Читать книгу Fee und der Schlangenkrieger - Joanne Foucher - Страница 3

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Der Regen

Der Magnolienbaum vor dem Institut für Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie der Uni Bonn quoll über vor blassrosa Blüten. Charlotte Mayer und Michaela Thomas saßen auf den Treppenstufen vor dem Eingang und ließen sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Es war ein sehr warmer Tag Ende März im Jahr 2003.

Michaela seufzte. „Ich schaff’ das nicht, Schlotte“, sagte sie. Michaela war 27 Jahre alt, ihr weißblondes langes Haar hing ihr offen über den Rücken und glänzte in der Sonne hell. Sie hatte blaue Augen und trug ein dünnes Sommerkleid.

Charlotte – Schlotte – hatte grüne Augen, trug Jeans und T-Shirt und ihr hellbraunes Haar im Pferdeschwanz.

„Quatsch“, widersprach sie mit fester Stimme, „natürlich schaffst du das! Deine Magisterarbeit zu schreiben hast du auch geschafft, obwohl du meintest, du schaffst es nicht.“

„Das war auch die Hölle. Aber das hier… ist noch schlimmer… ich lerne einfach nicht! Ich weiß nicht, wieso, ich tu es einfach nicht!“

„Ach komm, das stimmt doch nicht. Du lernst doch die ganze Zeit. Nur weil du jetzt mal hier zehn Minuten in der Sonne sitzt...“

Schlotte ließ den Blick auf der blühenden Magnolie ruhen.

„Eigentlich sollte ich in der UB sein“, fuhr Michaela fort, „aber ich hab die Fee schon so lange nicht gesehen… man geht sozial total unter, wenn man so im Lernstress steckt, weißt du.“

Die Fee hieß eigentlich Hannah, Hannah Maiwald, und war Schlottes Mitbewohnerin. Wie Schlotte und Michaela studierte sie Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie im Hauptfach, und sie hatte sich mit Schlotte verabredet, jetzt am Ende der Semesterferien, ins Institut zu gehen um herauszufinden, welche Veranstaltungen angeboten wurden und ob es sonst irgend etwas gab, was sie wissen sollten. Schlotte hatte Michaela zufällig auf der Straße getroffen, als diese auf dem Weg in die UB, die Universitäts- und Landesbibliothek, war und überredet, mitzukommen.

„Die wird schon gleich kommen. Ich meine, sie hatte um halb vier Schluß.“

Michaela hatte keine Uhr.

„Und wie spät ist es jetzt?“

„Zehn vor vier.“

„Was? Schon? Driss, ich muss echt los!“

„Wieso, die UB hat doch offen bis um neun!“

„Ja, schon, aber ich hab so furchtbar viel zu tun… und ich hab keinen Bock drauf, das ist mir alles so egal… wenn du deinen Abschluss machst, dann komm bloß nicht auf die Idee, Wikingerhandelspätze zu nehmen, Schlotte, das ist das beschissenste Thema, das man sich nur aussuchen kann. Und die latènezeitlichen Wagengräber! Mittlerweile muss ich jedesmal brechen, wenn ich das Wort „Achsnagel“ lese.“

Schlotte wusste nicht, was sie sagen sollte. Michaela steckte tief im Examensstress und quälte sich sehr mit dem Lernen. Sie ließ ihren Blick über die Grünfläche schweifen, vom Alten Zoll zum Hofgarten hinüber und bemerkte erleichtert, dass in diesem Augenblick Fee über die Straße kam. Fee war, wie sie selbst, 25 Jahre alt. Sie hatte kurzes, sehr dunkles braunes Haar, das sie sich mit einem Tuch aus dem Gesicht gebunden hatte, und braune Augen. Sie trug ein dunkles Tanktop, eine abgeschnittene Jeans und dicke Arbeitsschuhe. Alles an ihr, von ihrem Kopftuch über ihre Haut bis hinunter zu ihren Schuhen, war dreckig und staubig. Sie stand an der Ampel mit David Ranseier, einem ihrer Kommilitonen, der einige Semester später als Schlotte und Fee mit dem Studium angefangen hatte, und unterhielt sich mit ihm. Schlotte konnte nicht hören, worüber sie sprachen, aber sie konnte sehen, dass sie viel lachten. Kurz darauf wurde die Ampel grün und sie kamen den Weg zum Institut hinauf. Vor dem Koblenzer Tor verabschiedete sich Fee von David, der dann durchs Tor verschwand, und kam zu Schlotte und Michaela.

