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7. Kapitel: Flucht

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Inhaltsverzeichnis

Es war am 20. Juni. Ich erhielt doch einmal vom Steuermann Erlaubnis, mit Hermann an Land zu fahren. Nachdem ich nochmals zwischen Fliehen und Bleiben geschwankt hatte, entschied ich mich schließlich für Flucht. Jetzt oder nie! Die Freiheit winkte.

Hermann durfte ich getrost von meinen Absichten verständigen. Ihm selbst redete ich aber alle Fluchtgedanken aus. Ich malte ihm aus, in welches Unglück er sich stürzen würde, wenn er jetzt desertierte, und führte ihm vor Augen, daß er dadurch seine Papiere verlieren würde.

Mit äußerlich größter Ruhe, aber um so stärkerer innerer Aufregung traf ich nun meine Vorbereitungen. Nach dem Ausscheiden abends um sechs Uhr zog ich mir zwei neue Hemden, zwei Paar Strümpfe, einen leinenen Arbeitsanzug und einen blauen Landanzug übereinander sowie meine besten Schuhe an. Dann steckte ich Uhr, Taschenmesser, Tabakspfeife, einige Photographien, die mir lieb waren, ferner einen kleinen leinenen Sack, in dem ein Neger mir einmal Bananen gebracht hatte, und last not least mein Tagebuch zu mir. In dieser mehr arktischen als tropischen Ausrüstung begab ich mich in die Kajüte, um Kapitän Pommer um einen Vorschuß zu bitten. Er gab Hermann und mir zusammen zwei Dollar und sagte dabei zu meinem großen Schrecken: »Na, Seppl, du siehst ja ordentlich groß und breit aus!« Er hatte aber glücklicherweise nichts gemerkt. Dann stiegen wir – Hermann, Willy, Koch und ich – ins Boot. Vorher hatte ich noch, in der Erwägung, daß meine Sachen nach meinem Verschwinden wohl sehr bald von Jahn und Konsorten mit Beschlag belegt werden würden, meine Bücher und einige andere wertvollere Stücke meines Nachlasses in Hermanns Koje gesteckt und den guten Menschen gebeten, sie für mich aufzubewahren, beziehungsweise sie in Europa meinen Eltern zuzusenden. Unser Urlaub war sehr knapp bemessen. Wir sollten um neun Uhr, bevor die starke Strömung einsetzte, schon wieder zurück sein. An Land angekommen, gingen wir zunächst dahin, wo sich die deutschen Seeleute immer ihre Kenntnisse fremder Länder aneignen, d.h. in ein deutsches Wirtshaus. Wir bestellten uns Limonade und Zigarren und waren sehr fidel, besonders ich. Ich drückte Hermann mehrmals unterm Tisch die Hand, und er lächelte mir dann verständnisinnig zu. Nachdem der Reihe nach jeder von uns etwas zum besten gegeben hatte, so daß keiner im Vorteil geblieben war, unternahmen wir noch einen Straßenbummel, bei dem ich mir ein halbmeterlanges, breites Messer kaufte. Um acht Uhr erklärte ich meinen Gefährten, daß ich noch etwas besorgen wolle, aber gleich nachkommen würde. Sie waren damit einverstanden, schärften mir aber dringend ein, pünktlich um neun Uhr am Boot zu sein. Dann drückte ich Hermann nochmals flüchtig die Hand und marschierte mit großen Schritten davon. Ich ging immer geradeaus, da mir ja vor allen Dingen daran lag, möglichst weit von der »Elli« fortzukommen. Als ich jedoch die letzten Häuser im Rücken hatte, stellte sich heraus, das mein Weg in einen Wassertümpel mündete. Eine andere Straße, die ich nun einschlug, war gleichfalls durch eine Wassergrenze gesperrt. Es schien, als sei Belize festungsartig mit Wassergräben umgeben. Wieder eine andere Richtung einschlagend, kam ich über den Marktplatz, wo ich Pferde und Kühe herrenlos und ungefesselt umhertraben sah. Ein paar Neger, die ich nach dem nächsten Weg aus der Stadt fragte, rieten mir dringend ab, bei Nacht durch den Wald zu gehen. Ich ließ mich aber nicht beirren, sondern schritt tüchtig aus und fand diesmal auch den richtigen Ausweg. Bald lagen die letzten, vereinzelten Häuser hinter mir und vor mir ein Weg, oder besser eine Lichtung, die in den großartigen, rauschenden Urwald führte. Als ich mich soweit in Sicherheit glaubte, daß mir die Matrosen nicht mehr folgen würden, zog ich meinen guten Anzug aus, tat diesen und die sonstigen Gegen stände in den leinenen Bananensack und eilte dann weiter. Mein Weg ging über Schlingpflanzen und durch tiefe Pfützen. Die Dämmerung war schnell hereingebrochen, und ich muß gestehen, daß ich in der einsamen Stille, die nur durch ein gleichmäßiges, aus dem Walde kommendes Brausen und Summen von Insekten unterbrochen wurde, bald sehr viel von meinem bisherigen Mut verlor. Je tiefer ich in den Wald kam, desto ängstlicher wurde ich, zumal ich jeden Augenblick auf einen Jaguar oder auf eine giftige Schlange zu stoßen fürchtete. Mehrmals hörte ich in dem Geäst ein lautes Krachen, das vielleicht von Affen herrührte. Dann verdoppelte ich meine Eile. Ganz besonders aber erschrak ich, als ich bei einer Biegung des Waldes plötzlich ein großes Tier vor mir stehen sah. Ob es ein Hirsch oder ein Elch gewesen, kann ich nicht sagen. Gewiß ist nur, daß sich das Tier ganz ruhig verhielt, und daß ich in gewaltiger Angst mit großen Sprüngen davonlief. Immer finsterer und unheimlicher wurde es um mich herum. Von allen Seiten klang unaufhörliches Quaken und Zirpen. Zwischen den dunklen Schatten der hohen Palmen glaubte ich alle möglichen Schreckgestalten zu erkennen, und wenn ich auch mein langes Messer kampfbereit in der Hand hielt, so war mein Mut zuletzt doch sehr tief gesunken. Die Nacht war hereingebrochen. Eine schauderhafte, rabenschwarze Nacht. Ich mochte etwa zwei Stunden gegangen sein, als ich zu meiner Freude einen Lichtschein bemerkte, der aus einer Blockhütte kam. Es war eine Farm, von einem Garten umgeben, dessen Tor ich verschlossen fand. »Hallo!« schrie ich mehrmals mit lauter Stimme. Nach einiger Zeit öffnete sich ein Fenster, und eine Stimme fragte: »What do you want?«

