Читать книгу Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band) - Joachim Ringelnatz - Страница 15
1. Kapitel: »Elli« ahoi!
ОглавлениеIch will da anfangen, wo ich meinem Vater noch einmal gute Nacht wünschte und wir beide uns über den Bettrand bogen, um einen Händedruck auszutauschen, der von Seiten meines Vaters wohl bedeutete: werde ein tüchtiger und glücklicher Mensch, und bei dem ich ihm ohne Worte die Versicherung gab, daß er sich nicht um mich zu sorgen brauche. Das war am Abend des 3. April 1901 in einem Hotelzimmer am Hamburger Hafen. Der Heuerbas Kerner, der mir für 400 Mark eine seemännische Ausrüstung geliefert und sich verpflichtet hatte, mich am nächsten Tage auf einem großen eisernen Segelschiff als Schiffsjungen unterzubringen, hatte uns im besagten Hotel einquartiert, und wir schienen gut dort aufgehoben. Wir waren morgens aus Leipzig angekommen und hatten gleich den Heuerbas aufgesucht.
Dieser Mann, der mir den Weg in die weite Welt zeigen sollte, war von kleiner, untersetzter Gestalt, hatte ein rundbackiges Gesicht, unstete Augen und kleine fette Hände. Er trug eine blaue Schirmmütze und hielt beständig eine Zigarre zwischen den Lippen, und zwar immer in der Mitte des Mundes, was ihm einen gewissen Ausdruck von Dummheit verlieh. Herr Kerner hatte einen kleinen Laden direkt am Hafen in einer Straße, die sich Stubbenhuk nannte. Er verkaufte Herrenkonfektionssachen vom Kragenknopf an bis zu ganzen Anzügen, aber weniger für gentlemen als für Arbeiter und besonders Seeleute; blaue Hemden und Blusen, blaue Mützen und blaue Tücher. Blau war die dort herrschende Farbe. In einer Ecke standen übereinander fünf oder sechs längliche gelbe Kisten, die wie Särge aussahen und die Kerner Seekisten nannte. Drei Stufen führten ins Hinterzimmer, einen kleinen Raum, der, wie ein dort stehender Schreibtisch verriet, als Kontor diente. Da oben wie unten hohe Regale mit aufgestapelten Kartons an den Wänden angebracht waren und unten auch noch ein langer Ladentisch stand, blieb nur noch ein schmaler Gang übrig, in dem sich beständig blaugekleidete Menschen herumdrückten.
Kerner empfing uns mit großem Eifer und erklärte gleich meinem Vater, daß mein Schiff leider in Le Havre bliebe und er mich nun erst mit anderen erfahrenen Seeleuten zusammen nach dort bringen ließe, wodurch er den vereinbarten Preis von 400 auf 450 Mark erhöhen müsse und dabei doch noch etwas einbüße. Er wußte meinem Vater jede Besorgnis auszureden und begann nun die für mich bestimmten Ausrüstungsgegenstände aufzuzählen, indem er sie, der Reihenfolge seines Prospektes entsprechend, auf dem Ladentisch ausbreitete. Ich sah mit großem Interesse zu. Da war zunächst ein Monkey-Jackett, eine dicke blaue Jacke mit Sammetkragen, die bei Seeleuten den Überzieher ersetzt, ferner ein Anzug mit zwei Reihen Knöpfen und eine Schirmmütze, wie sie Kerner selbst trug. Dann kamen in viertel oder halben Dutzenden wollene und leichtere Hemden, Unterzeug, bunte Taschentücher, Strümpfe und die mich hierauf am meisten interessierenden seemännischen Sachen, als ein Ölzeug mit Südwester, ein Paar Fausthandschuhe im Winter am Ruder zu tragen, ein paar Arbeitsjumper, ein Paket Tabak, Tabakspfeife, Streichhölzer, Soda, Seife und zuletzt ein dolchartiges Messer mit Scheide und Riemen. Das schien mir das Wertvollste an der ganzen Ausrüstung. Meine achtzehnjährige Phantasie malte sich dabei abenteuerliche, wilde Szenen an fernen Küsten aus, wo dieses Messer eine Hauptrolle spielte. Zum Schluß schleppte Kerner einen der gelben Särge herbei, packte alle diese Sachen hinein und deutete auf eine blau-weiß gestreifte Matratze, welche, um ein gleichfarbiges Keilkissen gewickelt, einer Riesenroulade gleich in einer Ecke stand. »Das ist deine Ausrüstung«, sagte er durch eine Handbewegung.
