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Zweites Kapitel

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Mein Walser. Dachboden, Auschwitz, Vietnam:

Urtexte eines Vorbilds.

Das produktive Poesieparadox oder

Die Überlegenheit der Literatur entsteht beim Lesen.

Von James Baldwins »Giovannis Zimmer«

zu Friedrich Hölderlins »Heimkunft«.

Enzensbergers »Kursbuch« und der kleinbürgerliche Großheld Xaver Zürn gehören zusammen.

1965 ist das erste Walser-Jahr. Ende 1964 hat mir Frau Gebhard, eine Bekannte des Vaters, angeboten, einmal in der Woche nachmittags in ihrer Buchhandlung auszuhelfen. In der hinteren Ladenstube packe ich Bücher für die Mitglieder von Bertelsmanns Lesering, der noch keine eigenen Filialen betreibt. Mir öffnet der Schülerjob – ich bin dreizehn, als er beginnt, und siebzehn, als er endet – die Bücherwelt. Zwar ist der Kleinbürgerhaushalt im schwäbischen Aalen, in dem ich aufwachse, nicht bücherlos, aber von der Bibel über den »Kleinen Brockhaus« bis zu den »Barrings«, einer Familiensaga über den ostpreußischen Landadel, passen alle Bände in die verglaste obere Hälfte des Wohnzimmer-Eckschranks – unten lagert, hinter einer festen Tür, das Festtagsgeschirr. Glühend gelesen habe ich bis zum Eintritt in Frau Gebhardts Reich Karl Mays »Winnetou«- und »Kara Ben Nemsi«-Bände in der »ungekürzten Volksausgabe« des Ueberreuter-Verlags, Stevensons »Schatzinsel«, die auch als Hörspiel mit Hans Clarin als Jim Hawkins großartig ist, und den »Robinson Crusoe« in der alten Ausgabe des Vaters, an der auch die Illustrationen von Walter Paget faszinieren. Seit dem zehnten Geburtstag und bis heute ein Lieblingsbuch ist »Uwe Seeler und seine goldenen Tore« von Herbert Becker, in dem als Lesezeichen das Autogrammfoto des Hamburger Mittelstürmers liegt, signiert am 26. November 1960.

Natürlich gibt es Ehrgeiz wie Verlangen nach dem, was wir Siebt- und Achtklässler richtig erwachsene Literatur nennen. Gemeint sind Romane, Kurzgeschichten und Gedichte der unmittelbaren Gegenwart. Heinrich Böll, Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt werden zu Leitfiguren, auch wenn wir die wenigen Texte, die der Deutschunterricht der gymnasialen Mittelstufe immerhin behandelt, zunächst nur annähernd verstehen. So einfach wie erheiternd zu verstehen ist Bölls Wirtschaftswunder-Satire »Es wird etwas geschehen« (1956), die es bereits ins Lesebuch geschafft hat, während der erste außerschulische Versuch mit Frischs Roman »Stiller« (1954) noch scheitert. Über den anderen Gegenwartsautoren thronen zunächst Ingeborg Bachmann und Günter Grass. Bachmanns Vierzeiler »Im Gewitter der Rosen« schreibe ich aus einem Taschenbuch ab, setze ihn mit der »Kleinen Druckerei«, dem Lieblingsbaukasten, in große Lettern, ziehe ihn feierlich ab und hänge ihn unter das »Bravo«-Poster der Rolling Stones an die Wand: Wohin wir uns wenden im Gewitter der Rosen, / ist die Nacht von Dornen erhellt, und der Donner / des Laubs, das so leise war in den Büschen, / folgt uns jetzt auf dem Fuß.

Nicht den Blechtrommler Oskar Matzerath, dem ich später begegne, sondern Joachim Mahlke, der wegen des überdimensionierten Adamsapfels bizarre, auch deshalb enorme Held der Grass-Novelle »Katz und Maus« (1961), ist die erste literarische Figur, die mich so sehr beschäftigt, dass ich nachts von ihr und deshalb vom Ertrinken träume. In der Novelle ist es Pilenz, der Ich-Erzähler, der dem aus der Wehrmacht desertierten Freund empfiehlt, sich in der knapp aus dem Wasser ragenden Funkerkabine eines abgesoffenen Minensuchers zu verstecken. Aber Pilenz ist ein falscher Freund, ein verkappter Verräter. Er hat Mahlke auf dem Gewissen. Ich habe ihn dafür gehasst.