Ich bat um ein Nachtquartier. »No!« lautete die Antwort.

Ich bat nun dringender und versprach, mit dem einfachsten Platz am Fußboden zufrieden zu sein, wenn man mich nur hereinlassen würde. In diesem Augenblick sah ich etwas Dunkles heranstürzen, und als ich mit einem Schrei auf den Gartenzaun sprang, bemerkte ich, daß es ein Reiter war, ein bewaffneter Neger, der, ohne sich um mich zu kümmern, in scharfem Galopp weitersprengte.

Ich bettelte erneut um Einlaß, aber die Stimme am Fenster machte mir verständlich, daß man mir nicht öffnen könne, da der Master noch nicht zu Hause sei und wohl auch erst spät zurückkehren würde. Mir blieb nichts übrig als zu warten. Ich blieb aber auf der schmalen Latte des hohen Gartenzaunes sitzen. Unter mir huschten und krabbelten fortwährend irgendwelche Lebewesen. Mit der Zeit schöpfte ich wieder etwas Mut und dachte zuletzt ganz ruhig über meine Lage nach. Ich malte mir aus, wo und wie ich mich vor einem halben Jahr befunden hätte, und überlegte mir, wie das Leben mich in einer so kurzen Zeit in eine so ganz andere Lage gebracht hatte. Wenn mich in diesem Moment die Eltern oder die Geschwister oder die Schulkameraden hätten sehen können! Sonderbar, ich dachte an ganz kleinliche Begebenheiten und Umstände meiner Vergangenheit. Vielleicht wollte ich mich damit künstlich in eine recht kaltblütige Stimmung bringen. Ich besann mich zum Beispiel darauf, daß meine Schwester zu Hause das Walroß genannte wurde, weil sie einmal in einem Schulaufsatz über die Eisenbahn den Satz gebraucht hatte: »Ein Pfiff, und das Walroß saust dahin.«

Ein Geräusch und zwei funkelnde Augen unter mir. Ich hielt mein Messer bereit und verscheuchte das Tier. Es war wohl nur eine Katze gewesen.