Sie schien in der Tat sowohl mir als auch meinem Vater eine sehr willkommene und preiswerte zu sein.
Es wurde nun verabredet, daß mein Vater noch einen Tag in Hamburg bleiben würde. Nach seiner Abreise sollte ich unter Kerners Aufsicht und auf seine Kosten so lange im Hotel wohnen, bis der Dampfer nach Le Havre abginge, der mich und einige meiner zukünftigen Kollegen bzw. Vorgesetzten zu dem großen eisernen Vollschiff »Elli« bringen würde.
Der letzte Tag des Zusammenseins mit meinem Papa war überaus freundlich verlaufen. Mein Vater hatte mir viel herzliche Wünsche und gute Ratschläge ans Herz gelegt, die am Abend in dem Moment, mit dem meine Erzählung begann, durch jenen Händedruck nochmals bekräftigt wurden. Wir schliefen gleich darauf ein oder waren wenigstens still. Es mag sein, daß mein rührend guter Vater in Gedanken an die Zukunft seines Jüngsten nicht gleich Schlaf fand. Ich jedenfalls konnte noch lange nicht einschlafen.
Die bald dumpfen, bald kreischenden Stimmen der Nebelhörner und Pfeifensignale, welche die Nacht durchzogen, waren eine neue, reizvolle Musik für mich, die in meinem unerfahrenen Gemüt ein berauschendes Gefühl, ein Ahnen von dem großen Treiben der Welt erzeugte.
Am andern Morgen brachte ich meinen Vater zur Bahn.
Das Schwere des Abschieds, das ich empfand, machte – wie gewöhnlich in solchem Alter – bald dem glücklichen Empfinden Platz, zum erstenmal ganz frei und auf sich selbst angewiesen zu sein.
Als ich bei Kerner vorsprach, empfing mich dieser mit einer auffallend plötzlichen Gleichgültigkeit. Mein dadurch gegen ihn hervorgerufenes Mißtrauen sollte bald weitere Nahrung finden.
Nach dem Mittagessen, das ich mit dem Hotelwirt und einem alten, griesgrämigen Kapitän einnahm, wurde gefragt, ob ich damit einverstanden wäre, daß man mich wo anders unterbrächte. Es wären zwei neue Gäste gekommen. Mein Zimmer sei das einzige mit zwei Betten, und überdies würde ich in meinem neuen Logis mit anderen Seeleuten Zusammensein.
Damit einverstanden, machte ich mich sogleich auf den Weg nach dem neuen Quartier.
Dieses befand sich im ersten Stock eines engen, morschen Hauses in einem Gäßchen des Hafenviertels. »Hermann Krahl« stand vor der Etagentür auf einem blinden Messingschild.
Ich wurde von irgend jemandem in ein Zimmer gewiesen, aus dem schon von weitem ein wüster Lärm drang. Noch wüster aber sah es in dem Raum selbst aus.
In einem länglichen Zimmer standen: ein roher Holztisch, eine ebensolche Bank und das ganz traurige Gerippe eines ehemaligen Kanapees ohne Überzug. Das war das ganze Mobiliar. Im übrigen fiel mir noch ein riesiger Panamahut von der Größe eines Wagenrades auf, der an der Wand hing, sowie ein junges, ausgestopftes Krokodil, das, auf dem Kopf stehend, wie ein Spazierstock in der Ecke lehnte.
Ein dicker Tabaknebel von süßlichem Geruch benahm mir fast den Atem, und in dieser Atmosphäre vollführten etwa vierzehn Jungens meines Alters und, wie ich, in blauer Schiffsjungenkleidung einen Heidenlärm.
Der Kaffee schien eben serviert zu sein. Wenigstens stand auf dem Tisch eine Anzahl wenig appetitlicher Blechbecher mit schwarzem Inhalt
Die blauen Jungen tranken das Getränk aber nicht, sondern sie setzten die gefüllten Becher vorsichtig ineinander bis zu einer hohen Säule. Dann schlug einer mit der flachen Hand auf den obersten Becher, so daß der Kaffee nach allen Seiten durch das Zimmer spritzte, worauf die Jungen in ein schallendes Gelächter ausbrachen. In diesem Moment trat ein untersetzter Mann mit starkem Schnurrbart herein, der wie ein Arbeiter aussah. Er stotterte etwas von »Schweinerei« und »aus dem Hause werfen«, ergriff dann einen der Übeltäter und erteilte ihm gewaltige Ohrfeigen. Das schien hier aber nichts Ungewöhnliches zu sein, denn die andern nahmen fast keine Notiz davon.
