise war es den japanischen Schiffen nicht gestattet, chinesische Häfen anzulaufen. Nur die diplomatische Mission des Fürsten hatte es ermöglicht, doch die Seeleute waren gezwungen, sich ständig an Bord aufzuhalten, da sie das Festland nicht betreten durften.
Das Schiff war ein sogenanntes Rotsiegel-Schiff, das eine Lizenz des Shogun hatte, um Handel mit anderen asiatischen Ländern zu treiben. Es gehörte zwar Date Masamune, aber der Kapitän fungierte gleichzeitig als Händler und war am Gewinn beteiligt. Deshalb war er auch erfreut, als der Fürst endlich eintraf, denn je länger er in einem Hafen verweilte, umso größer war sein Verlust. Obwohl ihn der Daimyo für die lange Liegezeit entschädigen würde, wäre sein Gewinn bei einem guten Handel größer gewesen.
Als wir im Hafen ankamen, wurde dem Kapitän sofort das Eintreffen des Fürsten gemeldet und er empfing den Daimyo, noch bevor dieser das Schiff betrat. Die sich anschließende Unterhaltung konnte ich, da sie japanisch geführt wurde, nicht verstehen, und weil Katakura Shigenaga nicht dolmetschte, hatte ich Muße, mir das Schiff genauer zu betrachten.
Ich hatte noch nie ein Segelschiff aus der Nähe gesehen, und die, die ich von Bildern her kannte, waren mit diesem hier nicht vergleichbar. Anscheinend mischten sich in dieser Schiffskonstruktion mehrere Bauweisen. Der Rumpf hatte ein sehr hohes Heck und einen wesentlich niedrigeren Bug. Das Heck mit den Aufbauten erinnerte mich an spanische und portugiesische Segelschiffe, die ich auf Bildern gesehen hatte. Den Bug aber konnte ich gar nicht zuordnen, denn unterhalb des eigentlichen Decks war noch einmal so eine Art Vorbau oder Galerie, die um den Bug herumführte. Dort wurde der Anker abgelegt, wenn das Schiff auf See war, und einige Taue, die zur Spitze des Bugspriets und dem dort befestigten Segel führten, deuteten darauf hin, dass dieses von hier aus bedient wurde. Des Weiteren hatte das Schiff drei Masten. Einen im vorderen Teil des Schiffes, fast am Bug, dieser war annähernd so hoch wie der Hauptmast, der sich ungefähr in der Mitte des Schiffes befand. Der dritte Mast hatte höchstens die halbe Höhe des Hauptmastes und befand sich im Heckbereich des Schiffes.
Die Besegelung schien wieder eine Mischung aus verschiedenen Schiffsbauweisen zu sein. Obwohl sie gerefft waren, konnte man erkennen, dass die Segel am Bugspriet und am Heckmast normale Leinensegel waren, während die an den großen Masten mit Bambuslatten durchzogen waren. Das Steuerruder schien wie der gesamte Heckaufbau einem portugiesischen Schiff entlehnt zu sein, und drei Luken, die sich auf jeder Seite des Aufbaus befanden, deuteten auf eine Bewaffnung mit sechs Kanonen hin.
Ich war gerade dabei, die Details in mich aufzunehmen, als ich durch den Aufmarsch einer Gruppe chinesischer Soldaten aus meinen Betrachtungen gerissen wurde. Eine Einheit von zwanzig Soldaten, geführt von einem Offizier, marschierte im Gleichschritt auf uns zu.
Der Fürst und der Kapitän unterbrachen ihr Gespräch und blickten der Truppe entgegen. Als sie uns erreicht hatten, fuhr der Offizier die Japaner barsch an.
›Sie haben kein Recht, sich hier an Land aufzuhalten! Begeben Sie sich sofort wieder auf Ihr Schiff, sonst sehe ich mich gezwungen, Sie in Gewahrsam zu nehmen!‹
Die Japaner schienen nach dem Gespräch, das der Fürst mit dem Kapitän geführt hatte, in wenig guter Stimmung zu sein und hatten die Hände schon am Schwertheft, doch Wang Lee behielt die Ruhe, trat vor den Offizier und fragte:
›Darf ich erfahren, warum Sie diese Gäste Chinas so unhöflich behandeln?‹
›Gäste Chinas? Es müsste doch jedem bekannt sein, das nach einem Kaiserlichen Erlass keine japanischen Seeleute das chinesische Festland betreten dürfen, und dieses Schiff hier durfte den Hafen nur mit einer Sondergenehmigung anlaufen! Doch beinhaltet sie nicht die Genehmigung des Landgangs! Also, gehen Sie uns aus dem Weg, und lassen Sie uns unsere Pflicht tun!‹
Wang Lee wich nicht von der Stelle, lächelte freundlich und erwiderte:
›Es tut mir leid, doch ich muss Ihnen widersprechen. Diese Leute hier sind Teil einer japanischen Gesandtschaft, die am Kaiserhof weilte. Der Fürst, Date Masamune, hatte die Genehmigung des Kaisers, dass Shaolin-Kloster zu besuchen, und wir Mönche haben die Gesandtschaft zu ihrem Schiff geleitet. Es ist also keinesfalls unberechtigt, dass sich diese Japaner an Land aufhalten.‹
Der Offizier war sichtlich verunsichert und betrachtete die Kampfmönche, die zwischen ihm und den Japanern standen. Doch so ganz ohne Widerrede wollte er sich nicht geschlagen geben.
›Das müssen Sie mir erst einmal beweisen! Von einer solchen Genehmigung habe ich keine Kenntnis, und ich erfülle hier auch nur meine Pflicht!‹
›Der Fürst hat ein Dokument vom Kaiserhof, das diese Reise genehmigt. Er wird es Ihnen auf Wunsch bestimmt zeigen. Außerdem müsste Ihnen die Sondergenehmigung des Schiffes dies auch bestätigen, denn es ist hier, um die Gesandtschaft an Bord zu nehmen.‹
In diesem Augenblick mischte sich Date Masamune ein. Der dolmetschende Samurai, hatte das bisherige Gespräch übersetzt und kam mit der Reisegenehmigung, die ihm der Fürst gegeben hatte, nach vorn. Er hielt sie dem Offizier hin und sagte:
›Der Fürst Date Masamune versteht die Unruhe nicht und möchte das Missverständnis mit der Vorlage dieses Dokumentes beenden.‹
Nachdem der Offizier einen kurzen Blick auf das Kaiserliche Siegel geworfen hatte, setzte er eine andere Miene auf und antwortete, ohne den Inhalt der Genehmigung überhaupt zu lesen:
›Entschuldigen Sie! Ich tue nur meine Pflicht, und mir war diese Genehmigung nicht bekannt. Dürfte ich noch erfahren, wie lange Sie sich in Lianyungang aufhalten werden?‹
Katakura Shigenaga drehte sich zum Daimyo um und leitete die Frage weiter. Der machte eine wegwerfende Handbewegung und gab eine gereizte Antwort, doch ich hatte das Gefühl, dass der Samurai sie nicht wortwörtlich übersetzte.
›Sobald das Schiff zum Auslaufen bereit ist, werden wir den Hafen verlassen. Da sich der Tag aber bereits dem Ende zuneigt, wird es vermutlich erst morgen früh geschehen.‹
Der Offizier bedankte sich für die Auskunft und machte mit seiner Truppe kehrt.