Waren es Stunden oder Minuten, die so verrannen? Sie waren fürchterlich. Plötzlich setzte ein gewaltiger Wolkenbruch ein, dessen Fluten mich im Nu gänzlich durchnäßten. Bald spürte ich das Wasser in Strömen an meinem Körper herunterlaufen, und nach der vorangegangenen Tageshitze zitterte ich jetzt vor Kälte. Trotzdem war ich vor allen Dingen darauf bedacht, mein Tagebuch und die Photographien zu retten. Ich hatte sie fest mit meinem guten Jackett umwickelt und suchte sie nun durch meinen Körper vor dem Regen zu schützen. Ich hörte meine Zähne klappern. Blitz und Donner folgten jetzt ununterbrochen. Nochmals schrie ich laut nach dem Blockhaus hinüber, man möge mir doch öffnen. Aber vergebens. Es folgte keine Antwort. Ich bemerkte nur, daß die Jalousien heruntergelassen wurden.

Endlich hielt ich es nicht mehr aus. Ich kletterte entschlossen über den Zaun und näherte mich behutsam der Hütte. Sie war auf Pfählen erbaut wie die Häuser in Belize. Eine Treppe führte auf eine hölzerne Galerie, wo sich auch der Eingang zum Inneren befand. Dorthin stieg ich, nachdem ich zweimal rund um das Haus gehend keinen regensicheren Schlupfwinkel entdeckt hatte. Ich drückte sanft auf die Türklinke. Alles blieb still drinnen. Die Tür war verschlossen. Aus den beiden seitlichen Fenstern drang Lichtschimmer zwischen den grünen Rolläden hervor. Wieder rief ich und gab gute Worte. – – Totenstille. Durchs Schlüsselloch entdeckte ich zwei gedeckte Tische in dem hell erleuchteten Zimmer. Nunmehr versuchte ich die Jalousie etwas hochzuheben. Dabei fiel irgendein Gegenstand, der von innen dagegengelehnt hatte, um.

In diesem Moment entstand ein großer Lärm in der Hütte, Flüche und Verwünschungen drangen an mein Ohr. Die Tür wurde aufgerissen, und zwei Neger stürzten mit langen Messern heraus. Ich floh in wilder Hast durch den Garten, mein Gepäck zurücklassend. Der Zaun war sehr hoch, und ich war nie ein besonderer Turner gewesen, aber in diesem Augenblick setzte ich mit einem geradezu glänzenden Sprunge über das Hindernis.

Draußen blieb ich stehen, suchte die erregten Neger zu beruhigen und bat sie, mir meinen Sack herauszugeben. Darauf reichte mir einer den Sack herüber und zündete dann mit einiger Schwierigkeit ein Streichholz an, mit dem er mich neugierig beleuchtete. Er mochte wohl etwas wie Mitleid empfinden, als er mich so in meinen nassen Kleidern dastehen sah; denn er machte mir mit etwas freundlicherer Stimme verständlich, daß er mich keinesfalls beherbergen könne. Als ich ihm zur Versöhnung eine Handvoll deutscher und englischer Kupfermünzen aus meinem Bananensack anbot, schob er meine Hand mit gutmütigem Lächeln zurück. Er riet mir, nach Belize zurückzugehen und beruhigte mich betreffs meiner Sorge vor wilden Tieren. So blieb mir denn nichts anderes übrig, als den weiten Weg zurückzuwandern. Der Regen war vorüber, aber seine Wasser hatten sich in den zahlreichen Vertiefungen des Weges zu breiten Bächen angesammelt, die ich nun durchwaten mußte. Ich konnte nicht nässer werden, als ich schon war, und da ich fror und todmüde war, schritt ich unbekümmert um alles in großen Schritten wieder gen Belize. Einmal fiel ich in einen Graben, doch ohne Schaden zu nehmen. Als ich ziemlich erschöpft die ersten Häuser wieder erreichte, begegnete mir ein kleines Erlebnis, das sich mir wegen seines mysteriösen Charakters fest einprägte. Ein Lichtschimmer, der plötzlich vor mir auftauchte, und ein ganz eigentümlicher Chorgesang erweckten in mir die frohe Hoffnung, ein Wirtshaus anzutreffen, in dem ich mich ausruhen und meinen brennenden Durst löschen könnte. Näher kommend gewahrte ich einen Garten, und in demselben drei Tische. An dem einen saßen lauter Knaben und Mädchen, an dem anderen erwachsene Männer und Weiber, und diese sangen mit lauter Stimme besagte seltsame, monotone Melodie. Am dritten Tisch zwischen beiden unterhielten sich ein Schwarzer und ein Kreole in leisem Flüsterton. Ich wandte mich an den Gelben und fragte, meine Mütze ziehend, ob ich ein Wirtshaus vor mir habe. Der Kreole entgegnete etwas, von dem ich nur die Worte »Diehouse« und »Ninetyne« verstand, und er machte dabei die Pantomime des Halsabschneidern. Ein Sterbehaus! Aber was hatten das »neunundneunzig« und die begleitende, grausige Bewegung zu bedeuten? Ich blickte fragend im Kreise umher. Lauter tiefernste Gesichter sahen mich mit großen Augen an. Die flackernden Fackeln warfen einen unruhigen Schein auf die singenden Gruppen. Es lag etwas Unheimliches in der ganzen Stimmung. Da ich aber vor Ermattung gegen alles ziemlich abgestumpft war, bat ich um ein Glas Wasser. Der freundliche Kreole brachte mir das, und nachdem ich es mit einem Zug gierig geleert hatte, dankte ich und zog weiter. Der Gelbe drückte mir zum Abschied warm die Hand.