Zum zweiten der frühen Literaturhelden wird Dürrenmatts namenloser junger Mann – ein Vierundzwanzigjähriger, fett –, der in der Erzählung »Der Tunnel« (1952) auf der Suche nach Gewissheit verstört durch den Nachmittagszug von Bern nach Zürich irrt, um samt seinen Mitreisenden alsbald dem Nichts entgegenzurasen, im Nichts zu verschwinden: ›Was sollen wir tun?‹ schrie der Zugführer noch einmal …, worauf der Vierundzwanzigjährige, ohne sein Gesicht vom Schauspiel abzuwenden, … mit einer gespenstischen Heiterkeit antwortete: ›Nichts.‹ Dürrenmatts doppeltes Nichts – unwiderstehlicher Sog, unmöglicher Widerstand – ist nicht weniger bedrohlich als das zutiefst Undurchdringliche der Danziger Bucht bei Grass. Mahlkes fatal-finaler Tauchgang zum prekären Versteck, spüre ich, hat auch sonst etwas mit dem nicht endenden Schweizer Tunnel zu tun. Dieses Etwas werde ich später für die singuläre Kraft der Literatur halten, für eine Fähigkeit, die keine der anderen Künste, keine Wissenschaft und keine Philosophie zu erreichen vermag: Lesend lässt sich erleben, wie sich Finsternis, in die man abtaucht oder hineinrast, in existentielle Helligkeit verwandelt, obwohl sie selbst finster bleibt, immer finsterer wird. In Ingeborg Bachmanns Rosengewitter wird die Nacht von Dornen erhellt. Dornen, die im Dunkeln leuchten? Auf dem Papier schon, im Lesenden auch.

Das ist und so verfährt das produktive Poesieparadox: Es privilegiert das literarische Lesen gegenüber allen anderen Rezeptionsweisen. Im Gegensatz zum Musikhören und Filmeschauen, zum Betrachten von Bildern oder zur Lektüre von Sach- und Wissenschaftsbüchern erzeugt es eine Art nach-, damit selbstschöpferischer Aktivität, ja: es fordert sie nachgerade ein. Martin Walser hat diese einzigartige Qualität besonders anschaulich mit Bezug auf Marcel Proust beschrieben: Bei Proust, so Walser, las ich, ein Leser sei, wenn er liest, ›ein Leser seiner selbst‹. Das Werk des Schriftstellers sei ›dabei lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte erschauen können‹. Robert Musils Jahrhundertroman »Der Mann ohne Eigenschaften« (1930 / 32) bringt dieses zugleich identifikatorische wie dynamisierende Lesen im 114. Kapitel des ersten Teils auf die Formel: Lassen Sie uns etwa an große Schriftsteller denken. Man kann sein Leben nach ihnen richten, aber man kann nicht Leben aus ihnen keltern. Ein fabelhaftes Bild. Die Schriftsteller, damit die Literatur: wie eine Traubenlese. Keltern muss der Leser selbst.

Mein erster Walser hat mit dem vorderhand noch vagen Gespür für literarische Singularität sehr viel zu tun. Den Großteil des kleinen Verdiensts fürs Bücherpacken investiere ich in den Kauf eigener Bücher, zudem gibt es Freiexemplare von Neuerscheinungen, für die sich weder Frau Gebhard noch Marianne Ehrhardt, die junge Buchhändlerin, interessieren oder die sie mir leihweise überlassen. Im Frühjahr ’65 erscheint als 109. Band der »edition suhrkamp« eine Sammlung von Walser-Aufsätzen unter dem Titel »Erfahrungen und Leseerfahrungen«. Drei Mark kostet der Band, abzüglich Buchhändlerrabatt: 2,40 DM, pauschal sieben Mark bekomme ich für den Nachmittag, der oft bis in den Abend hinein dauert. Natürlich habe ich noch keine Ahnung, dass die bereits renommierte Taschenbuchreihe drei Jahre zuvor, im Juni 1962, im Garten des Schlosshotels auf der Wasserburger Halbinsel, unweit von Walsers Elternhaus, aus der Taufe gehoben wurde, Walser selbst zu den Geburtshelfern zählt, zudem der Quartiermeister für Siegfried Unselds Gründertruppe ist, zu der auch Hans Magnus Enzensberger, Uwe Johnson und, als Verlagslektoren, Walter Boehlich und Karl Markus Michel gehören. Beim Blättern in meiner Neuerwerbung (es 109) bin ich unversehens selbst in Wasserburg, dieses Mal im Hochsommer 1942, als der fünfzehnjährige Oberschüler Martin Johannes Walser in einer alten Kiste auf ein Bündel zerfledderter Blätter stößt.