Der Zwischenfall zeigte, wie gespannt das Verhältnis zwischen Japan und China immer noch war. Keine der beiden Seiten traute der anderen über den Weg, und der kleinste Zwischenfall konnte zu einer blutigen Auseinandersetzung führen.
Date Masamune war immer noch sehr verstimmt, vor allem weil ihm der Kapitän berichtet hatte, dass sie das Schiff nicht verlassen durften. Der Handel war deshalb nur über Mittelsmänner und mit zusätzlichen finanziellen Aufwendungen möglich gewesen.
Missmutig drehte er sich um und wollte aufs Schiff gehen. Dabei fiel sein Blick auf mich, und er ließ mich durch Katakura Shigenaga fragen, ob ich mich entschieden hätte.
›Ja!‹, sagte ich. ›Ich habe lange überlegt, alles abgewogen und bin zu dem Schluss gekommen, Ihr Angebot anzunehmen.‹
Das Gesicht des Fürsten hellte sich auf, doch Wang Lee und Chen Shi Mal begehrten auf:
›Xu Shen Po, das kannst du nicht machen. Du gehörst hierher, und es ist schon schlimm genug, dass du nach Wudang gehen willst. Dort haben wir aber wenigstens die Möglichkeit, dich zu besuchen, und vielleicht kommst du irgendwann doch zu uns zurück. Aber wenn du mit nach Japan gehst, werden wir dich bestimmt nicht wiedersehen.‹
Er hatte gewiss recht, doch in diesem Moment schien es mir die vernünftigste Entscheidung zu sein.
›Lass gut sein, Wang Lee, es ist vermutlich egal, wohin ich mich wende, denn unsere Wege trennen sich hier auf jeden Fall. Auch wenn ich nach Wudang ginge, wäre ein Wiedersehen unwahrscheinlich, denn auch dort bin ich nur Gast, und Gäste sollen nach einer gewissen Zeit wieder gehen.‹
›Wie kannst du nur so etwas sagen! Für mich gehörst du zu uns, und der Abt von Wudang sieht dich auch als einen zu uns Gehörigen.‹
›Ja, solange ich der Schüler war, war das in Ordnung. Doch der bin ich nicht mehr, und welches Recht sollte ich haben, mich jetzt noch für längere Zeit in euren Klöstern aufzuhalten. Ich bin kein buddhistischer und auch kein taoistischer Mönch und habe weder Rechte noch Aufgaben in euren Klöstern. Lei Cheng hat mir das bei unserem Abschiedsgespräch bewusst gemacht. Ich muss und will mir also eine Aufgabe suchen, mit der ich meinen Lebensunterhalt verdienen kann und die mir das Recht gibt, mich an einem Ort aufzuhalten. Bei euch kann ich das nicht, da ich weder den einen noch den anderen Glauben annehmen will oder kann. Aber der Fürst hat mir ein Angebot gemacht, mit dem ich meine Anwesenheit vielleicht rechtfertigen kann. Zumindest für eine gewisse Zeit, und dann sehe ich weiter.‹
›Aber eine Aufgabe kannst du doch auch bei uns finden. Du bist jetzt ein Meister und kannst unterrichten oder ...‹
›Nein, Wang Lee, ich bin kein Mönch. Ich war hier gestrandet, und Han Liang Tian hatte, aus welchem Grund auch immer, mich erwartet und sah es als seine Aufgabe an, mich in allem zu unterrichten, was er wusste. Er sagte immer, dass er diese Aufgabe von Buddha oder einem anderen erhalten habe, und das diente ihm und mir als Rechfertigung meines Aufenthalts. Doch er lebt nicht mehr, und seine Aufgabe ist erfüllt. Ich brauche ein neues Ziel, und ich hoffe, dass ich das vielleicht bei Date Masamune finden kann.‹
›Aber, aber ich ...‹
Chen Shi Mal legte ihm die Hand auf die Schulter.
›Gib auf, Wang Lee! Er hat sich entschieden, und vielleicht ist es der richtige Weg für ihn. Wir sollten ihn nicht von etwas zu überzeugen versuchen, was er nicht will.‹
Beide holten tief Luft und sahen mich mit traurigen Augen an. Wang Lee schien es besonders hart zu treffen, denn seine Augen bekamen einen feuchten Schimmer. Er war mir in der Zeit, die ich in China zugebracht hatte, immer ein treuer Freund gewesen. Nie hatte er mich im Stich gelassen, auch nicht, als wir in Wudang waren und er seine gewohnte Umgebung für mich verlassen hatte. Es fiel mir nicht leicht, vor mir selbst meine Entscheidung zu rechtfertigen, denn einen treueren und besseren Wegbegleiter als ihn kann man sich nicht wünschen. Doch auf der anderen Seite standen die Konflikte, die meine Anwesenheit in Shaolin hervorrief und unter deren Folgen die, die mir nahestanden, mitleiden mussten. Das war der einzige Grund, mit dem ich meine Entscheidung vor mir selbst rechtfertigen konnte.
Als ich mit meinen Gedanken so weit gekommen war, gab ich mir einen Ruck und verabschiedete mich von meinen chinesischen Freunden. Keiner konnte seine Emotionen verbergen, und respektvoll wendeten sich der Daimyo und Katakura Shigenaga ab. Ich wusste zu dieser Zeit noch nicht, dass diese Handlungsweise für einen Samurai keineswegs typisch war und dass ich wieder einen Weg mit sehr ungewöhnlichen Charakteren beschreiten würde. Doch gerade deshalb sollte ich wieder sehr gute Freunde finden.
Die chinesische Küste war schon lange meinen Blicken entschwunden, und da ich keine Aufgabe hatte, verbrachte ich die Tag- und Nachtstunden zu einem großen Teil in Meditation. Am Morgen des dritten Tages tauchte vor uns eine im Dunst liegende Küstenlinie auf. Meinen Gedanken nachhängend, lehnte ich an der Reling und schaute erwartungsvoll in diese Richtung. Wir hatten bisher sehr gutes Segelwetter gehabt, so dass das Schiff relativ ruhig dahinglitt. Die gut eingearbeitete Mannschaft bewegte sich fast lautlos und gemächlich auf dem Deck, während ich mich in diesem Moment ein wenig einsam fühlte. Schon kamen Zweifel in mir auf, ob es richtig war, diesen Weg einzuschlagen, doch in dem Moment gesellte sich Katakura Shigenaga zu mir.
›Darf ich Ihnen ein wenig Gesellschaft leisten?‹
›Aber ja‹, sagte ich erfreut. ›Ist das dort vorn schon die japanische Küste?‹, setzte ich hinzu.