Ich beobachtete, daß die Blauen den Bärtigen mit Papa anredeten und daß er der Herr des Hauses, Krahl, war.
Inzwischen hatte ich mich, etwas eingeschüchtert, meinen Kameraden genähert und wurde nun bald mit ihnen vertraut. Sie waren aus allen Windrichtungen zusammengekommen. Von Kerner, der sie ausgerüstet, erklärten sie einstimmig, daß er der größte Schwindler und Schuft auf Erden sei, daß er ganz unbrauchbare Ausrüstungen liefere, seine Jungen seinem Versprechen zuwider nur auf ganz kleine, schlechte Schiffe brächte und sie vorher oft monatelang in der liederlichen Herberge von Krahl warten ließe, wo man vor Hunger, Schmutz und Langeweile fast umkäme. In der Tat privatisierten einige der Blauen dort schon acht Monate und länger, natürlich auf eigene Kosten. Mehrere hatten auch schon Reisen mitgemacht und waren inzwischen zu Leichtmatrosen oder Matrosen avanciert. Sie genossen besonderes Ansehen bei den übrigen und waren sich dessen recht bewußt. Mich behandelten sie als Neuling und bedeuteten mir auf meine endlosen, wißbegierigen Fragen, ich solle mir mal nicht zu viel von der »christlichen Seefahrt« versprechen; ich würde sie, wie alle Binnenländer, sehr schnell satt bekommen und sollte lieber wieder nach Hause »zu Muttern« fahren. Sie ließen sich übrigens am Abend herab, mich in die »Feuchte Ecke«, eine Matrosenspelunke, mitzunehmen, wo sie auf meine Kosten, und ohne sich weiter um mich zu kümmern, zwei Stunden Billard spielten. Geld hatte keiner von den Krahlsjungen.
In dem Schlafzimmer, wo wir übernachteten, sah es übel aus. Da standen nebeneinander mehr oder weniger zerbrochene Betten, unordentlich, schmutzig und durchwühlt, denn die Jungen waren am Tage mit ihren Stiefeln darüber gelaufen.
Eigentlich gefiel mir diese wüste Wirtschaft anfangs. Sie schien mir ein interessanter Vorgeschmack von dem freien, tollen Leben, das ich mir von meinem Beruf erhoffte. Nur der Gedanke, daß ich am nächsten Tage vielleicht doch nicht wie versprochen an Bord kommen würde, stimmte mich traurig.
Am andern Morgen aber ließ mich Kerner in seinen Laden holen. Dort standen bei meinem Eintritt mehrere andere Schiffsjungen wartend umher und schimpften laut. Kerner nahm aber keine Notiz davon, sondern verhandelte sehr geschäftig mit einem Italiener.
Ein langer Herr mit einer Glatze schaffte meine Ausrüstungsgegenstände in eine Droschke, die draußen wartete. Darauf wandte sich Kerner zu mir, gab mir mit einem halb freundlichen, halb boshaften Lächeln die Hand, und nach diesem Abschied stieg ich mit dem Glatzkopf in die Droschke. Fort rasselten wir.
Über holpriges Pflaster ging's. Mir war sehr beklommen zumute, und die Lustigkeit des Herrn Schütt – so hieß mein Begleiter – konnte mich nicht anstecken. Sein Lächeln hatte etwas sehr Ironisches.
Bald kamen wir in das Freihafenviertel. Über Brücken hinweg. – Links und rechts zeigten sich die für Hamburg charakteristischen Fleete. Vor den langen Lagerhäusern standen große, eiserne Kräne. Arbeiter, Packer, Kutscher, Zollwächter waren überall lärmend beschäftigt.
Plattdeutsche Laute, Schimpfworte, Kommandos und Pfeifensignale drangen an mein Ohr. Aber alles, was ich sah, war mir fremd und abstoßend. Trotz des Lärms kam mir diese Umgebung so drückend schwül und so öde vor, daß ich – waren es die entmutigenden Reden meiner Krahlschen Kameraden oder ein gewisser Instinkt – ein Gefühl von zukünftigem Ärger und Enttäuschung hatte.