Der Aufsatz, in dem er das 1965 schildert, elektrisiert mich sofort: »Hölderlin auf dem Dachboden«. Der Dachboden, in meinem Ostalb-Schwäbisch wie in Walsers Schwäbisch-Alemannischem nach den Heuschobern der Bauern »Bühne« genannt, bleibt, obwohl Hunderte Male betreten, stets der magische Ort auch meines Elternhauses. Vom zweiten Stock aus nur über die steile Stiege zu erreichen, muss ich ganz oben eine schwere Luke hochstemmen und festklemmen, um dann in eine auch tagsüber düstere, nur von schwächlichen Glühbirnen beleuchtete Welt zu gelangen – die Höhle in der Höhe. So ähnlich, stelle ich mir sofort vor, muss es auch beim jungen Walser gewesen sein. Es fällt dann leicht, diesem einst fast Gleichaltrigen beim Blättern in seinem Stoß von Gedichten aus der »Cotta’schen Handbibliothek« seines Vaters über die Schultern zu schauen. Und mitzulesen, was er dreiundzwanzig Jahre zuvor seinerseits gelesen hat: Drin in den Alpen ists noch helle Nacht und die Wolke, / Freudiges dichtend, sie deckt drinnen das gähnende Tal. Seltsam gefügte Wörter, aber so anziehend geheimnisvoll wie der Dachboden, auf dem wir beide, der Autor und sein Leser, nun gemeinsam sind. Walser erzählt, er habe als Heranwachsender vom Wasserburger Dachfenster aus genau das sehen können, was Hölderlins Elegie »Heimkunft« beschreibt, besingt, beschwört: die Alpen, den Ruderer und die Segel auf dem nahen See, das glückselige Lindau und die Ebnen des Rheins. In der Rückschau vermutet er, das sei wahrscheinlich die Wirkung gewesen: das Gedicht als Baedeker, um die Landschaft am Bodensee kennenzulernen. Noch wichtiger aber – mit dem Reiseführer zurück in die Vergangenheit und irgendwohin, wo man lediglich mit Ahnungen tasten kann, und heute weiß, daß es die Zukunft war.

Auf Walsers Dachboden entdecke ich Hölderlin, von dem ich gerade den Namen weiß, zum ersten Mal. Von Walsers Dachboden aus wird das Recht proklamiert, Literatur mit Haut und Haaren einfach zu konsumieren, ohne daran zu denken, was daraus wird. So viel mehr wisse er inzwischen über den Dichter, notiert Walser, fürchte aber, daß man ihm vor lauter Achtung und Einsicht nie mehr so nahe kommt wie damals, als man ihn von morgens bis abends in jeden Atemzug hineinmünzte, rücksichtslos, wie einer, der Hunger hat, der mit den Fingern nach dem Essen greift, weil er nicht versteht, wozu das Besteck gut sein soll. »Hölderlin auf dem Dachboden« ist ein triumphales Manifest für das Unmittelbare des poetischen Erlebens. Manchmal, so endet es, wird dann aus einem Gedicht eine Lebens- und Zeitlandschaft, und wenn man es wieder liest, ist man wieder dort, wo man auf keinem anderen Weg mehr hinkommen könnte, und jetzt, beim Wiederlesen, ist man vielleicht noch mehr dort als damals, man weiß jetzt ein bißchen besser, warum einem das Gedicht damals so gut in den eigenen Kram paßte, obwohl man es damals sozusagen nicht begriff. Hölderlins Poesie: Für mich ist diese Lebens- und Zeitlandschaft für immer verbunden mit Walsers weckendem Essay und Frau Gebhards wunderbarer Buchhandlung, die es seit mehr als vier Jahrzehnten nicht mehr gibt. Von den vielen Lese-Erweckungen, die ich ihr danke, ist der Wasserburger Dachboden eine der allerersten.

Mein persönlicher Bücher-Baedeker ist die vier, fünf Jahre ältere Marianne Ehrhardt. Eines Nachmittags schiebt sie mir einen schmalen Band zu mit dem Bemerk, das sei heiße Ware. Es handelt sich um den Roman »Giovannis Zimmer« von James Baldwin, der so – noch vor Hemingway – zum ersten fremdsprachigen Autor wird, der mich begeistert – und irritiert. Ich stehe am Fenster dieses großen Hauses in Südfrankreich, während draußen die Nacht anbricht, die Nacht, die mich dem schrecklichsten Morgen meines Lebens entgegenführt: So beginnt »Giovannis Zimmer«. Für den jungen Amerikaner David, den Ich-Erzähler, wird dieses Zimmer an der Place de la Nation – weit draußen, sagt Giovanni, fast nicht mehr in Paris – zum Offenbarungs- und Bekenntnisort seines homosexuellen Begehrens: Während alles in mir nein schrie, seufzte mein wahres Ich ja. Im südfranzösischen Appartement des Anfangs blickt David am Ende des Romans auf die Liebe zu Giovanni zurück, der an diesem schrecklichsten Morgen wegen des Mordes am Inhaber einer Pariser Schwulenbar hingerichtet wird. David weiß: Er hätte diesen Mord verhindern können, hätte er Giovanni nicht feige verlassen.