›Nein‹, sagte er leise auflachend. ›Bis wir die zu sehen bekommen, dauert es noch, und unser eigentliches Ziel ist noch viel weiter entfernt.‹ Er schaute sich kurz um und überlegte. ›Es müsste eine der kleineren oder größeren Inseln sein, die Korea vorgelagert sind, doch genau weiß ich es nicht. Der Schiffsführer kann es uns aber bestimmt sagen.‹
Er drehte sich um und rief dem Kapitän etwas auf Japanisch zu. Bei dessen Antwort nickte er befriedigt und sagte dann zu mir:
›Ja, es ist, wie ich vermutet habe, eine der größeren Inseln vor Korea. Sie heißt Cheju oder so ähnlich. Wir lassen sie rechts liegen und steuern genau auf die Meerenge zwischen Kyushu und Honshu zu. Haben wir diese hinter uns, segeln wir mehr oder weniger an Kyushus Küste entlang. Links sehen wir dann die große Insel Shikoku, deren Küstenverlauf wir folgen, bis wir wieder auf Honshu treffen. Weiter geht es Richtung Nordosten bis zur Halbinsel Izu. Wenn wir sie umschifft haben, sind wir schon fast am Ziel, denn dann ist Edo nicht mehr weit.‹
›Oh, ich dachte nicht, dass wir eine so lange Fahrt vor uns haben. Für mich war Japan immer nur einen Katzensprung von China oder Korea entfernt.‹
›Einen Katzensprung?‹, er lachte kurz auf. ›Das hab ich ja noch nie gehört. Sicher ist die Fahrt relativ kurz, wenn man andere große Seereisen damit vergleicht, aber ein Katzensprung ...‹ Er versuchte ein weiteres Auflachen zu unterdrücken. ›Nein, ein Katzensprung ist es bestimmt nicht.‹
Mir in die Augen blickend, fügte er nachdenklich hinzu, ›Du weißt anscheinend noch nicht allzu viel über unser Land, und ich denke, es wird das Beste sein, wenn ich die weitere Reise nutze und dir einiges erkläre.‹
Er nahm eine bequemere Haltung ein und fuhr fort:
›Ich darf doch du sagen, oder?‹
Ich nickte bestätigend. Erfreut und wesentlich entspannter sagte er:
›Wir werden vermutlich, da du noch kein Japanisch kannst, in nächster Zeit viel miteinander zu tun haben, und ich finde es einfach wesentlich entspannter, wenn wir nicht so förmlich miteinander umgehen.‹
Er nickte wie zur Selbstbestätigung und holte tief Luft.
›Also, die Seereise bis zu der Küste, die Korea oder China am nächsten liegt, ist nicht gar so lang und führt übers offene Meer. Doch dann müssen wir zwischen den großen japanischen Inseln hindurchsegeln, um auf die andere Seite Japans zu gelangen, denn Edo liegt in einer großen Bucht an der gegenüberliegenden Küste Japans. Wenn wir die Residenz des Shogun erreichen, haben wir mehr als die Hälfte unseres Landes umsegelt. Das Langwierigste und vielleicht auch Gefährlichste dieser Reise ist die Fahrt zwischen den Inseln und an der anderen Küste. Dort wehen um diese Jahreszeit oft unstete starke Winde, meistens in unerwünschter Richtung.‹
›Sie ... Entschuldigung, du hast die Reise wohl schon öfter gemacht?‹
›Nein, ich war bis jetzt nur einmal in China, und das auch nicht offiziell. Wieso fragst du? Weil ich die Seereise so genau beschrieben habe?‹
›Zum einen ja und zum anderen wegen deiner guten Chinesischkenntnisse.‹
›Nun, beides ist leicht zu erklären. Die chinesische Sprache habe ich schon als Kind gelernt. In der Nähe meines Elternhauses ist ein buddhistischer Schrein, und einige der Mönche, die dort leben, kamen aus China. Wir wurden in bestimmten Dingen von diesen Männern unterrichtet, und dabei habe ich ihre Sprache erlernt.‹
Er machte eine kleine Pause, und sein Gesicht nahm einen leicht verträumten Ausdruck an. Es schienen schöne Erinnerungen an jene Zeit zu sein, die ihm gerade in den Sinn kamen. Doch das dauerte nur kurz. Er blickte wieder hoch und fuhr fort:
›Ja, und die Seereise in Japans Gewässern kann ich so gut beschreiben, weil ich im Auftrag des Daimyo schon mehrfach zur Insel Shikoku und auch darüber hinaus gefahren bin. Date Hidemune, der älteste Sohn meines Herrn, hat vom Shogun das Lehen Uwajima auf der Insel Shikoku erhalten, und ich habe ihn öfter dort aufsuchen müssen.‹
›Ist es bei euch nicht üblich, dass der älteste Sohn die Nachfolge seines Vaters antritt?‹
›Das schon, doch Date Hidemune ist kein Sohn von Megohime, der Frau meines Herrn. Er ist der Sohn einer Konkubine und kann deshalb das Erbe seines Vaters nicht antreten. Er darf zwar den Namen seines Vaters führen, aber in der Rangfolge kommt immer erst der erstgeborene Sohn aus der ehelichen Verbindung.‹
›O je, ist das kompliziert. Kommt es da nicht zu Konflikten und Reibereien?‹
›Eher selten, es ist alles klar geregelt, und alles unterliegt einer strengen Rangordnung. Früher kam es öfter vor, dass in Familien der eine oder andere aus dieser Ordnung ausbrechen wollte, doch unter der strengen Führung des Shogun ist das nicht mehr so einfach.‹
›Warum hat der Fürst eine Konkubine? Ist er mit seiner Frau nicht glücklich?‹
Shigenaga sah mich verständnislos an.
›Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Date Masamune ist ein großer Daimyo. Es ist üblich und gehört zum guten Ton, dass sich ein Mann in einer solchen Position eine oder mehrere Konkubinen hält. Mein Herr hat sieben, aber in letzter Zeit sucht er sie nicht mehr so oft auf, denn er denkt mittlerweile ein wenig anders über diesen Brauch. Doch das ist nur inoffiziell. Mehr möchte ich darüber nicht sagen.‹
Mein Blick ruhte auf dem Meer, ohne das ich etwas davon wahrnahm. Ich dachte über das Gehörte nach, und Katakura Shigenaga beobachtete mich gespannt.
Nach einer Weile durchbrach er die Stille und fragte:
›Es hat den Anschein, dass du diesen Brauch noch nicht kennst? Gibt es dort, wo du herkommst, keine Konkubinen?‹
›Offiziell nicht. Sicherlich haben manche Männer eine Geliebte, aber das wird meist geheim gehalten. Wenn sich manche Männer damit brüsten, dann in der Regel nur von Mann zu Mann, unter Gleichgesinnten. Im Allgemeinen schadet es dem Ruf, vor allem dann, wenn es eine hochgestellte Persönlichkeit betrifft. Ich persönlich empfinde Nebenfrauen als wenig sinnvoll, denn es schafft nur Probleme. Aber ich möchte mir da kein Urteil erlauben, weil ich noch viel zu wenig über euer Land und Volk weiß. Es hat sicherlich seine Gründe und Ursachen und vielleicht ...‹, ich stockte kurz, ›vielleicht auch seine Berechtigung.‹
Er lachte kurz auf.
