Читать книгу Fee und der Schlangenkrieger - Joanne Foucher - Страница 5

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Nachts in der Bibliothek

Wie Ela es vorausgesagt hatte, waren, da das Semester wieder begonnen hatte, wieder mehr Studenten im Institut. Fee sah sich genervt um. „Was ist denn hier passiert?“, fragte sie und setzte sich neben Lea, eine Nebenfächlerin, auf die Treppenstufen vor dem Institut. Lea war klein, lief immer in Schwarz gekleidet herum, trug ihr Haar schwarz gefärbt und sah aus, als ob sie am liebsten jedem den Kopf abreißen würde. Fee fand sie lustig. Sie erinnerte sie an den Schwarzen Schlumpf.

„Was meinst du?“, fragte der Schwarze Schlumpf.

Fee zündete sich eine Zigarette an.

„Die ganzen Tussis!“, antwortete sie verhalten und deutete mit dem Kinn auf drei Mädchen, die sich in der Nähe unterhielten. „Ich seh hier nur noch Blondinen mit Stilettos und Perlenketten und Achselschweißtäschchen. Und rosa. Was wollen die denn alle hier?“

Der Schwarze Schlumpf lachte.

„Das sind die ganzen Bacherlorstudentinnen. Das sind eigentlich Kunstgeschichtlerinnen.“

Richtig, dachte Fee, sie führten ja jetzt den Bachelor in Deutschland ein… das hatte sie irgendwie verpasst. Sie selber studierte Archäologie noch auf Magister, inzwischen gehörte die Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie an der Bonner Uni aber zur Kunstgeschichte, und Fee war sicher, dass diese Studentinnen hier nur Pflichtmodule absaßen. Archäologinnen sahen anders aus. Den Blick auf die Blondinen gerichtet legte sie den Kopf schief und dachte nach. Die drei da waren mittlerweile sicher auch schon in ihrem dritten, vierten Semester.

„Ich hab in den Semesterferien schnell mein Latinum gemacht“, verkündete die eine Kunstgeschichtlerin, „das war so einfach! Lächerlicher Kurs.“

„Ich hab mein Latinum damals gleich in meinem ersten Semester gemacht“, antwortete die andere und warf die Haare aus dem Gesicht, „und jetzt hab ich auch mein Graecum.“

„Und“, fragte der Schwarze Schlumpf ernsthaft, den Tonfall der Kunstgeschichtlerinnen so gut imitierend, dass nicht auffiel, dass sie sich lustig machte, „was hast du in den Semesterferien gemacht?“

„Ich hab mir die Brüste machen lassen“, erklärte Fee genauso ernsthaft. Der Schwarze Schlumpf lachte hell auf. Die drei Kunstgeschichtlerinnen starrten Fee entgeistert an und hinter sich hörte Fee jemanden stolpern.

„Kleiner!“, fügte sie hinzu und drehte sich neugierig um. Herr Maler stand in der Tür hinter ihr und sah sie böse an. Fee kümmerte sich nicht darum. „Ach Herr Maler“, sagte sie fröhlich, „zu Ihrem Seminar wollte ich! Ich hatte schon Angst, ich bin zu spät.“

„So groß kann die ja nicht gewesen sein, wenn Sie hier noch in aller Ruhe sitzen und eine Zigarette rauchen.“

„Naja“, sagte Fee entschuldigend und stand auf, „Sie kommen ja auch eben erst.“ Sie warf die Zigarette weg und stellte fest, dass der Dozent sie noch immer böse anstarrte. Fee fragte sich, ob sie ihn verärgert hatte, oder ob er einfach nur gehört hatte, was sie gesagt hatte, und nun angestrengt versuchte, nicht auf ihre Brüste zu starren.

„Sind Sie denn angemeldet?“

Er betrat das Institut und Fee beeilte sich, ihm zu folgen.

„Angemeldet?“, fragte sie verwirrt. Sie hatte sich in der Archäologie noch nie zu irgendeinem Seminar angemeldet. Man tauchte einfach in der ersten oder zweiten Sitzung auf und schrieb sich auf die Anwesenheitsliste.

„Natürlich angemeldet. Seit zwei Wochen liegen die Anmeldelisten im Sekretariat aus!“

„Oh“, machte Fee traurig, „das habe ich nicht gewusst. Darf ich trotzdem teilnehmen?“

„Wollen Sie einen Leistungsschein machen?“

„Ja.“

„Naja, sehen wir mal, ob wir Sie noch unterkriegen!“

Fee bekam ein Referatsthema für die übernächste Woche, die Cucuteni-Tripolje Kultur in Rumänien und Moldawien. Zu ihrem großen Verdruss bedeutete das, dass sie sich nun tatsächlich ernsthaft einarbeiten musste, und das neben ihrer Arbeit im Schokoladen. Sie war das überhaupt nicht mehr gewohnt, sie hatte so lange nicht mehr wissenschaftlich gearbeitet… Fee hatte noch nie von der Cucuteni-Tripolje-Kultur gehört, und nachdem sie sich die Literatur besorgt hatte, fand sie ziemlich schnell heraus, dass sie es eher mit einer äneolithischen denn mit einer wirklich bronzezeitlichen Kultur zu tun hatte, und noch dazu einer mit außergewöhnlich schöner Keramik. Wer hätte gedacht, dass es so etwas gab.