Nun hielten wir am Petersenkai vor einem Dampfer. Meine Sachen wurden an Bord gebracht, Schütt sagte mir Lebewohl, und dann stand ich allein auf dem französischen Schiff »Thérèse et Marie«.
Man wies mir einen Raum an, worin ich während der Überfahrt nach Le Havre wohnen sollte. Deutsche Matrosen, die mit mir auf die »Elli« kommen sollten, nahmen mich in Empfang und schafften meine Sachen in den Zwischenraum; so nannten sie den Ort, wo wir zwischen Kisten und Ballen, selbst Versandgütern gleich, einquartiert wurden. Dann nahmen sie mich mit an Land in eine Kneipe, wo man Bier aus Flaschen trank. Einer bezahlte eine Runde Bier, und ich verteilte dafür Zigarren.
Ich kam mir auf einmal recht männlich und stark vor, als ich so unter den derben Gestalten stand, ihre rohen Späße hörte und mich bemühte, es ihnen im Trinken möglichst gleich zu tun. Sie wollten sich über meinen hohen Stehkragen totlachen und zogen aus ihm den Schluß, daß ich von feinen Leuten wäre. Sie ließen sich auch von mir erzählen, wie ich auf den Gedanken gekommen sei, zur See zu gehen, und schütteten sich wieder aus vor Lachen, als sie hörten, daß ich Kerner 450 Mark habe zahlen müssen. Seitdem nannten sie mich nur noch den Vierhundertmarksjung. So trieben sie noch lange ihren Spaß mit mir und wiederholten mir alle das, was man mir bei Krahl gesagt hatte. Einer von ihnen, den die anderen Hermann nannten, ein kleiner schmächtiger Mensch, schien der Gebildetste zu sein und nahm sich auch meiner besonders freundlich an. Er war als Leichtmatrose für die »Elli« angeworben, hatte seine Eltern in Hamburg und unterhielt sich hochdeutsch mit mir. Die übrigen waren Matrosen bis auf einen, der den Rang eines Bootsmannes einnahm.
Auch Hermann riet mir, wieder nach Hause zu fahren. Das Wasser habe keine Balken. Ich wies seinen Rat zwar mit Entschiedenheit zurück, aber er hatte doch genügt, meine Stimmung bis unter Null zu bringen, und ach, es sollte noch schlechter kommen.
Wir gingen in See. Nachts lagen wir nebeneinander in wollene Decken eingehüllt im Zwischendeck, wohin man nur mittels einer Leiter gelangte. Da ich keinen Schlaf finden konnte, stand ich wieder auf und ging unruhig im ganzen Schiff umher, verwundert anstaunend und verwundert angestaunt. Schmutzig, schmierig, ölig war alles, was ich anfaßte oder sah. Auch für die französische Besatzung galt das. Das Klosett läßt sich überhaupt nicht beschreiben.
Am nächsten Mittag wurde uns eine Blechschüssel mit einer fetten, unappetitlichen Masse vorgesetzt. Ragout betitelt; aber keiner von uns konnte sie genießen, trotzdem wir alle furchtbar hungrig waren. Sonst erhielten wir während der dreitägigen Fahrt nichts zu essen. Ich war auf ein Paket Leipziger Schokolade angewiesen. Hundertmal lief ich zur Küche und schrie: »Manger! Manger!«, aber der Schiffskoch war weder durch Geld noch durch gute Worte zu erweichen.
Jahn, einer von unseren Matrosen, suchte auf andere Weise uns etwas zum Beißen zu verschaffen. Es roch im Zwischenraum stark nach Feigen. Jahn machte sich daran, eine der Kisten mit einem Taschenmesser anzubohren, während der Bootsmann an der Leiter »Schmiere« stand.
Es war anscheinend nicht leicht, mit dem kleinen Instrument durch das dicke Holz zu dringen, denn Jahn brauchte ziemlich lange Zeit dazu. Endlich war er aber doch durch und fing nun furchtbar zu fluchen an, weil er in der Kiste Seife vorfand. Dann enthielten andere Kisten auch Seife. Zu trinken bekamen wir reichlich. Wein in Gießkannen. So viel, daß wir ihn sogar zum Händewaschen benutzten.