„Hallo!“ sagte sie fröhlich, ließ sich neben Schlotte auf der Treppenstufe nieder und reckte sich vor, um Michaela besser sehen zu können. „Ich hab dich ja ewig nicht gesehen, Ela!“

Ela musterte sie neugierig.

„Warst du graben?“

Fee nickte.

„Ich dachte, du wolltest nie mehr graben.“

„Wollte ich auch nicht“, sagte Fee achselzuckend, „aber ich brauch das Geld.“

„Und wo bist du?“

„Auf der Römerstraße. Ist ganz okay. Sind immerhin ein paar nette Leute dabei.“

„Und was habt ihr für Befunde?“

„Ach, lauter hässlichen Römerkram halt.“

„Ach so, seid ihr im Lager?“

„Ja, klar.“

„Können wir mal über die wichtigen Dinge sprechen?“, mischte sich Schlotte ein und bedachte Fee mit einem vorwurfsvollen Blick. „David Ranseier?“, fragte sie tadelnd.

Fee zuckte wieder mit den Achseln und nahm ihr Kopftuch ab. Mit der linken Hand wuschelte sie sich durch die Haare, die danach wild in alle Richtungen abstanden, so dass Fee wie ein kleiner Kobold aussah.

„Ich hab ihn am Bertha von Suttner-Platz getroffen.“

„Worüber habt ihr euch unterhalten?“

Fee lachte. „Reisen. Der hört sich so gerne reden. Der wollte überhaupt nicht in diese Richtung. Der ist nur mitgekommen, weil er mir die ganze Zeit irgendwas erzählen wollte.“

„Und wo war er so überall?“

„Keine Ahnung. Ich hab nicht zugehört.“

Schlotte lachte.

„Ich glaub, der mag dich.“

„Oh Göttin.“

„Wer ist das denn überhaupt?“ fragte Ela, „Ich hab den noch nie gesehen!“

„Ja, der ist im fünften Semester oder so“, erklärte Fee.

„Ich kenn überhaupt niemanden mehr hier.“

„Was Professor Ranseier betrifft, hast du nichts verpasst. Der Typ ist so arrogant und von sich selbst überzeugt…“

„Wieso nennst du ihn denn Professor?“

„Na, weil er die ganze Zeit Vorträge hält. Der hält sich für superschlau und erklärt dir andauernd die Welt…“

„Naja, der wird halt noch klein sein, fünftes Semester… auch der wird irgendwann erwachsen werden.“

„Der ist älter als wir. Der ist 29.“

„Echt?“ fragte Schlotte überrascht.

„Ja. Der war halt vorher beim Bund oder was weiß ich. Deswegen labert der die ganze Zeit so viel über Panzer, wo er im Einsatz war und den ganzen Müll.“

Schlotte lachte amüsiert auf.

„Das passt ja!“

„Und?“ wandte Fee sich an Ela, „wie läuft’s bei dir? Man sieht dich gar nicht mehr.“

Ela seufzte.

„Ich bin so angenervt von allem… ich könnt’s echt hinschmeißen.“

„Och je… du musst dich mal entspannen. Du wirst es schon schaffen, wahrscheinlich sogar mit ’ner eins.“

„Na klar“, sagte Ela ironisch, „das Ding ist einfach, ich will nicht mehr! Ich hab’s so satt! Ich hab kein Sozialleben mehr, ich krieg nichts mehr mit, ich hab keine Freizeit mehr…“

„Soll ich am Wochenende zu dir kommen? Du setzt dich in dein Schlafzimmer und lernst und ich setz mich an deinen Computer und mach da was? Dann könnten wir zwischendurch immerhin mal spazieren gehen oder wir erzählen uns was oder so…?“

„Ja! Das wär super!“

„Okay. Kommst du mit rein?“

„Nee.“ Ela stand auf und hängte sich ihre Tasche um. „Ich werd in diesem Semester bestimmt keine Veranstaltungen belegen. Zumindest hab ich das nicht vor! Ich muss in die UB!“

„Na gut. Dann telefonieren wir, okay?“

Schlotte und Fee sahen Ela nach, wie sie über die Wiese in Richtung der Universitätsbibliothek davon ging. Zwischen den Kastanien führten einige Leute ihre Hunde aus und überwiegend junge Leute gingen zum Rhein hinunter, um sich in den Biergarten am Alten Zoll zu setzen. Fee bemerkte, dass der Wind stärker geworden war. Er trieb dunkle Wolken vor sich her.