Währenddessen näherte sich Elas Klausurtermin und Ela verfiel in Panik. Sie war sich ziemlich sicher, welches Thema sie zu erwarten hatte, und hatte in den letzten Tagen ihren Text ausformuliert und immer wieder abgeschrieben, bis sie sicher war, dass sie keinen wichtigen Punkt vergessen hatte. Dann schrieb sie ihn noch einige Male mehr ab, um sicher zu gehen, dass sie in vier Stunden fertig werden würde. Nun tat ihr die Hand weh, aber Ela ignorierte das. Wichtig war, dass sie diese Klausur bestand, danach konnte sie ihretwegen ruhig Sehnenscheidentzündung bekommen, das interessierte sie im Moment nicht.

Was sie tun sollte, falls sie die Klausur nicht bestand, daran wollte sie lieber nicht denken. Im Grunde wusste Ela genau, dass solche Gedanken völlig unnötig waren. Sie war gut vorbereitet, der Duhler bewertete immer fair und in ihrem gesamten Studium war ihre schlechteste Note eine Zwei minus gewesen. Aber Ela war so in ihrem Prüfungsstress und ihrer Angst gefangen, dass sie nicht mehr rational denken konnte. Vor ihrem geistigen Auge sah sie sich schon heulend aus dem Hörsaal laufen, vorbei an Duhler, der sie gehörig auslachte und, schlimmer noch, an Tom, der fassungslos, dass er sich hatte täuschen lassen und sie tatsächlich für intelligent gehalten hatte, den Kopf schüttelte, direkt unter die Kennedybrücke, unter der sie den Rest ihres Lebens verbringen würde, falls sie nicht den Mut aufbrachte, hinaufzusteigen, über das Geländer zu klettern und sich in den Rhein zu stürzen.

Vor der nächsten Sitzung des Bronzezeitseminars saß Fee mit Raphael, einem Kommilitonen, mit dem sie vor ein paar Tagen zum ersten Mal ins Gespräch gekommen war, vor dem Institut in der Sonne. Raphael war nett, sie hatte ihn im Arbeitsraum kennengelernt, und er hielt am selben Tag wie sie, also heute in einer Woche, sein Referat. Sein Thema waren die Hajdusámsón-Schwerter und die Bezüge zur skandinavischen Bronzezeitornamentik. Fee hatte ihn um Rat gefragt, was sie mit ihrem Schokoladenverkäufer machen sollte, denn sie wusste definitiv, dass Christoph noch mit mindestens einer anderen Frau schlief. Er hatte es ihr selbst erzählt, und Fee, die das nicht überraschte, hatte gerade darüber nachgegrübelt, warum sie sich noch nicht einmal ärgerte, als sie mit Raphael ins Gespräch kam. Also hatte sie die Gelegenheit genutzt, einen Mann zu fragen, was er von der Situation hielt und ihn direkt nach seiner Meinung gefragt. Sie musste sich wohl eingestehen, dass Christoph sie einfach nicht wirklich interessierte. Raphael hatte ihr geraten, die Geschichte zu beenden, was Fee auch getan hatte. Und nun langweilte sie sich furchtbar in ihrem Leben, fragte sich, ob sie Raphael eigentlich attraktiv fand und versuchte, ohne dass er es bemerkte, herauszufinden, ob er sie wohl für promiskuitiv hielt. Sie unterhielten sich gerade darüber, wie sie über One-Night-Stands dachten, als Herr Maler zum Institut kam. Er schloss sein Fahrrad ab und blieb dann vor Fee stehen.

„Frau Maiwald.“

„Hallo, Herr Maler.“ Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Sind wir schon wieder zu spät?“ Sie erinnerte ihn absichtlich daran, dass er letzte Woche ebenfalls erst kurz vor knapp angekommen war und war überrascht zu sehen, dass tatsächlich ein Lächeln um seine Mundwinkel zuckte, bevor es erfolgreich niedergerungen wurde.

„Nein, bis jetzt noch nicht“, antwortete er, „Sie waren noch nicht in meiner Sprechstunde.“

„Wegen des Referates?“

Fee hatte nicht vorgehabt, in seine Sprechstunde zu gehen, aber offenbar legte er da Wert drauf.