Die erste Nacht auf See hat sich mir fest ins Gedächtnis eingeprägt; denn sie ließ mich gleich das bewegte Meer kennenlernen. Das Schiff rollte gewaltig hin und her, so daß ich mich überall festhalten mußte. Mir war nicht wohl zumut. Der Hunger, die entmutigenden Reden, die ich bisher gehört, der Spott und der rohe Ton meiner zukünftigen Bordgenossen hatten mich in eine elende Stimmung gebracht. Ich irrte ruhelos auf Deck umher, stieg eine eiserne Treppe empor, bog mich über das Geländer der Kommandobrücke und starrte auf die dunklen, brausenden Wogen hinab, die an dem Schiffe weißschäumend vorüberglitten. Vergeblich versuchte ich den Rhythmus festzustellen, der sie immer wieder mit dem gleichen, mächtigen Getöse formte und zerteilte.
Neben mir stand ein bärtiger Mann im schwarzen Ölmantel und betrachtete mich mit verwunderten, gefühllosen Blicken wie etwas ganz Fremdes, Unerklärliches. Am Steuer – oder Ruder, wie ich es später nennen lernte – stand ein zweiter Franzose. Seine ebenso erstaunten wie ernsten Blicke schienen mich zu fragen, warum ich nicht, wie meine Landsleute, schlafen ginge. Einmal richtete er auch ein paar Worte in seiner Sprache an mich, die ich aber nicht verstand. Dann stieg ich wieder ins Zwischendeck, und da ich noch immer keinen Schlaf finden konnte, begann ich meine Seekiste auszukramen, in der eine heillose Unordnung herrschte. Dabei entdeckte ich einen Brief, den mir mein Vater mit der Weisung gegeben hatte, ihn erst auf See zu öffnen. Er enthielt eine Menge Goldstücke, wie ich sie nie zuvor mein eigen genannt, und einen Brief in schlichten, herzlichen Worten, die mich zu Tränen rührten. Mein prächtiger Papa!
Endlich brach ein herrlicher Morgen an und brachte mir etwas frohere Stimmung. Die aufgehende Sonne gab der See eine klargrüne Färbung. Am Horizont zeigte sich ein blendend weißer, felsiger Küstenstreifen, der die brennende Sehnsucht in mir weckte, dort landen und umherstreifen zu können. Der freie, weite Himmel über mir trug dazu bei, das Bild freundlicher zu gestalten, und der Wind blies köstlich erfrischend. Jahn war der erste von uns Deutschen, der sich erhob. Er lachte mir zu, wusch sich in einem Eimer und begann dann, an Deck mit gleichmäßigen, schnellen Schritten auf und ab zu marschieren. Ich beobachtete ihn, wie er, trotzdem das Schiff von einer Seite auf die andere schwankte, doch eine schnurgerade Linie abschritt und dabei oft einen ganz unglaublich spitzen Winkel zum Deck bildete. Die französischen Matrosen, in liederlich-bunter, malerischer Tracht, mit wollenen Zipfelmützen, wie sie bei uns kleine Kinder tragen, standen in Gruppen schwatzend und lebhaft gestikulierend umher.
Mit ihnen befreundete ich mich bis zu einem gewissen Grade sehr schnell. Sie amüsierten sich anscheinend über mein Französisch. Große Schwierigkeiten machte es mir, ihnen den Begriff »Wurst« klarzumachen. Obgleich ich in der Zeichensprache mit dem Finger in der Luft ein höchst getreues Bild einer deutschen Leberwurst entwarf, lasen diese Franzosen doch alles mögliche andere daraus, wie Makkaroni, Gurken oder Aal.
Am Abend erblickten wir die zwei Leuchttürme von Le Havre auf einer steilen Felswand, deren grelles Weiß sich gegen den tiefblauen Himmel abhob. Es fiel mir auf, daß das bisher grasgrüne Wasser an einzelnen, merkwürdig scharf begrenzten Stellen eine blaue Färbung zeigte. Jahn und Bootsmann, die mich gern etwas aufzogen, meinten, das blaue Wasser rühre vom Atlantischen Meer, das grüne von der Nordsee her. Dann passierten wir in gewissen Abständen eiserne, aus dem Wasser herausragende Kegel. Hermann belehrte mich, daß das sogenannte Bojen seien, die den Schiffen als Wegweiser oder als Warnungszeichen dienten, während mir Jahn mit ernster Miene etwas von versunkenen Kirchtürmen vorredete.