›Ja, seine Gründe und Ursachen hat es auf jeden Fall, ob es deswegen seine Berechtigung hat, weiß ich nicht.‹
Er schaute über Bord und beobachtete einen Schwarm Fische, der knapp unter der Wasseroberfläche neben dem Schiff dahinglitt. Dabei sprach er leise und mehr zu sich:
›Unser Volk und vor allem der Stand, dem ich angehöre, schätzt die kriegerischen Fähigkeiten und die Macht eines Mannes mehr als alles andere. Aus diesem und anderen Gründen haben wir uns in den letzten Jahrhunderten immer wieder gegenseitig zerfleischt. Es wurden ständig Kriege geführt und territoriale Machtkämpfe ausgefochten. Viele Banditen und herrenlose Krieger zogen durchs Land. Sie raubten und mordeten ohne Gnade. Das Resultat war und ist, dass es einen Frauenüberschuss und viele Witwen gibt. Schon vor vielen hundert Jahren kam der Brauch auf, dass Männer, die es sich leisten konnten, solche Frauen in Dienst genommen haben, um ihnen Schutz zu gewähren. Der Weg bis zur Konkubine war dann nicht mehr weit. Doch mittlerweile haben sich diese Gründe verloren, und es geht jetzt meist mehr darum, Familien an sich zu binden, oder die Familien der Konkubinen möchten sich das Wohlwollen eines hohen Herren damit erkaufen. Und natürlich befriedigen viele Männer damit Ihre Bedürfnisse.‹
Er sah hoch und mir in die Augen, ›Doch ich rede hier über Dinge, die ein gefährliches Gedankengut sind, denn keiner möchte an diesen Bräuchen und Ritualen rühren. Auch erinnern solche Reden an die christlichen Missionare, die seit einiger Zeit aus dem Land verbannt sind. Date Masamune und ich haben des Öfteren über solche Sachen gesprochen. Wir sehen mittlerweile vieles ein wenig anders als die anderen Männer unseres Standes, doch öffentlich dazu bekennen dürfen wir uns nicht. Es wäre unser Todesurteil. Also, wenn du uns und unsere Familien nicht ins Unglück stürzen willst, dann behalte es für dich, und sprich möglichst nicht mit dem Fürsten darüber.‹
Ich nickte und bemühte mich, das Thema zu wechseln.
›Ist Edo eine sehr große Stadt?‹
Er erkannte meine Absicht, lächelte und ging darauf ein.
›Das kommt darauf an, was für Vergleiche du hast. Du kannst Edo sicherlich nicht mit der Residenzstadt des chinesischen Kaisers vergleichen, denn Edo ist noch jung. Die Stadt wird gerade erst richtig aufgebaut, es ist alles neu und wohlgeordnet. Viele tausend Arbeiter sind damit beschäftigt, den sumpfigen Boden zu befestigen sowie Straßen und neue Gebäude zu bauen. Die Burg des Shogun und eine Grundstruktur sind schon vorhanden. Als ich noch ein Kind war, war Edo ein kleines Fischerdorf, doch Tokugawa Ieyasu, der erste große Shogun, erkor sich dieses Dorf zur Residenz. Seit dieser Zeit wird in Edo gebaut. Erst noch zurückhaltend und jetzt, nachdem sich die Macht des amtierenden Shogun über ganz Japan erstreckt, mehr. Alle Daimyo müssen sich am Aufbau der Stadt beteiligen und verbringen auch einen großen Teil ihres Lebens hier.‹
Er wendete sich wieder um und blickte aufs Wasser.
›Was für ein Aufwand und was für Kosten! Die Mittel könnten in den Provinzen der Daimyo gut gebraucht werden. Doch keiner wagt es, sich dagegen aufzulehnen. Der Shogun hat die Macht, und alle sind ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.‹
Er schüttelte den Kopf.
›Aber die Stadt wird schön. Der Stadtkern ist die Burg, und um sie herum scharen sich die Anwesen der ranghöchsten Samurai. Damit meine ich die der Daimyos und etwas weiter von der Burg entfernt die Häuser von deren direkten Untergebenen. Also Bushi wie mich. Je weiter weg von der Burg das Haus, desto geringer der Rang des Besitzes. Noch weiter entfernt stehen die Häuser der Chonin. Diese Stadtmenschen, Kaufleute, Handwerker und andere unreine Menschen, gehören zur untersten Standesriege. Am Fluss Okawa befinden sich Lagerhäuser und Regierungsgebäude. An der Bucht liegt der Hafen. Doch überall wird noch gebaut, und nur im Kern ist das meiste schon fertig.‹
Er wendete sich wieder mir zu.
›Wenn wir an Land gegangen sind, müssen wir einiges beachten, und du musst dich unbedingt in meiner Nähe aufhalten, damit ich dir Verhaltensregeln im Umgang ...‹
In diesem Moment wurden wir vom Fürsten unterbrochen.
Date Masamune saß in der Nähe des Heckmastes unter einem Sonnenschirm und hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt mit dem Kapitän unterhalten. Sich von diesem abwendend, rief er Katakura Shigenaga etwas zu. Dieser verbeugte sich leicht vor dem Daimyo und forderte mich dann auf, mit zum Fürsten zu kommen. Als wir vor ihm standen und ich ihn unschlüssig anblickte, sprach der Daimyo in barschem Tonfall mit Shigenaga. Erstaunt sah ich von einem zum anderen. Es war alles sehr widersprüchlich und ungewohnt für mich. Zum einen sah ich im Gesicht des Fürsten ein hintergründiges Lächeln, und zum anderen war der Tonfall wie eine strenge Rüge. Mein Dolmetscher machte eine unterwürfige Geste, antwortete knapp und wendete sich mir zu.
›Date Masamune hat mich soeben gerügt, weil ich dir noch nichts von unseren Sitten und Gebräuchen beigebracht habe. Auch wenn der Fürst in den Momenten, wenn wir unter uns sind, mit dir oder mir einen vertraulichen Umgang pflegt, darf er das nach außen nicht zeigen. Er muss das Gesicht wahren, und wir müssen ihm den gebührenden Respekt zollen. Es ist von der Sache her nur gespielt, aber wichtig für den Erhalt seiner Stellung. Das heißt, wenn du in Gegenwart anderer zum Fürsten gerufen wirst, näherst du dich ihm langsam und mit gesenktem Blick bis auf fünf Schritte.‹
Ich schaute nach unten und trat zwei Schritte zurück, denn ich war schon bis auf drei herangetreten.
Ein kaum wahrnehmbares Lächeln huschte über die Gesichter der beiden, und Katakura Shigenaga sprach weiter:
›Dann beugst du vor ihm das Knie. Das linke Knie und die linke Faust auf dem Boden. Die rechte Hand, da du keine Schwerter besitzt, auf den rechten Oberschenkel gestützt. Wärst du ein Samurai, müsste deine rechte Hand hinter dem Rücken die Scheide deines Schwertes umfassen, um damit zu zeigen, dass du den Fürsten nicht angreifen willst.‹
Die ganze Zeremonie erschien mir nach unserem bisherigen zwanglosen Umgang ein wenig seltsam, doch ich war im Begriff, ein fremdes Land mit mir noch unbekannten Sitten zu betreten, und empfand es als unpassend, ihre Gebräuche in Frage zu stellen. Ich beugte also das Knie und befolgte die weiteren Anweisungen meines Dolmetschers.
Mit einem leichten Neigen des Kopfes quittierte der Daimyo meine Handlungsweise, und Shigenaga fuhr in seinen Erläuterungen fort:
›Dein Blick ist dabei auf den Boden gerichtet, und erst wenn dich der Fürst dazu auffordert, schaust du ihn an.‹
Katakura Shigenaga hatte sich ähnlich verhalten, nur mit dem Unterschied, dass er sich ein wenig vor mir, dem Daimyo die rechte Seite zuwendend, befand.