Aber er weiß auch, dass sein eigenes Schwulsein Fluch und Segen zugleich ist, und dass beide, Fluch wie Segen, aufgehoben sind in der großen Gnade Gottes. David, der Amerikaner in Paris – den Topos kenne ich noch nicht –, fasziniert mich ungemein, nicht minder die Atmosphäre der aus schwäbischer Provinz sehr fernen Metropole, das Nachtleben in den Bars und Restaurants, die Szenen in Les Halles, die Taxifahrten vom Zentrum an die Place de la Nation. Natürlich faszinieren auch die Emphasen und Fährnisse der diversen Liebesgeschichten, wobei mir, so heftig wie hoffnungsfern verliebt in Ute B., die Geige spielende Arzttochter aus meiner Klasse, unverständlich bleibt, weshalb David erst den Pariser Barkeeper Giovanni und später einen namenlosen Matrosen in Nizza seiner schönen Verlobten Hella oder der blonden Sue aus Philadelphia vorzieht. Aber das pathetische Beschwören der Gnade Gottes, in der David sein Begehren geborgen weiß, ist enorm. Ich erfahre etwas Fremdes als nah, rechtens und richtig – legitimiert durch Gott selbst, an den ich kurz vor der Konfirmation noch fest glaube. »Giovannis Zimmer« ist ein Lieblingsbuch geblieben, Gott ist verlorengegangen. Heute berührt mich besonders, was ich einst überhaupt nicht bemerke: James Baldwin, der große Autor des schwarzen Amerika, lässt seine Hauptfigur zwar schwul werden, aber keineswegs schwarz sein – beides zusammen ist Mitte der 1950er Jahre, als der Roman im Amerika der McCarthy-Ära erscheint, noch entschieden zu viel. Selbst bei und für Baldwin.

Im Juli 1965, kurz vor den Sommerferien, weist Marianne auf eine Neuerscheinung hin, über die in der Branche, wie sie sagt, viel gemunkelt werde: Hans Magnus Enzensberger gäbe jetzt eine eigene Zeitschrift heraus, schlicht »Kursbuch« genannt. Das leuchtet sofort ein. Lies keine Oden, mein Sohn, lies die Fahrpläne: / sie sind genauer: Was er »Ins Lesebuch für die Oberstufe« geschrieben wissen will, kennen auch wir Siebtklässler schon. Gespannt nehme ich das Heft – blassrosa Einband, weiße Titelei im tiefschwarzen Inhaltsrahmen – mit nach Haus. Die ersten Beiträge überblättere ich. Samuel Becketts Prosa lässt mich kalt (und ist mir, konträr zu den Stücken, fremd geblieben), die folgenden Gedichte etwa von Jürgen Becker oder Tadeusz Rósewicz haben nicht die Magie von Bachmanns »Gewitter der Rosen«, und der Essay von Karl Markus Michel über »Die sprachlose Intelligenz« ist mir schlicht zu hoch. Das folgende Dossier – ein noch neues, aufregendes Wort – mit Texten von und über Jean-Paul Sartre nehme ich mir für die Ferien vor, denn diesen Dichterphilosophen will ich unbedingt lesen – Marianne hat jüngst begeistert von der Stuttgarter Aufführung seines Stücks »Geschlossene Gesellschaft« erzählt, Lore S., Fabrikantentochter und die Beste unserer Klasse, kennt bereits »Die Zeit der Reife«, den ersten Band der Romantetralogie »Die Wege der Freiheit«. Seit kurzem tragen viele von uns, auch ich, schwarze Rollkragenpullover, weil wir in unserer Kleinstadt wenigstens ein bisschen das Flair von Pariser Existentialismus verbreiten wollen.

Das zweite Dossier – »Aufzeichnungen von einem Prozess« – lese ich sofort. Warum? Wegen Walser. Sein Aufsatz heißt »Unser Auschwitz« und beschließt das erste »Kursbuch«. Mit diesem Dossier, mit diesem Aufsatz ändert sich alles. Gewiss, auch unsere Lokalzeitung, die »Schwäbische Post«, hat wiederholt über den ersten Frankfurter Auschwitzprozess berichtet, der sich im Frühsommer 1965 der Urteilsverkündung nähert. Aber die Artikel darüber stehen im politischen Teil, den ich im Grunde erst ein, zwei Jahre später zur Kenntnis nehme, als der Vietnamkrieg wirklich ins Bewusstsein dringt. Noch verharre ich im Windschatten der Welt, in dem sich Kindheit und frühe Jugend abspielen. Als Kinder haben wir während der Kubakrise vom Herbst 1962 und nach Kennedys Ermordung im November 1963 die gedrückte Stimmung der Erwachsenen durchaus wahrgenommen, ebenso die Kleinstadtangst vor dem »Dritten Weltkrieg« oder der »Atombombe«. Mehr als ein vages Gespür für etwas numinos Bedrohliches entsteht daraus nicht. Über den inzwischen zwei Jahrzehnte zurückliegenden Weltkrieg und den Nationalsozialismus wird privat wie öffentlich so gut wie nicht geredet. Meine Familie unterscheidet sich beim kommunikativen Beschweigen nicht von den meisten anderen. Auch der Auschwitzprozess ist kein Thema.