„Es wird bald regnen“, sagte sie, „komm, gehen wir ’rein.“

„Ich frage mich“, sagte Fee als sie das Foyer durchquerten, „ob sie dieses Semester was Interessantes anbieten.“

„Das wird derselbe Frühmittelaltermist sein wie jedes Semester“, antwortete Schlotte und drückte auf die Klingel neben der Glastür, dem Eingang zum Institut für Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie.

„Ich würd so gern mal was Eisenzeitliches machen“, sagte Fee sehnsüchtig, „oder noch besser, was Bronzezeitliches!“

Jemand im Inneren drückte auf den Summer und Schlotte schob die Tür auf.

Das Institut für Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie war ein sehr kleines Institut. Es gab nur einen einzigen Flur. Auf der rechten Seite befand sich direkt neben dem Eingang das Sekretariat und auf der linken Seite die Toiletten. Dann folgten links die Bibliotheksräume und auf der rechten Seite die Büros der Dozenten. Schlotte und Fee grüßten durch die offene Tür die Sekretärin und gingen dann direkt zum Schwarzen Brett.

„Hier geht’s schon los“, sagte Fee und las vor: „,Ausgewählte awarenzeitliche Gräberfelder zwischen Elbe und Donau’ beim Duhler. Und hier, es wird noch schlimmer: ,Probleme der Typologie und Chronologie der langobardischen S-Fibeln’. Auch beim Duhler.“

Friedrich Duhler war der Direktor des Instituts. Sein Fachgebiet war das Frühmittelalter, eine Zeit, die Fee nicht besonders interessierte.

„Wer ist denn T. Maler?“ fragte Schlotte, die Fee nicht zugehört hatte. Fee überflog den Aushang und fand den Namen, den Schlotte anstarrte.

„,Keramische Formen als Identifizierungsmittel bronzezeitlicher Kulturgruppen vom östlichen Mitteleuropa bis zum Schwarzen Meer: Möglichkeiten und Grenzen der Aussagen von Keramiktypologien’. Wow!“

Schlotte sah Fee abschätzig an.

„Keramiktypologien? Das findest du toll?“

„Bronzezeit!“

Schlotte wandte sich wieder dem Aushang zu.

„Aber Typologie…? Ich weiß ja nicht.“

„Ist doch fantastisch, sieht so aus, als würd’ ich dieses Semester tatsächlich endlich mal was Bronzezeitliches machen.“

„Dann sieht’s so aus, als würdest du dieses Semester tatsächlich überhaupt mal wieder was machen!“

Fee überging die Anspielung darauf, dass sie in den vergangenen zwei Semestern weder Veranstaltungen besucht noch Scheine erworben hatte.

„T. Maler…“, sagte sie nachdenklich, „ich geh mal fragen.“

Sie ging zum Sekretariat und klopfte an den Türrahmen. Frau Wagner, die fröhliche und sehr neugierige Sekretärin, die Fee gut leiden konnte, lächelte sie an.

„Hannah, Liebchen“, sagte sie freundlich, „wie geht’s dir?“

„Gut“, erwiderte Fee lächelnd, „und Ihnen?“

„Och, auch gut. Bist ja schon so braungebrannt, wo biste gewesen?“

„Nirgends, ich war auf Grabung. Auf der Römerstraße.“

„Ach! Firma?“

„Nee, fürs Amt. Die Chaoten von der Außenstelle Overath. Frau Wagner, ich hab mir gerad das Lehrangebot fürs Sommersemester angesehen. Wer ist denn T. Maler?“

Frau Wagner grinste.

„Das möchteste gerne wissen, was?“

„Klar, Bronzezeit ist doch spannend.“

„Findeste? Ich weiß von so was nichts. Der Herr Maler ist ab dem Sommersemester hier bei uns Dozent.“

„Ach was?“

„Ja. Hat einen Zweijahresvertrag. Herr Doktor Thomas Maler aus Hamburg.“

„Aha. Und war er schon mal hier? Wie ist er so?“

„Sei nicht so neugierig, Liebchen“, tadelte Frau Wagner, und Fee verkniff sich ein Grinsen. Niemand war neugieriger als Magda Wagner und niemand teilte seine Informationen so bereitwillig, sprich tratsche so gerne, wie Magda Wagner.