„Natürlich wegen des Referates“, antwortete er und nun verzog sich sein Mund eindeutig zu einem spöttischen Lächeln, „was denken Sie denn, was ich mit Ihnen besprechen will?“

Fee hätte niemals damit gerechnet, dass dieser korrekte Mann, der ihrer Meinung nach viel zu verkniffen für sein Alter war, ihr eine Antwort geben würde, die man ohne viel Anstrengung zweideutig interpretieren konnte, und wusste nicht, wie sie reagieren sollte.

„Ja, dann komm ich diese Woche mal vorbei“, sagte sie und Herr Maler schaffte es nicht, sein selbstgefälliges Grinsen zu verstecken. Vielleicht wollte er es auch nicht. Fee erkannte, dass er es genoss, sie in Verlegenheit gebracht zu haben, und nahm sich zwei Dinge vor. Erstens: beim nächsten Wortgefecht würde der Punkt wieder an sie gehen und zweitens: Sie würde ihn zum Lachen bringen. Sie wusste noch nicht wie, aber sie würde ihn dazu bringen, fröhlich und aus vollem Halse zu lachen. Es würde ihm so peinlich sein! Sie fragte sich, ob er das überhaupt konnte. Und dachte sich, dass sie das wirklich gern sehen würde, denn eigentlich war Tom Maler wirklich verdammt gutaussehend.

Aus Gewohnheit und um sich von ihrer Panik abzulenken, ging Ela am Freitag vor ihrer Klausur zum Doktoranden- und Magistrandenkolloquium. Vor dem Institut traf sie Fee, die vor Wut kochte.

„Ich war gerade beim Maler in der Sprechstunde“, erwiderte sie auf Elas Frage. „Arroganter Penner. Der glaubt, ich hätt’ nichts anderes zu tun, als Archäologie. Dass ich arbeiten muss, ist dem völlig egal! Was ich noch alles in mein Referat mit ’rein nehmen soll, bis nächsten Mittwoch!“

„Naja“, sagte Ela, „so abwegig ist das doch nicht, davon auszugehen, dass Archäologie das wichtigste ist im Leben von jemandem, der Archäologie studiert. Und Archäologe werden will.“

„Ich will überhaupt keine Archäologin werden“, entgegnete Fee, eine steile Falte zwischen den Augenbrauen.

„Das hast du ihm aber hoffentlich nicht gesagt, oder?“

„Doch, natürlich. Glaubst du, ich lass mich von dem einschüchtern? Ich hab gesehen, wie er die arme Katalog Rosenheim fertiggemacht hat, nach ihrem Referat. Gut, ihr Referat war Müll, aber du hättest den Tonfall hören sollen, in dem er sie rundgemacht hat, das ging gar nicht. Ich dachte, die fängt gleich an zu heulen, und du weißt ja, wie Katalog Rosenheim sonst ist!“

„Nein“, sagte Ela verwirrt, „ich hab ehrlich gesagt keine Ahnung, wovon du redest. Ist das ein Mensch?“

„Ja. Katalog Rosenheim! Groß, blond und unheimlich arrogant.“

Ela hätte gern gefragt, wie dieses Mädchen richtig hieß und warum Fee sie „Katalog Rosenheim“ nannte, aber Fee sprach, ohne Pause zu machen, weiter.

„Ich hätte nie gedacht, dass überhaupt irgendwas Katalog Rosenheim zum Heulen bringt, aber der Spinner hätte das beinahe geschafft. Klar, der ist noch arroganter als sie selbst. Weißt du, was er zu mir gesagt hat? Dass er nicht verstehen kann, dass Studenten nicht 95 % ihrer Zeit auf ihr Studium verwenden! Entschuldigung, dass ich ein Leben habe!“

Fee rauschte wütend davon und Ela beeilte sich, in den Seminarraum zu kommen. Wenn Fee Tom geärgert hatte, war sie besser pünktlich, sie hatte keine Lust, seine schlechte Laune auf sich zu ziehen. Sie mochte Tom. Aber sie konnte sich gut vorstellen, dass das nicht angenehm war, wenn er jemanden herunterputzte.

Das Kolloquium dauerte nicht lange. Es gab an diesem Tag nur einen Vortrag und danach gingen die Studenten ins Zebulon, eine Kneipe an der Uni, um den Beginn des Wochenendes zu feiern. Herr Duhler und Frau Dr. Lapaine schlossen sich an, was manchmal vorkam, und auch Tom ging mit, auch wenn Ela fand, dass er aussah, als ob er lieber zurück in sein Büro gegangen wäre um weiter zu forschen. Vielleicht ließ sie sich aber auch nur von Fees Gerede beeinflussen.

Schlotte überredete sie mitzukommen.