In harschem Tonfall, von einer auffordernden Geste begleitet, die ich aus den Augenwinkeln sah, sprach Date Masamune uns an. Ich entnahm der Geste, dass ich aufblicken konnte, und sah dem Fürsten ins Auge. Ein klein wenig Schalk lag in seinem Blick, doch das währte nur kurz, und ein Außenstehender hätte es sicherlich nicht bemerkt.
›Gut, du hast die Aufforderung teilweise schon verstanden‹, Shigenaga nickte mir anerkennend zu. ›Der Fürst hat dir erlaubt, sich ihm bis auf drei Schritte – das ist der übliche Abstand – zu nähern und ihm gegenüber Platz zu nehmen.‹
Umgehend folgte ich der Anweisung.
›Halt, nicht so schnell und mit gesenktem Kopf.‹
Ich stockte und neigte den Kopf.
›Gut, und nun knie nieder und setze dich auf deine Unterschenkel.‹
Katakura Shigenaga wendete sich dem Daimyo zu, verbeugte sich leicht und richtete einige Worte an ihn. Nach dessen Antwort drehte er sich wieder zu mir um und sagte:
›Der Fürst wünscht, dass ich dir dieses Verhalten erkläre.‹
Ich wendete mich wieder Shigenaga zu und wurde sofort korrigiert:
›Nein, schau nicht mich an, denn ich bin nur der Dolmetscher, dein eigentlicher Gesprächspartner ist Date Masamune.‹
Als ich seiner Anweisung folgte, konnte ich noch ein leichtes Kopfneigen von ihm sehen, dann fuhr er fort:
›Du erweist dem Daimyo damit den nötigen Respekt‹, er holte tief Luft. ›Mein Herr hat mich vorhin zu Recht gerügt, denn ich habe sehr unbedacht gehandelt. Auf dieser Reise nach China war es nicht notwendig, solche Zeremonien aufrechtzuerhalten, doch jetzt, vor allem in Edo, ist es unumgänglich, um Date Masamune nicht zu schaden. Auch dir könnte bei einem Fehlverhalten Schaden entstehen, und das möchte der Fürst, da du ja auf seinen Wunsch hin mitgekommen bist, verhindern. Du musst in nächster Zeit sehr vorsichtig sein und genau auf mich achten, damit ich dir alles Notwendige vermitteln kann.‹
Ich nickte zur Bestätigung, ohne den Blick vom Fürsten abzuwenden.
›Gut, nun zum eigentlichen Zweck dieses Gespräches.‹
Die Anspannung der letzten Minuten schien ein klein wenig von Katakura Shigenaga abzufallen.
›Der Fürst muss, sobald wir in Edo sind, beim Shogun um eine Audienz bitten und ihm Bericht erstatten. Zu dieser Audienz darf ihn keiner begleiten, schon gar nicht du mit deinem offenkundig ausländischen Aussehen.‹
Ich holte Luft, um einen Einwurf zu machen, doch er unterbrach mich sofort.
›Ich erkläre das später in Ruhe!‹
Ich atmete aus und neigte leicht den Kopf.
›Gut, Date Masamune hätte gern einen Rat von dir. In einem Gespräch nach dem Kampf hattest du gesagt, du würdest dem Shogun die Reise nach Shaolin als notwendig und erfolgreich schildern. Der Fürst möchte wissen, wie er das machen soll.‹
›Nun, dazu wäre es sinnvoll, wenn ich wüsste, was der eigentliche Zweck des Besuchs am chinesischen Kaiserhof war.‹
Da Katakura Shigenaga nicht gleich mit der Übersetzung begann, machte ich eine auffordernde Handbewegung, denn ich wollte, eingedenk seiner Worte, den Blick nicht vom Daimyo abwenden.
Zögernd übersetzte er meine Frage und erntete nur zwei Worte und ein Kopfschütteln.
›Der Fürst kann und darf dir den Grund dieser Reise nicht mitteilen!‹
›Hm, ich hatte etwas in der Art erwartet. Nun gut, ich muss also ein wenig raten und gehe deshalb davon aus, dass es mit den immer wieder auftretenden Feindseligkeiten zwischen China und Japan zusammenhängt.‹
Shigenaga übersetzte fließend meine Worte, und Date Masamune hob am Ende leicht die Schultern. Dabei machte er eine Geste, die ich als »vielleicht« deutete. Ich versuchte, ein Grinsen zu unterdrücken, und fuhr fort:
›Gut. In einem unserer Gespräche, die wir nach dem Kampf in China geführt haben, sprach der Fürst davon, dass er an einer Invasion in Korea beteiligt war, in der es auch zu Kämpfen mit den Truppen des chinesischen Kaisers kam. Insofern gehe ich davon aus, dass die Reise den Zweck hatte, entweder in Erfahrung zu bringen, ob eine neuerliche Invasion erfolgreich sein könnte, oder ob die Gefahr besteht, dass China oder Korea etwas in der Art planen.‹
Ich machte eine Pause und schaute den Daimyo fragend an.
Wieder die gleiche Geste, doch auch er konnte ein Grinsen kaum unterdrücken.
›Wenn das so sein sollte, dann sind natürlich alle Informationen, die mit der Ausbildung der chinesischen Truppen zu tun haben, von Bedeutung. Date Masamune hat Gerüchte gehört oder unter der Hand von Zuträgern einiges über die kämpfenden Shaolin-Mönche erfahren. Ihm kam zu Ohren, dass sie die kaiserlichen Wachen und hohe Offiziere ausbilden, ein gewisses Truppenpotential haben und aktiv in Konflikte eingreifen. Darüber hinaus wurden sie als hervorragende Kämpfer gerühmt, die von einem großen General angeführt werden.‹
Ich machte eine kleine Pause, denn ich bemerkte die Anspannung in Masamunes Blick und Haltung. Seine aufgewühlten Gedanken waren von meinem geschulten Geist leicht zu bemerken, da ich seine Sprache noch nicht verstand, nahm ich jedoch im Moment nur wirre Bilder wahr. Es gelang mir nicht, diese richtig zuzuordnen, und mir wurde klar, dass ich ihm vermutlich mehr verraten hatte, als er bereits wusste.
War das richtig von mir?
Mir blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, denn mit einer Geste forderte er mich auf weiterzusprechen.
›Wenn meine bisherigen Vermutungen richtig sind, dann ist es logisch und im Sinne des Auftrages zwingend erforderlich, den Wahrheitsgehalt dieser Informationen zu prüfen. Da dies am Kaiserhof nicht möglich war, blieb nur die Reise zum Shaolin-Kloster übrig. Man könnte dem Shogun die Frage stellen, ob er in dieser Situation nicht die gleiche Entscheidung getroffen hätte.‹
Ich schaute erwartungsvoll in das Gesicht des Fürsten, und nach einer kleinen Pause, in der er seine Hände intensiv betrachtet hatte, begann er langsam und ruhig zu sprechen:
›Das sind sehr interessante Gedanken, die du da geäußert hast. Womit Date Masamune natürlich nicht sagen will, dass deine Vermutungen zutreffen.‹
Ich konnte das Lächeln in Shigenagas Gesicht wahrnehmen, ohne dass ich es sah.