„Das ist ein ganz Stiller. Der war schon ein paarmal hier. Wohnt in Beuel. Wohnst du nicht auch in Beuel?“

„Doch.“

„Nicht weit vom Rhein, glaub ich. Sehr höflich, aber sehr zurückhaltend. Gar nicht mal unattraktiv, aber zu jung für mich.“

„Ach?“

„Ja, der ist bestimmt noch keine 40. Wär vielleicht was für dich, Hannah.“

Fee brach in helles Lachen aus. „Frau Wagner!“

„Na! Ist doch jetzt schon fast ein Jahr her, seit du dich von deinem Freund getrennt hast, oder? Oder wär das ein Problem für dich, ein älterer Mann? Wie alt biste jetzt?“

Fee zog es vor, sich so schnell wie möglich zurückzuziehen und schob irgendeine Ausrede vor, um das Sekretariat zu verlassen. Draußen auf dem Flur traf sie auf Schlotte, die sich den Bauch hielt vor lauter Lachen.

„Die Frau macht mich fertig“, stieß sie mühsam hervor.

„Pssssst“, zischte Fee, „sie hört dich doch!“

Schlotte lachte noch lauter. Aus der hintersten Tür auf der linken Seite, dem Arbeitsraum, trat ein junger Mann und warf Schlotte einen mißbilligenden Blick zu.

„Komm, lass uns abhauen“, lachte Fee, „gehen wir nach Hause.“

Der Mann kehrte zurück in den Arbeitsraum.

„Den hab ich noch nie gesehen“, lachte Schlotte, „kennst du den? Vielleicht war er das ja! Na, Fee, wär' der nichts für dich? Du hast doch kein Problem mit einem älteren Mann, oder?“

„Nicht, wenn er so aussieht wie der gerade. Der Typ sah ja super aus! Weißt du, wer das war?“

„Nee, stell dir vor, woher denn?“

„Schade.“

Fee zog Schlotte lachend aus dem Institut. Draußen war es inzwischen noch dunkler geworden und der Wind hatte zugenommen.

Fee blieb kurz stehen.

„Herrlich“, sagte sie.

Als Fee in Beuel in der Küche stand und sich Pestonudeln auf den Teller häufte, brach draußen der Regen los. Einen Augenblick lang sah Fee lächelnd aus dem Fenster, bevor sie sich wieder um ihr Essen kümmerte. Sie liebte Regen, aber es war schon gut, dass sie Zuhause in ihrer Küche stand und nicht mehr draußen auf der Fläche.

Zur gleichen Zeit war Ela überhaupt nicht nach Lächeln zumute. Sie hatte das Gebäude der Universitäts- und Landesbibliothek gerade zu dem Zeitpunkt verlassen, als die ersten Tropfen fielen. Sie hatte geglaubt, es noch rechtzeitig durch die Stadt zum Bahnhof schaffen zu können. Da sie jedoch in beiden Händen Baumwollbeutel voll schwerer Bücher trug, war sie langsamer als sonst. Außerdem brach das Unwetter schneller los, als sie erwartet hatte. Sie hatte erst die halbe Strecke zwischen der Bibliothek und dem Institut für Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie zurückgelegt, und beschloss, sich in die Institutsbibliothek zu flüchten. Bei der Gelegenheit konnte sie noch nachsehen, ob sie dort die Monographie über die Glasperlen von Haithabu hatten.

Ela rannte, so gut es mit ihrem Gepäck ging, den Fußweg hinauf. Der Regen peitschte beinahe waagerecht von Westen durch die Luft, fegte in die Kastanien und brach kleinere Äste ab. Nur wenige Augenblicke später war ihre Kleidung durchnässt und ihre Haare klebten am Kopf. Ela riss wütend die Tür auf, stapfte zum Eingang des Instituts, wobei das Wasser aus ihrer Kleidung tropfte, und drückte auf die Klingel. Frau Wagner drückte den Summer und Ela schob die Tür auf. Ohne auf ihre Umwelt zu achten ging sie den Gang hinunter, nahm ihre Brille ab und versuchte, das Wasser von den Gläsern zu wischen, was nicht besonders gut ging, da sie noch immer ihre Büchertaschen schleppte. Mit dem Fuß stieß sie die Tür zum Arbeitsraum auf und warf ihre Taschen auf den nächsten Tisch. Eine der Tüten rutschte herunter, die Bücher fielen heraus und verteilten sich über den Boden.

„Verdammt“, fluchte Ela und warf genervt ihre Handtasche hinterher. Dann ging sie in die Knie und machte sich daran, ihre Handtasche und ihre Bücher wieder einzusammeln. Sie donnerte die Bücher ohne Hinzusehen auf den Tisch und richtete sich wieder auf. Ihre Laune war auf dem Tiefpunkt angelangt.