„Ich kann wirklich nicht“, wand sich Ela, „ich hab morgen früh um 8 die Klausur! Ich muss dringend nach Hause und mir noch was ansehen.“

„Du spinnst ja“, Schlotte hängte sich Elas Tasche über die Schulter, „was du jetzt noch nicht kannst, lässt du weg. Du musst dich entspannen. Du kommst mit uns mit.“

Sie ging entschlossen den Flur hinunter zu der Gruppe Studenten, die an der Glastür warteten.

„Aber ich kann doch heute abend nicht trinken gehen, ich muss morgen früh aufstehen, ich muss um sieben Uhr elf den Bus nehmen.“

„Du sollst dich ja nicht volllaufen lassen“, Schlotte sah sie an. „Nur ein Bier!“

In dem Moment kam Herr Duhler mit Tom und Dr. Lapaine aus seinem Büro und zog die Tür hinter sich zu. Er hatte Schlottes letzten Satz gehört.

„Kommen Sie mit, Frau Thomas? Sie sollten sich entspannen heute Abend.“

Ela sah ihn unsicher an. Frau Dr. Lapaine knöpfte sich ihre Jacke zu und achtete nicht auf sie, aber Tom lächelte ihr aufmunternd zu.

„Na gut“, sagte Ela. Schlotte ging mit dem Schwarzen Schlumpf, Herrn Richter und den anderen Studenten voraus und Ela fand sich quasi allein mit Tom wieder. Sie hatte ihn seit der Muppet Show nicht gesehen und wusste nicht, worüber sie mit ihm sprechen sollte. Sie setzten sich in Bewegung.

„Heute gehst du also nicht zum Sport“, sagte sie schließlich.

„Nein, montags und mittwochs.“, antwortete er.

„Ah. Ich geh dienstags und mittwochs.“

„Aha, was machst du?“

„Naja, Fitness im Sportstudio. In der Kasernenstraße.“

„Ach, da geh ich auch hin. Dienstags zum Volleyball und Mittwochs zur Fitness.“

„Echt, ich hab dich noch nie da gesehen.“

„Stimmt.“

Sie gingen durchs Koblenzer Tor und liefen schräg über die Straße.

„Ich war die letzten paar Male sehr spät, weil ich länger in der UB war.“, sagte Ela.

Tom nickte anerkennend.

„Sag mal“, fragte Tom schließlich und Ela wunderte sich über den verschwörerischen Tonfall, „dann kennst du doch auch den Trainer da, Jan, oder?“

„Klar.“

„Der ist doch geliftet, oder?“

Ela musste lachen. Tom hatte sicherlich recht, der Fitnesstrainer sah aus, als sei er mehrmals unterm Messer gewesen. Ela hatte die Leute im Sportstudio schon öfter darüber spekulieren hören, genau wusste es aber niemand.

Sie folgten den anderen durch das Zebulon zu den Sitzecken nach hinten. Herr Duhler und Frau Lapaine hatten Stühle gefunden, Schlotte und die anderen Studenten hatten sich auf die ausgeleierten Sessel verteilt. Ela ließ sich in das tiefe Sofa fallen. Tom sah sich betreten um und nahm dann vorsichtig neben ihr Platz.

„Keine Ahnung“, nahm Ela das Gespräch wieder auf, „würde mich aber nicht überraschen. Ich find den ziemlich gestört.“

Tom schien nicht zu wissen, wohin mit seinen Beinen und Armen.

„Gestört, wieso?“

Ela begann zu erklären, und stellte fest, dass es ihr fast leichtfiel, sich mit Tom zu unterhalten. Gut, sie sprachen über ein Verlegenheitsthema, lachten über den Trainer und verglichen ihre jeweiligen Trainingsprogramme. Aber sie lachten miteinander. Tom sah toll aus, wenn er lachte. Bald jedoch musste sie aufbrechen.

„Viel Glück morgen, Frau Thomas“, wünschte Herr Duhler, und Ela fiel auf, dass Toms Vornahme ihr Nachname war. Das war schön. Was für ein Glück, dass er mit ihren Prüfungen nichts zu tun hatte. Stattdessen kam es ihr beinahe vor, als wären sie miteinander befreundet.

„Danke“, sagte sie und lächelte ihren Prüfer an. Dieser wandte sich wieder Schlotte und Frau Lapaine zu.

„Ja, viel Glück, Michaela“, wünschte Tom und fügte mit kaum merklich leiserer Stimme hinzu, „vielleicht können wir, nach deiner Klausur ja mal gemeinsam trainieren.“ Ela blieb beinahe das Herz stehen.