Das Prozess-Dossier beginnt mit Protokoll-Auszügen mehrerer Verhandlungstage. Sie sind wie Gedichte gesetzt, Vorarbeiten, wie es erläuternd heißt, zum Theaterstück »Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen« von Peter Weiss, das am 19. Oktober 1965 zeitparallel an fünfzehn west- und ostdeutschen Bühnen sowie von der Londoner Royal Shakespeare Company uraufgeführt wird. Die erste Passage, die mich festhält und nie wieder loslässt, steht auf der dritten Seite der »Frankfurter Auszüge« und gibt eine Aussage über die ermordete Lili Tofler wieder. Zeuge: Es war ein hübsches Mädchen / im Alter von zwanzig oder einundzwanzig Jahren / Da war irgendetwas mit einem Brief / aber ich weiß nicht ob es ein Brief war der an sie gerichtet war / oder ein Brief den sie geschrieben hatte / Das Mädchen mußte sich nackt zur Wand stellen / viele Male im Lauf der Vernehmungen / und es wurde getan als wollte man sie erschießen / man gab die Kommandos zum Schein / Sie flehte zum Schluß auf den Knien / man möge sie erschießen / So wurde sie denn schließlich erschossen / wegen dieses Papiers. Auch fünfeinhalb Jahrzehnte danach ist das Unfassbare des Augenblicks geblieben – in der Tat sind die Notate von Peter Weiss die erste wirkliche, ungefilterte Erfahrung mit dem, wofür es bald danach Begriffe gibt: Judenmord, Holocaust, später Shoa. Etwas mehr als dreißig Seiten nimmt die Protokoll-Collage im ersten »Kursbuch« ein, darunter Rechtfertigungen der Angeklagten: Ich sehe in der Strafverfolgung nur einen Racheakt. Jetzt aber, im Juni 1965, sind weder Begriffe da, noch habe ich irgendwelche Kenntnisse, um das gerade Gelesene in einen Zusammenhang zu rücken. Jetzt, im Sommer 1965, ist es Martin Walsers Essay, der mir überhaupt ermöglicht und dabei hilft, die Prozess-Passagen des Peter Weiss nicht nur dem Wortlaut nach zu verstehen, sondern sie, was schwer ist und bleibt, auch in den Alltag, ins weitere Leben hineinzunehmen. Weil das so ist, ist »Unser Auschwitz« ein elementarer Text meiner Biographie.

Wie »Hölderlin auf dem Dachboden« wenige Wochen zuvor, holt er mich aus dem Windschatten der Kleinstadt. Nur ist es dieses Mal ein Heraustreten in die entgegengesetzte Richtung – statt ins Licht der Literatur ins Dunkel des singulären Verbrechens. Wobei Walser genau hier ansetzt: bei der Unzulänglichkeit der Auschwitz-Metaphorik. Deshalb betreibt er in einem der miteinander verwobenen Teile des Aufsatzes Medienanalyse und Medienkritik. Er schaut in die Zeitungsberichte zum Prozess, sammelt einige jener schrecklichen Zitate von Zeugen wie Angeklagten, zitiert Überschriften wie Frauen lebend ins Feuer getrieben oder In Auschwitz floß der Alkohol. Er warnt davor, Täter wie Oswald Kaduk und Wilhelm Boger als Teufel und Bestien zu dämonisieren oder von dantesken Szenen, von Inferno zu reden. Warum? Weil dieses Furchtbare stets auch eine Faszination enthalte, die das Grauenhafte auf uns ausübt – und weil es unsere Distanz zu Auschwitz fördere, wüssten wir doch: mit diesen Scheußlichkeiten haben wir nichts zu tun. In einer etwas kürzeren Fassung erscheint »Unser Auschwitz« zum ersten Mal in der Frankfurter »Abendpost«, einem Boulevardblatt, auf vollen zwei Zeitungsseiten in der Wochenendausgabe vom 13. / 14. März 1965. Als hätte die Redaktion Walsers Medienkritik nicht gelesen, trägt der Artikel die Überschrift: ›Teufel von Auschwitz‹ sind eher arme Teufel.

Aus Walsers Sprachkritik geht der zweite Teil des Essays hervor: Haben wir Deutschen hier und jetzt, also 1965 und in absehbarer Zukunft, mit Auschwitz noch etwas zu tun? Oder, zugespitzt, geht mich Auschwitz überhaupt nichts an? Erste Walser-Antwort: Ich verspüre meinen Anteil an Auschwitz nicht, das ist ganz sicher. Also dort, wo das Schamgefühl sich regen, wo Gewissen sich melden müßte, bin ich nicht betroffen. Konsequenz daraus: Für uns aber wird Auschwitz keine Folgen haben. Zugleich die Gewissheit: Natürlich wird sich Auschwitz nie wiederholen. Worauf die zweite Antwort zu den Scheußlichkeiten zurückblendet: Wir haben von 33 bis 45 sozusagen in einem anderen Staat gelebt als die Angeklagten … Ganz ohne Zweifel ist auch, daß wir Deutschen von diesen Brutalitäten keine Ahnung hatten. Auch das ist ein Effekt dieses Prozesses. Wir kommen als Mitwisser nicht mehr in Frage. Entlastet Walser damit die Deutschen? In der Tat: Bildeten diese Sätze die Quintessenz des Essays, wäre es so. Sie haben allerdings eine komplett konträre Funktion. Sie nehmen rhetorisch die Advocatus-Diaboli-Position ein, um damit ein ganz anderes Paradigma herzuleiten und zu begründen. Natürlich hätte ich es vor fünfundfünfzig Jahren, als ich »Unser Auschwitz« ein erstes Mal lese, so nicht ausgedrückt.