In diesem Moment teilten sich draußen die Wolken und durch die hohen Fenster fiel goldenes Sonnenlicht herein. Für einen Augenblick vergaß Ela ihren Ärger. Ihr Blick hing an den Wassertropfen in den Zweigen draußen, in denen sich das Sonnenlicht brach, und einen Moment lang war sie erfüllt von der Schönheit und Reinheit dieses Lichts.

Dann verdunkelte sich der Himmel wieder und aus ihren Haaren lief ihr Wasser in die Augen. Ihr Ärger kehrte zurück und Ela ließ sich genervt in den Stuhl fallen. Dann spürte sie, dass jemand sie beobachtete und hob den Kopf. Zwei Tischreihen weiter saß ein Mann, den sie noch nie im Institut gesehen hatte, und sah sie an. Er war mit Sicherheit einige Jahre älter als sie. Ela schätzte ihn auf Ende dreißig; vielleicht sogar Anfang vierzig. Er hatte dunkelblondes Haar, er war schlank und hatte grüne Augen. Vor ihm auf dem Tisch ausgebreitet lagen mehrere Bücher und Ela bemerkte, dass er keinen Laptop benutzte, sondern sich mit Kugelschreiber Notizen auf einem ganz normalen Din A 4 Karoblock machte. Ela sah sich um, als nähme sie den Arbeitsraum zum ersten Mal war, und stellte fest, dass außer ihm niemand da war. Er sah aus, als ob er an irgend etwas Wichtigem arbeitete und ihr Auftritt musste ihn ganz schön gestört haben.

„Entschuldigung“, sagte sie.

„Macht nichts“, sagte der Mann und bückte sich. Aus einer Tasche, die am Boden stand, zauberte er ein Handtuch hervor und stand auf. Er trug dunkelblaue Jeans und ein sehr gut geschnittenes graues Hemd. Als er um den Tisch herum kam, bemerkte Ela, dass er nicht nur sehr groß, sondern auch ziemlich muskulös war.

Sein Blick war merkwürdig, und er reichte Ela ohne zu lächeln das Handtuch. Ela fand das sehr nett, aber sein Blick verwirrte sie. Und um sich nicht einschüchtern zu lassen, beschloss sie, den fremden Mann, obwohl er offensichtlich älter und wahrscheinlich kein Student war, zu duzen.

„Danke“, sagte sie und nahm das Handtuch, „hast du immer ein Handtuch dabei, wenn du in die Uni gehst?“

„Nein“, sagte der Mann und lehnte sich gegen die Kante des nächsten Tisches, „nur, wenn ich danach noch zum Sport will.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und starrte sie weiterhin an.

„Aha“, machte Ela. Sie trocknete sich ihr Gesicht und drückte ihre Haare aus. „Danke jedenfalls. Das war sehr nett von dir.“

Sie gab ihm das Handtuch zurück. Er nahm es ohne zu lächeln, den Blick unverändert auf sie gerichtet.

Ela sah ihn erwartungsvoll an, aber er sagte nichts.

Schließlich lächelte sie und fragte: „Wieso starrst du mich so an?“

Der Mann fuhr zusammen.

„Das tut mir leid“, sagte er und rannte beinahe zu seinem Arbeitsplatz zurück, „das war mir nicht bewusst. Du erinnerst mich an jemanden, aber ich komme nicht drauf, an wen. Entschuldige bitte!“

Er ließ sich in seinen Stuhl fallen und griff sich eines der Bücher.

Ela war jetzt neugierig. Langsam ging sie um die Tische herum zu ihm hinüber.

„Das macht nichts“, sagte sie und warf einen Blick auf seine Bücher. „Wobei hab ich dich gestört?“

Er hob unwillig den Blick. Dann reichte er ihr wortlos das Buch. Es schien sich um eine Fibeltypologie zu handeln. Ela sah sich die Abbildungen an und erkannte, dass es sich um Fibeln der Bronzezeit handelte.

„Du würdest dich gut mit meiner Freundin Fee verstehen“, sagte sie, „die liebt die Bronzezeit.“

Er sah sie interessiert an.

„Du nicht?“

„Nein. Ich habe nie etwas Bronzezeitliches gemacht. Hat mich aber auch nie sonderlich interessiert.“

Er sah enttäuscht aus.

„Das überrascht mich“, sagte er. Ela gab ihm das Buch zurück.