›Der Daimyo muss dir vielleicht noch einige Hintergründe erklären, die diese Situation etwas komplizierter machen.‹
Masamune machte eine kurze Pause, um zu warten, bis der Dolmetscher mir das bisher Gesagte übersetzt hatte.
›Bisher haben wir immer nur vom Shogun als dem amtierenden Machthaber und obersten Landesherrn gesprochen. In Wahrheit sind die Machtverhältnisse in unserem Land um einiges komplizierter. Auch wir haben einen Kaiser, den Tenno. Er wird als Gottkaiser verehrt und sollte mit dem Hofadel eigentlich das Land regieren. Doch die Macht liegt in den Händen des Shogun und seiner engsten Berater. Der amtierende Shogun ist Tokugawa Iemitsu, aber das ist nur nach außen hin so, denn er hat das Amt von seinem Vater vorzeitig vererbt bekommen, um Machtkämpfen vorzubeugen. Die eigentliche Macht liegt immer noch in den Händen von Tokugawa Hidetada.‹
Date Masamune sprach im gleichen ruhigen Tonfall weiter:
›Immer wieder entstehen kleinere und größere Konflikte, da der Sohn nur ungern den Einfluss seines Vaters gelten lässt. Mein Herr ist Tokugawa Hidetada in mehreren Punkten sehr verpflichtet. Sein erstgeborener Sohn – Date Hidemune – ist nur dank der guten Beziehungen des Date-Clans zu ihm, Daimyo von Uwajima geworden. Der Shogun kann ihm dieses Lehen aber jeder Zeit wieder entziehen. Auch die Vereinbarung betreffs Date Tadamune wurde mit dem Vater getroffen, weshalb der Fürst die China-Reise antreten musste.‹
Mein Dolmetscher holte tief Luft.
›Mein Herr ist also dem alten Shogun in vielerlei Hinsicht verpflichtet. Andererseits wird irgendwann Tokugawa Iemitsu der alleinige Machthaber sein, und deshalb darf sich Date Masamune ihn nicht zum Feind machen. Auch dieser kann dem Date-Clan jederzeit großen Schaden zufügen. Als wir die Reise angetreten haben, hat der amtierende Shogun unmissverständlich kundgetan, dass er das Unternehmen nicht gutheißt. Doch konnte er sich seinem Vater gegenüber nicht durchsetzen, und nun befürchtet Date Masamune, dass ihm das, auch wegen der Reise nach Shaolin, zum Schaden gereicht.‹
›Warum stand der amtierende Shogun dieser Reise ablehnend gegenüber?‹
›Nun, der Vater ist ein wenig weltoffener als der Sohn. Auch er ist vorsichtig und bemerkt, dass die christliche Missionierung der Machtposition unseres Standes nicht förderlich ist. Er ist wie der Sohn der Meinung, dass die Eigenständigkeit unseres Landes durch den Einfluss der westlichen Länder gefährdet wird. Aber im Gegensatz zum Sohn befürchtet er mehr Nachteile durch eine Abschottung nach außen. Er denkt, dass es der Landesentwicklung förderlicher wäre, wenn wir uns vorsichtig öffnen und einen gut kontrollierten Handel mit anderen Ländern führen. Vor allem China als unser nächster großer Nachbar könnte in diesem Punkt sehr wichtig werden. Entweder als ein guter Handelspartner oder, na ja, vielleicht auch als ...‹
Er ließ diesen Satz unvollendet und schloss seine Erläuterung mit der Information, dass der amtierende Shogun das Land nach außen komplett abschirmen möchte, um alle fremden Einflüsse zu unterbinden.
›Hm, das sind natürlich schwierige Verhältnisse, aber vielleicht ist es gar nicht so schlimm, wie es auf den ersten Blick scheint.‹
Nachdenklich strich ich mir mit der rechten Hand über Mund und Kinn.
›Muss der Fürst nur dem alten Shogun, beiden gleichzeitig oder in getrennten Gesprächen Bericht erstatten?‹
Shigenaga übersetzte meine Frage, und ohne groß nachzudenken, kam die Antwort vom Daimyo:
›Er denkt, dass es eher unwahrscheinlich ist, dass er beide gleichzeitig informieren muss. Vermutlich wird ihn erst der Vater zur Berichterstattung einbestellen, bei dem das Zeremoniell nicht so umfangreich ist. Doch auch dem amtierenden Shogun muss er auf jeden Fall Rede und Antwort stehen, da er nach außen hin die Reise angeordnet hat.‹
›Nun, vielleicht ist das ganz günstig. Dem alten Shogun, Taka ... Wie hieß er doch gleich?‹
›Tokugawa Hidetada.‹
›Ach ja, Tokugawa Hidetada würde ich so informieren, wie wir es vorhin besprochen haben. Ich würde versuchen, das Gespräch so zu lenken, dass es ihm wichtig erscheint, ein starkes China nicht zu unterschätzen. Dass es aber gleichzeitig notwendig ist, gewisse Verbindungen aufrechtzuerhalten, um auf dem Laufenden zu bleiben.‹
Ich machte eine kurze Pause, um meine Gedanken zu ordnen.
›Dem Sohn würde ich den gleichen Bericht erstatten, doch das Gespräch ein wenig anders lenken. Er sollte am Ende zu der Einsicht kommen, dass seine Denkweise richtig ist und er ein starkes, einiges Land regieren muss, das allen äußeren Einflüssen gewachsen ist. Natürlich birgt das auch die Gefahr, dass sich die beiden darüber austauschen und dann denken, der Fürst hat jedem einen anderen Bericht gegeben. Aber in diesem Fall kann sich Date Masamune darauf berufen, dass er jedem das Gleiche erzählt hat und jeder nur zu anderen Schussfolgerungen gekommen ist.‹
Nachdem Katakura Shigenaga das übersetzt hatte, entstand eine kleine Pause, in der Date Masamune gebannt auf seine Hände blickte. Dann schaute er mir in die Augen und sagte:
›Die Gefahr, dass sich die beiden darüber austauschen, ist eher gering, denn sie pflegen meist nur Kontakt, wenn es öffentlich notwendig erscheint. Aber wie soll ich die Gespräche in die gewünschte Richtung lenken, wenn ich jedem den gleichen Bericht erstatte.‹
Ich lächelte und schlug vor, dass wir den Gesprächsverlauf üben, indem er den Shogun spielt und ich seinen Part übernehme.
Die sich anschließenden Dialoge nahmen viel Zeit in Anspruch, da wir verschiedene Varianten durchspielten. Erst als uns eine Schlechtwetterfront erreichte, beendeten wir das Gespräch, denn die Mannschaft hatte alle Hände voll zu tun, um das Schiff sicher auf Kurs zu halten. Wir räumten den Platz beim Heckmast, um nicht im Weg zu sein, und ich sah gebannt der Mannschaft bei ihrer Arbeit zu. Die Sicht wurde immer schlechter, starker Regen setzte ein, und das Schiff musste mit hohen Wellenbergen kämpfen. Unter heftigem Schlingern und Schaukeln ging es die ganze Nacht und auch den folgenden Tag weiter. Erst als wir die japanische Küste erreichten, wurde das Wetter besser. Aber als wir in die Meerenge zwischen Kyushu und Honshu einliefen, verschlechterten sich die Bedingungen wieder. Der Kapitän entschloss sich, den nächsten Hafen anzulaufen und erst bei Wetterbesserung die Fahrt fortzusetzen. Der kleine Hafen lag in einer Bucht, die durch eine Hügelkette vor dem Wind geschützt war. Da es nur ein Fischerhafen war verließ keiner das Schiff, und ich wurde wieder zu Date Masamune gerufen, um unser Gesprächstraining fortzusetzen.