Als wir die Felswand passierten, zeigte sich plötzlich in einer Bucht die Stadt Le Havre voll und ganz unseren Blicken. Erst jetzt gelang es mir, der ich halb verhungert war, vom Schiffskoch für fünfzig Pfennige eine ganz alte, harte Semmel zu erlangen.
Dann kam der Moment, wo wir landeten. Wir Deutschen packten unsere Sachen und machten uns auf die Suche nach der »Elli«. Der Bootsmann nahm die führende Stelle ein. Endlich entdeckten wir das eiserne Vollschiff, das wir suchten.
Es war allerdings kein Vollschiff und war auch nicht aus Eisen, sondern es war eine kleine, hölzerne Bark mit schwarz gestrichenem Rumpf.
Drei Masten ragten von ihr in die Höhe, die mit Stangen, Tauen und sonstigen schmutzigen, mir ganz fremden Gegenständen wie mit einem Spinnengewebe übersponnen war. Kein Mensch zeigte sich, und das Schiff wie der Kai, an dem es lag, machten einen öden, toten Eindruck. Am Hinterteil des sargähnlichen Baues stand mit goldenen Buchstaben der Name »Elli« und darunter der Heimatshafen des Schiffes »Oldersum«.
»Ein Ostfriese«, sagte der Bootsmann mit einer gewissen Verachtung, indem er dicht an die Bark herantrat. Dann legte er die Hand an den Mund und rief mit fürchterlicher Stimme: »Elli ahoi!«
Auf diesen Ruf hin traten zwei Männer aus der Kajüte. Der eine mußte wohl der Kapitän der »Elli« sein, ein kleiner, untersetzter, breitschultriger Mann mit rötlichem Vollbart, gutmütigem, aber festem Blick und schwankendem Gang.
»Hallo, seid ihr da«, rief er mit freundlicher, heller Stimme und schob eine hölzerne Pfeife aus dem rechten Mundwinkel in den linken. Der lange rothaarige Bootsmann warf seinen Kleidersack von den Schultern, grüßte auf recht einfältige, verlegene Art und sah aus wie ein dummer Junge. Dann stellte er uns vor. Der Begleiter des Kapitäns war der Steuermann, etwas größer als sein Kapitän, auch breitschultrig, und trug eine blaue Jacke mit breitem Kragen, die etwas Uniformmäßiges an sich hatte. Seine Erscheinung machte wie die des Kapitäns einen sehr sympathischen Eindruck auf mich.
Wir brachten unsere Habseligkeiten im Schiff unter. Hierauf glaubte ich nun zunächst aller meiner Verpflichtungen ledig zu sein und entfernte mich, ohne Erlaubnis einzuholen, mit dem seligen Gedanken, mir jetzt einmal in Ruhe ganz allein Frankreich anzusehen.
Mein erstes Bestreben war natürlich, meinen dreitägigen Hunger zu befriedigen. Ich sah mich in den Straßen nach etwas Wurst um, fand aber nirgends, was ich suchte. In den Schaufenstern, die ich mit Hast überflog, sah ich wohl bisweilen ganz kleine, verkrüppelte Dinger, die vielleicht ein wenig Anspruch auf den Namen Wurst hatten; aber die weißgrauen meterlangen Leberwürste, die in Deutschland mein Ideal gewesen, zeigten sich nirgends. So trat ich denn mit der Sicherheit und Verwegenheit, die ein volles Portemonnaie erzeugt, in den nächsten Krämerladen und erstand ein Stück Schweizerkäse, halb so groß wie mein Kopf. Diesen gigantischen Leckerbissen verspeiste ich auf offener Straße mit einem Löwenappetit und betrachtete dabei das lebhafte Straßentreiben.
Als sich mein schlimmster Hunger gelegt, betrat ich das »Grand Hôtel Saint François«, um einen Brief nach Hause zu schreiben. Ich bestellte Schreibzeug und Kaffee und bekam den Kaffee ohne Milch, aber mit einem Gläschen Kognak serviert, was ich abscheulich fand. Hier verfaßte ich ein Schreiben an meine Eltern, das ich selbst heute kaum noch entziffern kann. Dann kehrte ich zur »Elli« zurück.
Mein eigenmächtiges Davongehen wurde an Bord gerügt.