Nimmt man jedoch das Umfeld wahr, in dem die Sätze stehen, wird ihre Bedeutung auch ohne jeden Grundkurs in Rhetorik offenkundig. Für den Mittelstufenschüler des schwäbischen Gymnasiums ergeben sich jedenfalls keine Verstehensprobleme. Der Reihe nach. Wir Deutschen, das ist, so Walser, das Kollektiv. Weder als juristisches noch moralisches Kriterium kommt Kollektivschuld für ihn in Betracht. Kollektiv-Ursache allerdings sehr wohl, darüber aber sprechen wir lieber nicht. Spricht man darüber, dann ist in diesem Kollektiv die Ursache für alles zu suchen, dann findet jeder den Anteil, den er nicht zu haben meint, genau dort: Dann ist Auschwitz eine großdeutsche Sache. Dann gehört jeder zu irgendeinem Teil zu der Ursache von Auschwitz. Dann wäre es eines jeden Sache, diesen Anteil aufzufinden. Es muß einer doch nicht in der SS gewesen sein.

Der Reihe nach weiter: die Nicht-Wiederholbarkeit von Auschwitz und die Folgenlosigkeit für uns. Unser Asoziales, heißt es, halte sich momentan zwar geheim, aber es kann mobilisiert werden: aufs Neue, also wieder, als Potentialis jederzeit. Was Walser 1965 in den Begriff des Asozialen fasst, wird der Historiker Dan Diner mehr als zwei Jahrzehnte danach differenzierter und zugleich umfassender Zivilisationsbruch nennen. Nicht-Wiederholbarkeit von Ausschwitz schließt bei Walser so präzis wie prophetisch das variierende Gegenteil ein: Der nächste Triumph des Asozialen wird sich anders ausstaffieren. Bleibt die angebliche Unschuld der Nicht- und Von-nichts-Wissenden. Wir vergessen, heißt es dazu, daß wir zumindest geduldige Zeugen waren, als sich von 1933 bis 1945 ein Schritt nach dem anderen sichtbar vor uns vollzog. Er zählt auf: Von der »Verordnung zum Schutz von Volk und Staat« (1933) bis zur »13. Verordnung zum Reichsbürgergesetz (anno 43)«. In zynischer Verve wird resümiert: Sollten wir noch ein Gefühl dafür gehabt haben, daß wir dieser Entwicklung zu geduldig zugeschaut haben, dann sagen wir uns jetzt ganz heftig: wir haben nichts gewußt.

»Unser Auschwitz« hat einen dritten Teil. Er handelt von den Opfern, ihren Leiden, ihrem Leid. Walser macht dabei einen Umweg. Noch einmal auf die oft schrille Pressesprache zum Prozess zurückkommend, hält er nüchtern fest: Nun war aber Auschwitz nicht die Hölle, sondern ein deutsches Konzentrationslager. Und die ›Häftlinge‹ waren keine Verdammten oder Halbverdammten eines christlichen Kosmos, sondern unschuldige Juden, Kommunisten und so weiter. Und die Folterer waren keine phantastischen Teufel, sondern Menschen wie du und ich. Deutsche, oder solche, die es werden wollten. Auschwitz, fasst er zusammen, sei gerade deshalb überhaupt nichts Phantastisches, sondern eine Anstalt, die der deutsche Staat mit großer Folgerichtigkeit entwickelte zur Ausbeutung und Vernichtung von Menschen … Selektion an der Rampe, Transport in die Kammern, Zyklon B, Verbrennungsöfen. Und: wer nicht ermordet wird, arbeitet bei Krupp, bei der I. G., bis er daran stirbt oder auch ermordet wird. Das ist das Betriebssystem. Lili Tofler ist Jüdin und besitzt einen Brief. Beides duldet das Betriebssystem nicht. Also wird es brutal, gemein, barbarisch, widerwärtig, böse. Aber es bleibt System.

Walser hat den Frankfurter Auschwitzprozess Ende Februar 1964 mehrere Tage lang im Gerichtssaal verfolgt. Im Tagebuchband, der die Jahre 1963 bis 1973 umfasst, hat er, der Methode von Peter Weiss nicht unähnlich, über mehrere Seiten hinweg die Aussagen von Opfern und Tätern als Gedächtnisprotokoll festgehalten. Es ist die unmittelbare Anschauung, es sind das distanzlose Sehen und Hören, die ihn beim reflektierenden Schreiben zur Überzeugung bringen, dass den Erfahrungen der Opfer etwas für jeden Außenstehenden Inkommensurables anhaftet. Töricht – und intellektuell unverantwortlich – wäre es, dieses Unermessliche zu relativieren. Deshalb kulminiert »Unser Auschwitz« in einer Satzfolge, die den Opfern genau zumisst, was deren einstiger Realität entspricht: Singularität. Wer dem Prozeß zusieht, heißt es, kann ohne weiteres feststellen, daß Auschwitz nur noch für die ›Häftlinge‹, die überlebten, etwas Wirkliches ist. Weiter: Die Situation dieser absoluten Rechtlosigkeit ist uns einfach nicht vorstellbar. Weil wir uns nicht hineindenken können in die Lage der ›Häftlinge‹, weil das Maß ihres Leidens über jeden bisherigen Begriff geht. Und schließlich als Essenz: Was Auschwitz war, wissen nur die ›Häftlinge‹. Niemand sonst.