Am nächsten Morgen besserte sich das Wetter, und wir setzten unsere Reise fort. Shigenaga sollte recht behalten, denn auf der ganzen restlichen Fahrt hatte das Schiff gegen widrige Winde anzukämpfen. Zwischen den großen Inseln gab es viele kleinere und kleinste, manchmal nur Felsklippen, deren Umschiffen der Besatzung die volle Aufmerksamkeit abverlangte. Erst als wir das offene Meer erreichten und in nordöstliche Richtung umschwenkten, wurde es einfacher. Der Wind war nicht mehr ganz so stark und seine Richtung auch ein wenig günstiger. Wir folgten mehr oder weniger dem Küstenverlauf von Shikoku und kamen besser voran. Diese Seereise nahm fast drei Wochen in Anspruch, in deren Verlauf ich immer wieder zum Daimyo gerufen wurde, da seine Bedenken noch nicht restlos zerstreut waren. Die Gespräche waren sehr langwierig, weil ich ja immer noch Katakura Shigenaga als Dolmetscher brauchte. Aus diesem Grund und wegen des unaufhörlichen Regens bekam ich auf der ganzen Fahrt nicht viel zu sehen. Zur Entschädigung hatten wir seit der Einfahrt in die Bucht, in der Edo lag, das schönste Wetter. Die Sonne wärmte von einem strahlend blauen Himmel, und das Schiff durchpflügte ruhig und gleichmäßig das nur leicht gekräuselte Wasser. Ich stand mit Katakura Shigenaga an der Reling und schaute auf die weite Ebene, der wir entgegenstrebten.
›Was erwartest du von unserem Land, und wie stellst du dir dein weiteres Leben hier vor?‹, fragte mich Shigenaga unvermittelt.
Aus meinen Gedanken gerissen, schaute ich hoch und überlegte.
›Ich weiß es nicht. Ich bin mir auch nicht sicher, ob es richtig war, dem Ruf von Date Masamune zu folgen. Die wenigen Brocken eurer Sprache, die du mir bisher beibringen konntest, sind auch nicht dazu angetan, meine Unsicherheit zu zerstreuen. Deswegen fühle ich mich im Moment sehr unwohl bei dem Gedanken, wieder einmal ganz von vorn anzufangen.‹
Er lachte kurz auf.
›Was erwartetest du denn? Hast du wirklich geglaubt, dass ich dir in den wenigen Stunden, die uns bisher zur Verfügung standen, unsere Sprache hätte beibringen können? Ging das bei deinem Eintreffen in China so schnell?‹
›Nein‹, ich schüttelte den Kopf. ›Natürlich nicht, doch was ich bisher von dir erfahren habe, erscheint mir ziemlich kompliziert, und ich habe einfach Bedenken, dass ich mich falsch verhalte oder die Erwartungen des Fürsten nicht erfüllen kann.‹
›Mach dir nicht schon jetzt Gedanken über Dinge, die du noch gar nicht einschätzen kannst. Ich habe mit meinem Herrn darüber gesprochen, und er hat mich beauftragt, dir unsere Sprache beizubringen. Außerdem soll ich in der ersten Zeit immer in deiner Nähe sein, um dich mit unseren Sitten und Gebräuchen vertraut zu machen.‹
Er wandte sich von mir ab und deutete in die Ferne.
›Sobald wir im Hafen von Edo an Land gegangen sind, achtest du bitte genau auf das, was ich tue. Da du keine Schwerter trägst und alle nach deinem äußeren Erscheinungsbild darauf schließen werden, dass du zur unteren Standesriege gehörst, musst du bestimmte Dinge genau beachten. Ich werde dir immer die entsprechenden Hinweise geben.‹
Shigenaga drehte sich zu mir um und sagte fast ein wenig feierlich:
›Date Masamune hat mir mitgeteilt, dass er sobald als möglich diesen Umstand verändern möchte. Ich weiß es nicht genau, aber ich vermute, dass er dich zu einem Bushi mit einem angemessenen Rang machen will. Doch dazu musst du unsere Sprache schon einigermaßen beherrschen, und zudem wird es erst in Sendai geschehen können.‹
›Sendai?‹
›Hab ich dir noch nichts von Sendai erzählt?‹
Ich schüttelte den Kopf.
›Oh, dann wird es Zeit, denn Sendai ist die Residenzstadt des Fürsten. Er hat vor vierundzwanzig Jahren dieses kleine Dorf dazu auserkoren. Auf dem Hügel der grünen Blätter neben dem Fluss Hirose ließ er seine neue Burg errichten. Dass er die Erlaubnis des Shogun bekam, war eine große Ehre, denn fast allen Daimyos wurde es untersagt, Burgen zu bauen, und viele bestehende Burgen wurden zerstört oder ihrer Verteidigungsanlagen beraubt.‹
Er schaute mich erwartungsvoll an, um zu sehen, welchen Eindruck diese Worte auf mich machten. Doch ich wusste immer noch zu wenig über die hiesigen Verhältnisse, um es auch nur annähernd einschätzen zu können.
Ein wenig enttäuscht fuhr er fort:
›Nun, vor zwanzig Jahren sind wir in Sendai eingezogen. Aber fast die Hälfte der seitdem vergangenen Zeit war der Fürst im Auftrag des Shogun unterwegs oder in Edo. Auch ich habe Sendai schon länger nicht mehr besucht und freue mich, es bald wiederzusehen.‹
Sehnsüchtig wanderte sein Blick in die Ferne.
›Sobald wir die Erlaubnis bekommen, werden wir Edo verlassen. Doch wer kann schon sagen, wann das sein wird.‹
Nach einem kurzen Schweigen setzten wir mit belangloseren Themen unsere Unterhaltung fort, bis wir in den Hafen von Edo einliefen.
Das Schiff hatte, seit es gesichtet worden war, große Aufmerksamkeit erregt, denn am Hauptmast war das Wappen des Date-Clans gehisst. Die Menschen am Kai deuteten aufgeregt zum Schiff, und immer mehr Bewohner strömten in den Hafen.
Als Date Masamune an Land ging, wurde ihm ehrerbietig Platz gemacht, und alle verneigten sich tief vor ihm. Er setzte eine ziemlich hochmütige Miene auf, die ich bis jetzt noch gar nicht an ihm wahrgenommen hatte. Auch Katakura Shigenaga verhielt sich ähnlich, und diese hochmütige Art machte ihn für den Augenblick ein wenig unsympathisch. Doch die Blicke, die er mir zuwarf, und die Zeichen die er mir gab, ließen mich erkennen, dass es nur der Wahrung der Stellung diente. Wie verabredet, wurde ich von den anderen Begleitern des Fürsten in die Mitte genommen, so dass mich die Blicke der Neugierigen kaum erreichten.