Als Ela am Samstagmittag die Mensa verließ, regnete es wieder. Ohne ihre Umgebung wahrzunehmen eilte sie die Nassestraße hinab und überquerte den Vorhof des Juridicums. Sie war sicher, dass sie ihre Klausur gut hinter sich gebracht hatte. Sie war sicher! Tatsächlich waren die latènezeitlichen Wagengräber drangekommen, das Thema, auf das sie sich ausführlichst vorbereitet hatte, und sie war überzeugt, dass sie nichts vergessen hatte. Ela drückte probehalber gegen die Glastür und hatte Glück: das Juridicum war nicht verschlossen und sie konnte die Abkürzung zur Adenauerallee nehmen. Das Problem war, dass sie nicht besonders viel geschlafen hatte. Sie ärgerte sich zu Tode über sich selbst, aber Toms Lächeln war ihr nicht aus dem Kopf gegangen. Sie waren halb verabredet! Sie kam sich vor, als wäre sie fünfzehn und sie schämte sich, es zuzugeben, aber sie war einfach zu aufgeregt gewesen, um einzuschlafen, und das hatte nicht an der bevorstehenden Klausur gelegen. Fee und Schlotte hatten sie nach der Klausur im Hauptgebäude abgeholt und ihr die Müdigkeit angesehen. Ela war froh gewesen, dass ihre Freundinnen dies sofort auf ihre Prüfungen schoben.

„Du solltest nach Hause gehen und dich ins Bett legen“, hatte Schlotte gesagt, aber das konnte sie sich nicht leisten. In vier Wochen hatte sie ihre mündliche Prüfungen und sie musste unbedingt heute noch in die UB und einige Artikel im Lesesaal durcharbeiten.

Ela hatte das Juridicum durchquert und stand nun auf der Adenauerallee. Auf der anderen Straßenseite lag die UB. Sie kniff die Augen gegen den Regen zusammen und vergewisserte sich, dass keine Autos kamen, bevor sie über die Straße lief. Schlotte war lustig, sie würde zu gern nach Hause gehen und schlafen, ihre Augen brannten, aber sie musste unbedingt in die UB… Ela blieb stehen. Oder? Konnte sie nicht einen einzigen Nachmittag freinehmen? Sie war so müde! Zögernd ging sie auf die Glastür der Bibliothek zu. Eigentlich hatte sie sich schon fast entschieden, nach Hause zu gehen, als sich die Tür öffnete und Tom aus der UB trat. Er spannte einen Schirm auf, dann fiel sein Blick auf Ela, die, ihre Umhängetasche an sich gepresst, im Regen stand.

„Michaela“, sagte er und trat auf sie zu, „wie ist deine Klausur gelaufen?“

„Ganz gut“, sagte Ela und hoffte, selbstbewusst zu klingen. Er stand etwa einen Meter vor ihr und Ela wusste, dass er es unhöflich gefunden hätte, wäre er ihr näher gekommen. Aber dann hätte sie unter seinem Schirm etwas Schutz vor dem Regen gehabt und das wäre ihr im Moment sehr lieb gewesen.

Tom lächelte nicht.

„Das freut mich“, sagte er und nickte, „und nun geht es gleich weiter in die ULB, hm? Die Prüfungen sind nicht mehr weit entfernt.“

Ela nickte müde.

„Sehr gut, Ela. Ich bin sicher, du wirst gute Prüfungen machen.“

Damit ließ er sie stehen und Ela trottete in die Bibliothek. Sie fühlte sich plötzlich stumpf und grau. Genau wie ihr Leben.

Währenddessen saß Fee im Arbeitsraum des Institutes in der letzten Reihe und scannte Abbildungen für ihr Referat ein. Nebenbei blätterte sie eine weitere Monographie durch, auf der Suche einer befriedigenden Chronologietabelle für die Cucuteni-Tripolje-Kultur. Schlotte hatte sich ein amüsiertes Grinsen nicht verkneifen können. „Komm, gehen wir nach Hause?“, hatte sie gefragt, als Ela in die Mensa gerauscht war.

„Ich kann nicht“, hatte Fee geantwortet, „ich muss ins Institut, ich muss mein Referat weitermachen.“

„Du meine Güte, Fee, channelst du Ela?“

Fee hatte gelacht.

„Ich muss lernen! Ich hab keine Zeit! Mein Leben ist furchtbar und ich hab keinen Freund!“

Schlotte hatte vor Lachen nach Luft schnappen müssen.

„Jepp, klingt wie Ela.“

Fee grinste.