Walsers Aufsatz hat mich, den Vierzehnjährigen, beim ersten Lesen keineswegs überfordert. Er hat mich, im Gegenteil, vor dem Bodenlosen bewahrt, in das ich angesichts der Protokoll-Collage von Peter Weiss starre. Leichter, erträglicher ist danach nichts, etwas tragbarer schon. Zum ersten Mal begegne ich, noch unbewusst, auch einer Kernqualität des Walser-Stils: der keineswegs eitlen, im Fortgang des Werks überdies wohldosiert eingesetzten Selbstbezüglichkeit. »Unser Auschwitz«: Das ist eben nicht die Usurpation von Opfer-Schicksal, keine Besitzanzeige, gar Inbesitznahme, sondern das Betonen der ganz individuellen, auch der kollektiven Teilhabe. In objektivierende Distanz gerückt, verlöre das Skandalon seine Fürchterlichkeit. Wenn Walser Possessivpronomina wählt, dann als Beglaubigungsinstanz von Dabeisein, Authentizität, Nähe. »Unsere historische Schuldigkeit« heißt ein Text, den er 1978 erstmals in der Zeitschrift »Konkret« publiziert, »Mein Schiller« nennt er 1980 den Versuch über einen scheinbar fernen Klassiker. Noch im Jahr 1965, als »Unser Auschwitz« entsteht, schreibt er für das sozialistische Jugendmagazin »elan« einen politischen Appell, in dem er direkt fragt: »Wie hältst du’s mit Vietnam?« Ich will jetzt alles von Walser lesen. Damals aber entgeht mir der »elan«-Traktat schlicht deshalb, weil derartige Postillen in Frau Gebhards schwäbischer Buchhandlung nicht geführt werden.

Bis ich im »Kursbuch« ein weiteres Mal auf Martin Walser stoße, gehen zwei Jahre ins Land. Gleich zwei Texte aber im »Kursbuch 9« vom Juni 1967: »Praktiker, Weltfremde und Vietnam« und »Auskunft über den Protest«. Der Vietnamkrieg und die Proteste dagegen sind mittlerweile auch in der schwäbischen Provinz angekommen. Fast sechzehn bin ich jetzt und arbeite in der SMV des Gymnasiums mit, 1968 bin ich Schülersprecher, gravitätisch Schulsprecher genannt. SMV: Das heißt immer noch »Schüler-Mitverwaltung«, obwohl wir dafür eintreten, sowohl beim Direktor des Gymnasiums, dem jovial-statuarischen Lateinlehrer Dr. Säzler, als auch im Stuttgarter Kultusministerium – es heißt ganz offiziell: Kultministerium –, zur »Schüler-Mitverantwortung« aufgewertet zu werden. Die Proteste gegen den Krieg erreichen uns indirekt. In der »Schwäbischen Post« lese ich Berichte über die Demonstrationen in den Großstädten, sogar im siebzig Kilometer entfernten Stuttgart gibt es welche. Die »Tagesschau« zeigt Szenen, bei denen Ho, Ho, Ho Tschi Minh skandiert wird.

In der großen Pause diskutieren wir über Martin Luther King, im Unterricht – ja: im Unterricht – über die amerikanische Politik. »Gemeinschaftskunde« heißt das Fach, das der Studienrat Dr. Wolfgang Hegele, ein Jahr jünger als Walser, trotz (oder gerade wegen) seiner Zugehörigkeit zur CDU im radikalliberalen Geist eines Ralf Dahrendorf unterrichtet – Hegele, der später ein vielbeachtetes Buch über den »Literaturunterricht in Deutschland« schreiben wird, ist ein Vorbild an intellektueller Offenheit, streitbarer Toleranz und deshalb der Held (nicht nur) meiner Gymnasialzeit. Vieles an Hegele erinnert an Martin Walsers Sillenbucher Studienrat Helmut Halm, die Hauptfigur im »Fliehenden Pferd« (1978) und in der »Brandung« (1985), allerdings ist der grundenergische, dabei konziliante Hegele (bis heute) von Halms zaudernden Selbstzweifeln ziemlich frei, eine Differenz, die keinem der beiden schadet. Für Sie immer noch Herr Doktor, sagt Hegele, als ich ihn in einer Lehrerkonferenz störe. Dafür hat die Revolution jetzt keine Zeit, erhält er zur Antwort.