„Naja, wir haben keine Dozenten, die Bronzezeit anbieten. Und ich mag auch dieses hässliche Zeug wirklich nicht.“

„Hässlich.“

Ela zuckte mit den Achseln.

„In dieser Bibliothek fehlen außerdem grundlegende Werke über die Bronzezeit“, sagte der junge Mann.

„Unser Professor ist halt Frühmittelalterspezialist.“

„Und du, hast du dich auch auf’s Frühmittelalter festgelegt?“

Ela zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn.

„Ich hab mich überhaupt nicht festgelegt. Ich hab meine Magisterarbeit über wikingerzeitliche Textilreste geschrieben. In vier Wochen gehen meine Prüfungen los, und da hab ich Themen aus der Latènezeit, der Wikingerzeit, der Römischen Kaiserzeit und musste außerdem noch was Bronzezeitliches dazu nehmen, deswegen bin ich nicht so gut darauf zu sprechen.“

„Ach, dann bist du noch gar nicht fertig.“

„Naja, so gut wie.“

„Wie alt bist du denn?“

Die Frage klang in Elas Ohren irgendwie vorwurfsvoll, so als ob sie mit ihren 27 Jahren bereits fertig sein müsse.

„Was ist das denn für eine Frage, wie alt bist du denn?“, schoss sie zurück.

Er hob abwehrend die Hände.

„Schon gut, war nicht so gemeint. Ich dachte, du wärst Doktorandin.“

„Nein, bin ich nicht. Erstmal der Magister, danach mach ich mir Gedanken um meine Diss.“

„Hast du schon ein Thema?“

„Ja, ich bearbeite einige merowingerzeitliche Gräberfelder am Niederrhein. Mit insgesamt mehr als dreitausend Gräbern.“

„Steht das alles schon?“

„Ja. Der Duhler hat sich für mich eingesetzt, ich hab ab Juli ein Stipendium und dann geht’s los.“ Ela atmete tief durch. „Dann geht der Stress weiter.“

„Wie heißt du?“

Ela, überrascht über diesen plötzlichen Themenwechsel, sah ihn überrascht an.

„Michaela“, sagte sie dann, „und du?“

„Tom. Forschung macht eben Arbeit und kostet viel Zeit.“

Ela sah ihn überrascht an. So wie Tom das gesagt hatte, klang es ungeheuer ernst und vorwurfsvoll.

Ela seufzte. „Da hast du recht.“

„Und, was hast Du für ein bronzezeitliches Thema?“

„Aunjetitzer Kultur und Bezüge zum Nordischen Kreis.“

Er nickte. Sie rieb sich müde die Stirn.

„Das Problem ist, dass ich nicht mal weiß, wie ich einsteigen soll. Das Thema ist mir so fremd.“

„Ich hab gehört, es soll dieses Semester eine Exkursion zu bronzezeitlichen Fundplätzen geben. Vielleicht wäre das was für Dich.“

Sie sah ihn interessiert an und nickte dann. „Ja, das ist vielleicht wirklich eine gute Idee. Kommt natürlich darauf an, wann und wie lange, ob ich Zeit hab, während der Prüfungsphase... und es wäre schon gut, wenn die Aunjetitzer Kultur thematisiert würde.“

„Wird sie. Die Himmelsscheibe von Nebra und die Kulturkontakte, die sich an ihr ablesen lassen. Nicht nur zum Nordischen Kreis, natürlich, aber das könnte trotzdem interessant für dich sein.“

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, während er sprach. Ela fand, dass dies nun der merkwürdigste Gesichtsausdruck war, den sie bisher bei ihm gesehen hatte. Er schien mit einem Mal traurig, verbittert und alles in allem überfordert von irgend etwas. Dann stand er plötzlich sehr unvermittelt auf.

„Ich muss jetzt los.“

„Tut mir leid“, sagte Ela und stand auch auf. „Ich wollte dich nicht vom Arbeiten abhalten.“

Sie schob ihren Stuhl weg.

„Ist schon okay.“

Tom packte seinen Block und sein Handtuch ein und klemmte sich die Bücher unter den Arm.

„Viel Glück für deine Prüfungen!“

„Danke. Mach’s gut!“

„Du auch!“

Er verließ den Raum und Ela sah ihm nach. Er war hübsch.

Vielleicht sieht man sich ja mal wieder, dachte sie. Dann ging sie hinüber zum Karteikartenkatalog und begann nach ihrer Monographie zu suchen.

Fee und der Schlangenkrieger

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