Die Straßen von Belize waren wie ausgestorben. Alles schlief bereits, und nirgends fand ich ein Wirtshaus oder sonst eine Unterkunft, obgleich ich wohl zehnmal alle Winkel durchlief.

Ein Polizist, dem ich schon mehrmals begegnet war und dem ich erzählte, ich hätte mein Schiff verpaßt, das am vergangenen Tage ausgelaufen sei, nahm sich endlich meiner an und brachte mich nach der Wache. Dort standen in einem geräumigen Zimmer etwa 15 Feldbetten, und mein Führer wies mir eins derselben für die Nacht an. Mehrere andere Polizisten suchten mit mir ihren Scherz zu treiben, aber ich war so todmüde, daß ich, sobald ich mich auf das köstliche Lager streckte, sofort einschlief.

Noch im Halbschlummer kam mir der Gedanke, daß mich Kapitän Pommer vielleicht schon jetzt, spätestens aber morgen früh, suchen lassen würde, und ich glaube, ich lächelte noch, als mir einfiel, daß er mich hier im Schutze der Polizei am allerwenigsten vermuten würde.

Es war ein herrlicher, beneidenswert tiefer Schlaf, der mich bis zum Morgen umfangen hielt. Als ich er wachte, regnete es draußen.

Ich erkundigte mich nach der nächsten Stadt und verstand, daß sie Collasal hieße. Der nächste Dampfer dorthin sollte in zwei Tagen fahren. Bis dahin mußte ich also Unterkunft suchen, und ich schlenderte nun durch die Straßen und suchte weiter.

In verschiedenen Läden, wo ich anfragte, wies man mich achselzuckend und mit mißtrauischen Blicken ab.

Auf einem Schild las ich den Namen Winzerling. Das muß ein Deutscher sein, dachte ich und trat in den Laden. Der Inhaber, ein deutscher Jude, fragte, ob ich von einem Schiff ausgerissen sei. »Nein«, log ich, »ich bin auf dem russischen Segelschiff abgemustert.« Er konnte mich aber nicht gebrauchen, und ich sah mich weiter in der Stadt um. Überall erhielt ich eine abschlägige Antwort, und auch ein alter Fischer, der mit einem kleinen Segelboot an der Mole lag, wollte mich nicht in seine Dienste nehmen.

Natürlich sah ich mich auf meinem Gang sehr vor, daß ich niemandem von der Besatzung der »Elli« in die Hände lief, und lebte immer in der Angst, daß man mich festnehmen könnte. Einmal wurde ich von einem Manne mit forschenden Fragen angesprochen. Ich tat, als ob ich ihn nicht verstände, und drückte mich schleunigst in die Menschenmenge, die an diesem Markttage gerade die Straßen füllte.

Endlich brachten mich zwei kleine Jungen zu ihrem Vater, einem alten Kreolen, der mir für einen Dollar für zwei Tage Unterkunft in seinem Hause versprach.

In dem freundlichen, hölzernen Gebäude, das er bewohnte, befand sich unten zu ebener Erde ein kleines Zimmer, das ihm wohl als Rumpelkammer diente; denn es waren dort alle möglichen Geräte – unter anderem ein Ballen Kokosmatten – aufgestapelt. Dieser Raum wurde mir angewiesen. Der älteste Junge brachte eine Hängematte. Als er sie aufhängen wollte, schlüpfte ein großer Skorpion heraus, den der Junge mit einem Stecken totschlug.

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