Zwei Träger mit einer Sänfte und eine Eskorte eilten herbei. In dem Moment verstand ich erst, warum es so lange gedauert hatte, bis wir von Bord gegangen waren. Der Fürst musste sich standesgemäß zu seiner Residenz in Edo begeben, weshalb er die Ankunft der Sänfte abwartete.
Nachdem Date Masamune in der Sänfte Platz genommen hatte, setzte sich unser Zug in Bewegung. Durch meine Position in dieser Prozession konnte ich fast nichts von der Umgebung wahrnehmen, und nach einer Weile gab ich es auf, die Dächer der meist einstöckigen Gebäude anzustarren.
Eine halbe Stunde mochte der Marsch durch die engen Straßen und Gassen gedauert haben, als wir das nahe bei der Burg des Shogun erbaute fürstliche Anwesen erreichten. Wir folgten eine Weile dem Kanal, der die Burgmauer umfloss, und bogen schließlich in das Anwesen des Daimyo ein. Masamune verließ die Sänfte, wurde von seinem Hofstaat empfangen, und der Zug löste sich auf. Katakura Shigenaga kam zu mir und forderte mich auf, ihm zu folgen. Wir gingen auf ein nicht weit entferntes kleineres Gebäude zu, und Shigenaga erklärte mir, dass es sein Haus sei. Mit Stolz wies er darauf hin, dass er auf Grund seiner hervorragenden Stellung, die er bei seinem Herrn innehatte, im Anwesen des Daimyo wohnen durfte, wenn er sich in Edo aufhielt. Wir betraten das Gebäude durch einen mit vielen Schnitzereien verzierten Eingang, und ich wurde in das Gästezimmer geleitet. Dort verließ er mich, um seine Angehörigen zu begrüßen.
Verunsichert ließ ich mich in der Mitte des Raumes in Meditationshaltung nieder, um zur Ruhe zu kommen. Doch es dauerte nicht lange, als eine junge Frau die Tür öffnete und mich durch Zeichen bat ihr zu folgen. Wir begaben uns zu einen kleineren Gebäude, das als Badehaus genutzt wurde. Dort befand sich ein großer Zuber mit warmem Wasser, und frische Kleidung lag für mich bereit. Nachdem mir meine Begleiterin dies begreiflich gemacht hatte, verließ sie mich, und ich begann mich ausgiebig zu reinigen. Ein wenig unschlüssig stand ich vor der Kleidung, doch eingedenk der Erfahrungen, die ich bei meiner Ankunft in Shaolin gemacht hatte, legte ich sie an. Es war ungewohnt, und ich hatte einige Probleme damit. Unschlüssig, was nun zu tun war, öffnete ich die Tür, und sofort erhob sich die junge Frau, die auf der kleinen Terrasse gewartet hatte. Mit einer freundlichen Geste forderte sie mich auf, ihr zu folgen. Bevor wir Shigenagas Haus durch den Gästeeingang wieder betraten, zog sie ihre Reisstrohsandalen aus. Ich folgte ihrem Beispiel, was sie mit einem freundlichen Lächeln quittierte. Meine Begleiterin ging am Gästezimmer vorbei und geleitete mich zum Empfangsraum. Dort blieb ich, meine Umgebung musternd, stehen. Mir gegenüber, am anderen Ende des Raumes, saß mein Dolmetscher auf einem kleinen Hocker, rechts neben ihm ein junger Samurai und auf der anderen Seite eine Frau mittleren Alters. Mit ihr hatte er sich gerade unterhalten, als er zu mir aufblickte.
Kurz auflachend winkte er mich zu sich heran.
›Oje, ich muss dir wirklich noch viel beibringen und erklären.‹
Er deutete auf einen Platz vor sich und forderte mich zum Sitzen auf. Der junge Mann neben ihm machte ein erstauntes Gesicht, und seine Hand zuckte schon in Richtung seiner Schwerter. Katakura Shigenaga bemerkte es und wies ihn barsch zurecht. Nach einem kurzen Wortwechsel wurde ich ein wenig freundlicher, doch forschend gemustert. Der Herr des Hauses wandte sich wieder mir zu und sagte:
›Du musst das Verhalten meines Sohnes entschuldigen, dieser formlose Umgang mit einem anscheinend dem niedrigsten Stand Angehörigen ist für ihn ungewohnt. Ich habe ihm gerade erklärt, dass du keineswegs das bist, was er vermutet. Nach meinen Erklärungen hält er dich jetzt für einen Sohei. So werden bei uns die Kriegermönche genannt. Das kommt dem, was du bist, ja auch am nächsten, und vom Stand her stehen diese Männer nur wenig unter den Bushi. Ich habe ihm erklärt, dass du Date Masamunes und mein Lebensretter bist. Aber ich glaube, am meisten hat ihn beeindruckt, dass ich sagte, dass du ein weit besserer Krieger bist als die meisten Samurai, die er kennt.‹
Ich holte Luft und setzte zu einer Erwiderung an, doch er unterbrach mich.
›Ich weiß, dass du das nicht magst‹, fuhr er lächelnd fort. ›Aber du musst bedenken, dass bei uns andere Werte gelten, und ich habe auf keinen Fall gelogen.‹
Damit war für ihn das Thema abgeschlossen, und er deutete auf den jungen Mann.
›Also, das ist mein Sohn Yoshimoto‹, ich neigte das Haupt vor ihm, und er grüßte zögernd zurück.
Shigenaga wandte sich nach der anderen Seite und deutete auf die Frau.
›Und das ist seine Mutter, meine Konkubine.‹
Auch sie begrüßte ich auf die gleiche Weise, und lächelnd neigte sie den Kopf.
›Eine meiner Töchter hast du ja auch schon kennen gelernt‹, er deutete zum Eingang und zeigte auf die junge Frau, die sich dort niedergelassen hatte.
Ich wandte mich um und erntete eine höfliche Verbeugung.
›Nun, in meinem Haus und wenn keine anderen Personen anwesend sind, ist es nicht notwendig, einen förmlichen Ungang zu pflegen. Wir können so zwanglos wie auf dem Schiff miteinander umgehen, doch nun muss ich dich in einigen Regeln und Ritualen unterweisen.‹
Er sprach kurz mit seinen Familienangehörigen, und nachdem seine Tochter uns Tee gereicht hatte, verließen sie uns.
Als wir allein waren, erklärte er mir, dass diese drei die einzigen engen Familienangehörigen seien, die sich in Edo aufhielten. Alle anderen, darunter auch seine Frau, befanden sich in Sendai.
Nach dieser kurzen Einleitung begann er mich darüber aufzuklären, wie ich mich im Anwesen des Daimyo zu verhalten hätte. Bei dieser Gelegenheit setzten wir auch meinen Sprachunterricht fort. Das Erlernen der japanischen Sprache gestaltete sich etwas leichter als der erste Sprachunterricht, den ich in meinem neuen Leben bekommen hatte. Zum einen lag es daran, dass mein Lehrer diesmal das Chinesische, in dem wir uns gut verständigen konnten, zur Erklärung nutzte. Zum anderen fiel es mir sehr viel leichter, weil ich gleichzeitig seine Gedankenbilder wahrnahm. Das Wort hatte also ein Bild oder besser gesagt, eine Gestalt, wodurch es sich mir besser einprägte.«