„Nein, ernsthaft, ich hab noch einiges vor mir für dieses Referat.“

„So viel warst du im ganzen letzten Jahr nicht in der Uni.“

„Ja, wenn ich nicht aufpasse, werd ich noch Archäologin.“

„Gib’s doch zu, du willst bloß dem Maler hinterhersabbern.“

Fee war in helles Lachen ausgebrochen. Schlottes aufmerksamen Augen entging aber auch nichts. Also hatte sie bemerkt, dass Fee ihren Dozenten interessant fand. „Ja, ich kann’s selbst nicht verstehen, aber das Thema macht mir echt Spaß. Würd ich mir aber auch nicht glauben, wenn ich du wäre, dafür sieht der Maler einfach zu gut aus. Ist echt peinlich.“

Außer Fee saßen noch Raphael und Florian, ein Nebenfächler, der auch einen nicht allzu weit entfernten Referatstermin in Duhlers Mittelseminar hatte, im Arbeitsraum und lasen Aufsätze für ihre Themen.

„Dein Scanner macht ätzende Geräusche“, maulte Florian.

„Tut mir leid“, sagte Fee, „aber das ist nicht mein Scanner, der gehört dem Institut.“

„Das weiß ich. Nervt trotzdem. Dabei kann ich nicht denken.“

„Hör auf zu jammern“, sagte Raphael, „lass uns eine rauchen gehen.“

Die beiden Jungs griffen sich ihre Jacken und verließen den Arbeitsraum. Fee warf einen Blick auf die kleine Uhr am unteren Bildrand ihres Laptops. Sie rauchte zu viel. Es war viertel nach eins. Vor zwei Uhr rauchte sie keine Zigarette.

„Ach, Frau Maiwald!“ rief jemand hinter ihr und Fee drehte sich um. Herr Maler stand in der Tür und sah sie an, er trug einen schwarzen halblangen Mantel über dunkelblauen Jeans und ein Grinsen im Gesicht, das Fee selbstgefällig erschien. „Sie arbeiten. Wie schön!“

„Was haben Sie denn gedacht“, antwortete Fee genervt, „dass mir am Dienstagabend einfällt, oh, ich halte ja morgen ein Referat, und dass ich dann irgendwas aus dem Internet vortrage?“

Herrn Malers Grinsen veränderte sich um eine Nuance und Fee riss den Mund auf. Genau das hatte er gedacht!

„Sie haben gedacht, ich bin eine von denen, die vor der Stunde sagt, dass sie’s nicht geschafft hat. Oder die gar nicht erst auftaucht!“

„Liebe Frau Maiwald, Ihnen so was zu unterstellen, läge mir völlig fern!“

„Natürlich haben Sie das gedacht! Für wie verpeilt halten Sie mich denn?“

„Es ist doch das erste Mal, dass Sie in einem meiner Seminare sitzen, woher könnte ich denn einen solchen Eindruck von Ihnen haben, Frau Maiwald?“ Er kam mit ein paar Schritten auf sie zu. „Ah, Sie benutzen die Monographie von Sandulescu.“

„Natürlich“, sagte Fee und versuchte ihre Stimme arrogant klingen zu lassen, „es ist das Neueste, was über die Cucuteni-Tripolje-Kultur publiziert wurde. Hab ich mir aus der UB geliehen, schon letzte Woche.“ Der Mann traute ihr ja überhaupt nichts zu!

Herr Maler nickte beeindruckt.

„Die Abbildungen überarbeiten Sie aber noch, oder?“ Er deutete auf die letzte Karte, die Fee gescannt hatte, und die auf ihrem Bildschirm noch geöffnet war. „In der Qualität können Sie sie für eine Power Point Präsentation nicht verwenden.“

„Natürlich“, sagte Fee ätzend. Als ob ihr das nicht klar wäre. Was man sich bieten lassen musste! Arroganter Sack.

„Ihre Uhr geht übrigens vor. Sechs Minuten.“

„Das weiß ich.“ Herr Maler sah sie an und Fee verstand, dass er annahm, da sie es wusste, müsste sie es ändern. „Das hab ich absichtlich so eingestellt“, erklärte sie. „Damit ich, die Busse kriege. Wenn ich am Laptop sitze und losmuss, dann schaff ich das noch, dadurch dass meine Uhr vorgeht.“

Fee fand das vollkommen logisch. Herr Maler jedoch sah sie einen Augenblick verwirrt an und lachte dann mit einem Mal. Laut und herzlich; er sah sie an, als hätte sie etwas unglaublich Komisches gesagt, und verließ dann den Arbeitsraum.

Fee sah ihm nach.

Kurz darauf kamen Raphael und Florian von ihrer Raucherpause zurück. Sie arbeiteten weiter und der Nachmittag verging. Gegen halb vier holte sich Fee ein belegtes Brötchen vom Bäcker. Ihre Absätze hallten auf dem Flur des menschenleeren Institutes wider und Herr Maler warf die Tür seines Büros zu. Fee lächelte zufrieden.

Als sie wiederkam, holten die Jungs ihre mitgebrachten Brote heraus. Raphael, der eine Stelle als Hilfskraft hatte, und deshalb einen Schlüssel zum Sekretariat besaß, kochte eine Kanne Kaffee und gemütlich machten sie eine Pause. Draußen lief der Regen an den Fensterscheiben hinab und Fee lachte laut über eine Geschichte, die Florian erzählte. Daraufhin erschien Herr Maler in der Tür, bat sich auf die ihm eigene charmante Art Ruhe aus und donnerte die Tür zu. Fee zog eine Grimasse, Florian schüttelte den Kopf und Raphael schüttelte den Kopf.

„Spinnt der?“, donnerte er. „Darf man nicht mal mehr lachen?“

„Du hast aber auch ’ne… herzliche Lache.“, sagte Florian zu Fee.

„Ich hab ’ne laute Lache, das weiß ich“, grinste Fee und zuckte mit den Achseln. Sie genoss ihre Pause viel zu sehr, als dass sie sich jetzt darüber Gedanken machte, dass Herr Maler sie angeschnauzt hatte.

Als sie ihre Brote gegessen hatten, rauchten sie eine Zigarette aus dem Fenster und tranken ihren Kaffee aus. Dabei war Fee lieber leise, denn sie wusste, dass Herr Maler wirklich Ärger machen würde, sollte er sie dabei erwischen. Danach wandten sie sich wieder ihrer Arbeit zu und nach einigen Stunden schließlich packte Fee ihre Sachen zusammen.

„Ich kann nicht mehr“, verkündete sie, „wie lange wollt ihr noch bleiben? Es ist schon halb sieben.“

„Was, echt?“, fragte Raphael überrascht, „dann geh ich auch.“

„Ich auch“, sagte Florian.

In Herrn Malers Büro brannte kein Licht mehr, offenbar waren sie die Letzten. Raphael machte das Licht aus und schloss die Institutstür ab. Dann jedoch stellten die Drei fest, dass die Außentür verschlossen war.

„Schließ sie halt auf“, sagte Fee.

„Das kann ich nicht“, antwortete Raphael, „ich kann das Institut, die Bibliotheksräume und den Arbeitsraum aufschließen. Und das Sekretariat. Aber nicht die Außentür oder die Büros der Dozenten.“

„Heißt das, wir sind eingeschlossen? Wer hat uns denn eingeschlossen?“

„Abends schließt die Uni die Türen ab. Ich dachte aber, sie kommen erst um sieben.“

„Und jetzt?“

„Einer von uns kann doch aus dem Fenster klettern“, schlug Florian vor, „und gucken, ob im Hauptgebäude noch jemand ist, der uns rauslassen kann.“

Während Raphael zum Hauptgebäude lief, saßen Fee und Florian auf den Tischen im Arbeitsraum und baumelten mit den Beinen.

„Aber der Maler hat sich rausgeschlichen“, stellte Florian fest, „der ist ohne einen Ton zu sagen gegangen.“

„Naja“, musste Fee einräumen, „der ist ja nicht dafür verantwortlich, dass wir rechtzeitig aus dem Gebäude gehen.“

„Trotzdem ein Sack!“

Fee nickte.

Raphael erschien am Fenster und zog sich aufs Fensterbrett.

„Ich hab niemanden gefunden!“

„Was?“

Raphael zuckte mit den Achseln und wischte sich Regenwasser aus den Augen.

„Und jetzt?“

„Es müsste ja eigentlich nur einer hierbleiben“, überlegte Florian, „ wir können ja schlecht abhauen und hier das Fenster offen lassen.“

Fee lachte.

„Bevor ich hier allein die Nacht in dieser total spannenden Bibliothek verbringe, isses mir, glaub ich, egal, ob die Bücher geklaut werden. So viel fühl ich mich dem Institut wirklich nicht schuldig, tut mir leid.“

„Ich auch nicht“, sagte Florian.

„Nee, entweder wir bleiben alle oder keiner.“ Raphael verschränkte die Arme vor der Brust.

Fee sah nachdenklich aus dem Fenster. Es wurde dunkel.

„Wir könnten noch schnell zum Kiosk laufen und uns was zu essen holen.“

„Es gießt in Strömen!“ Florian sah sie genervt an.

„Wir könnten Pizza bestellen“, sagte Fee.

Hinterher waren Fee, Florian und Raphael sehr zufrieden mit der Art und Weise, wie sie die Situation gemeistert hatten. Raphael und Fee liefen zum Kiosk und kauften Bier, Chips, Zigaretten und Erdbeerbuttermilch. Florian kochte inzwischen noch eine Kanne Kaffee und die drei nutzten die Gelegenheit, noch einige Stunden an ihren Referaten weiterzuarbeiten.

„Naja, so beschissen ich’s finde, hier eingeschlossen zu sein“, Florian warf sich in seinem Stuhl zurück und streckte die Beine aus, „Zuhause hätte ich wahrscheinlich nichts mehr an meinem Referat getan. Jetzt bin ich fertig.“

Fee und Raphael nickten, ihnen ging es eben so.

Später bestellten sie tatsächlich Pizza. Raphael holte das Bier, dass er im Kühlschrank im Sekretariat kaltgestellt hatte, und den Beamer aus dem Sekretariat. Florian hatte den ersten Teil vom Herrn der Ringe auf dem Laptop und sie schoben die Tische zusammen, streckten sich aus und schoben sich ihre zusammengeknüllten Jacken unter die Köpfe. Sie hatten das Licht gelöscht und sahen sich den Film an der Wand des Arbeitsraumes an, direkt neben dem Regal, in dem die Kongressbände standen.

„Eigentlich ist das ganz cool“, sagte Florian, als Aragorn auf der Wetterspitze die Nazgul vertrieb und die drei stießen mit ihren Bierflaschen an.

Nachdem der Film vorbei war, ging Fee Zähneputzen.

„Wieso hast du eine Zahnbürste dabei?“, fragte Florian überrascht.

„Die hab ich immer dabei“, erklärte Fee, „falls ich spontan woanders übernachte.“

„Hört, hört“, Florian stieß Raphael seinen Ellenbogen in die Seite. Raphael sah Fee interessiert an. Die lachte und hob vielsagend eine Augenbraue. „Man weiß nie, ob man sie vielleicht brauchen wird.“ Sollte er sie doch für promiskuitiv halten!

„Eigentlich keine schlechte Angewohnheit.“

„Nein, solltest du dir auch angewöhnen. Sonst sitzt du mit einem Mal nachts eingeschlossen in der Uni ohne Zahnbürste da.“

Sie schliefen wenig in der Nacht. Fee rollte sich auf den Tischen zusammen, aber Florian und Raphael saßen zusammen im Fenster, rauchten eine Zigarette nach der anderen und unterhielten sich, und schließlich gesellte Fee sich wieder zu ihnen. Gegen halb vier sahen sie sich noch The Big Lebowksi an, den Fee auf der Festplatte hatte und dann ging bald die Sonne auf. In der Nacht hatte der Regen aufgehört und sie gingen zum Bäcker und kauften sich etwas zum Frühstücken.

Raphael kochte die nächste Kanne Kaffee und Florian schmiss seine leere Schachtel Kippen weg.

„Wieder so eine Nacht, in der ich viel zu viel geraucht hab, und ich war nicht mal auf ’ner Party“, sagte er und Fee lachte.

„Willst du dich schöner trinken?“, fragte Raphael und Fee sah ihn entrüstet an.

„Wie bitte?“

„Das steht da“, Raphael deutete auf den Becher und las den Werbespruch ab, „Trink dich einfach schöner.“

„Ach, das macht man mit Buttermilch!“, Florian nickte. „Aber warum versuchen das im Zebulon alle mit Bier?“

„Mit Bier kannst du dir die anderen schöner saufen, mit Buttermilch dich selbst“, Fee lachte. „Am besten bestellst du gleich beides auf einmal, dann kannst du nur gewinnen.“

Raphael und Florian stimmten in ihr Lachen ein.

„Wenn wir alle mehr Buttermilch trinken würden“, sinnierte Fee, „wäre die Welt ein schönerer Ort.“

„Vögel würden in den Zweigen singen“, nahm Raphael ihren Gedanken auf, „es wäre Frühling…“

„Rehe würden über die Hofgartenwiese hüpfen“, Fee konnte sie beinahe vor sich sehen, „in Zeitlupe…“

„Und Herr Maler würde über den Flur laufen und Blumen streuen“, schloss Florian und Fee und Raphael brachen erneut in Gelächter aus.

„Und was würde Herr Duhler tun in diesem Szenario?“, fragte Raphael, als er sich beruhigt hatte.

„Der wäre ein kleiner dicker Satyr“, antwortete Florian, „der unter dem Weinfass liegt… ich glaube ich sollte mit den Studenten und den Dozenten des Instituts den Sommernachtstraum inszenieren.“

„Ah ja“, sagte Raphael, „das versuche ich die ganze Zeit… zu vermeiden!“

Tatsächlich war Herr Maler der erste, der um 20 nach Sieben im Institut auftauchte. Fee, Raphael und Florian saßen konzentriert an ihren Laptops und taten als bemerkten sie ihn nicht. Aber weder Herr Maler noch sonst irgendjemand tat ihnen den Gefallen, zu denken, dass sie die Nacht durch studiert hatten, und wenn doch, kommentierte es niemand.

Fee und der Schlangenkrieger

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