Jenseits des Gymnasiums macht der Protestsong Epoche, seine Protagonisten sind unsere Idole: neben Bob Dylan, Joan Baez, Pete Seeger auch die Folkgruppe »Peter, Paul and Mary«, deren Versionen von Seegers »If I Had a Hammer« und Dylans »Blowin’ in the Wind« die Popularität der Originale übertreffen. Das Porträt-Poster von Che Guevara findet sich in schwäbischen Jugendzimmern, jetzt Buden genannt, die »Ostermärsche für Frieden und Abrüstung« bleiben weitgehend in der Kontrolle des Quasi-Establishments von SPD und DGB, während die APO, die Außerparlamentarische Opposition, in Rudi Dutschke ihr Charisma und damit unser staunendes Bewundern findet. Gleichwohl sind wir, die Ende der 1940er, Anfang der 1950er Jahre Geborenen, auf merkwürdige Weise eine Teil-Generation im Windschatten. Als wir Mitte der 1960er wirklich zu lesen beginnen, sind die meisten großen Romane, Theaterstücke und Gedichtbände der Nachkriegsliteratur längst erschienen. Paul Celans »Mohn und Gedächtnis« (1952), Bachmanns »Die Gestundete Zeit« (1953), Bölls »Und sagte kein einziges Wort« (1953), Koeppens Trilogie »Tauben im Gras«, »Das Treibhaus« und der »Der Tod in Rom« (1951 bis 1954), Frischs »Stiller« (1954), Dürrenmatts »Der Besuch der alten Dame« (1956), Walsers »Ehen in Philippsburg« (1957), Enzensbergers »verteidigung der wölfe« (1957), schließlich »Die Blechtrommel« (1959), selbst noch Christa Wolfs »Der geteilte Himmel« (1962): Diese Bücher sind fast schon Gegenwartsklassiker, als sie uns und wir sie erreichen und entdecken.

Ähnliches gilt für das Politische. Als wir zu Anfang der 1970er Jahre an die Universitäten kommen, hat sich der SDS schon wieder aufgelöst. Die Kaufhaus-Brandstiftungen, die erste RAF: All dies haben wir, meinesgleichen und ich, noch aus der beengenden wie schützenden Distanz des Gymnasiums und des Elternhauses heraus erlebt. Der Publizist Reinhard Mohr hat diese Erfahrung im Titel eines Essays sehr gut erfasst: Wir sind »Zaungäste«, wir sind »Die Generation, die nach der Revolte kam«. Alles in allem: eine merkwürdige, aber keineswegs schlechte Position. Sie hat nicht wenige von uns vor gefährlichen Radikalisierungen bewahrt.

Das intellektuelle Zentrum der Zeit ist ohne Zweifel Enzensbergers frühes »Kursbuch«. Im sechsten Heft (Juli 1966) fragt der (im Frühjahr 2021 mit fast 102 Jahren gestorbene) amerikanische Beat-Poet Lawrence Ferlinghetti: »Where is Vietnam?«, ein Dossier informiert über die »amerikanische Opposition gegen den Krieg«, Enzensberger selbst und Peter Weiss streiten über den richtigen Weg zu Protest, Revolte und Revolution. Im siebten Heft (September 1966) lässt Heinrich Böll seinem »Brief an einen jungen Katholiken« von 1958 nun programmatisch den »Brief an einen jungen Nicht-Katholiken« folgen und adressiert ihn an den weiland vierundzwanzigjährigen Günter Wallraff, der gerade mit den ersten seiner Industriereportagen für Furore sorgt: »Wir brauchen dich. Als Arbeiter in deutschen Industriebetrieben«. »Kursbuch 8« (März 1967) zeigt Enzensberger als fernhintreffenden Herausgeber und Blattmacher: Er springt aus den tagesaktuellen Debatten heraus und setzt eine ganz andere Aktualität auf die Agenda: »Neue Mathematik, Grundlagenforschung, Theorie der Automaten« bietet Beiträge des Logikers Bertrand Russell, des Philosophen Ludwig Wittgenstein, des Enigma-Dechiffrierers Alan Turing und des Anthropologen Claude Lévi-Strauss – es dürfte das allererste Mal sein, dass in einer deutschen Zeitschrift von »Künstlicher Intelligenz« und machine learning die Rede ist. Das mythisch-berüchtigte »Kursbuch 15« (November 1968), angeblich den Tod der Literatur propagierend, dabei randvoll mit neuen Gedichten und Erzählungen, lassen wir für den Moment beiseite.

Martin Walser ist seit »Hölderlin auf dem Dachboden« und »Unser Auschwitz« mein großes Vorbild. Die beiden Vietnam-Texte im neunten Kursbuch haben auf mich allerdings nicht die Wirkung der früheren Essays. Das hat nichts mit ihrer Haltung zu tun – der Vietnamkrieg ist schrecklich, Walsers Sätze (etwa: Ein Verbrechen ein Verbrechen zu nennen, kann nicht sinnlos sein) bestärken Aversion wie Abscheu. Allerdings hat sich Walsers ungemein klare, auch eminent suggestive Sprache, das ist sofort bemerkbar, nun fast völlig dem Kämpferischen übereignet. Die Rhetorik ist etwas schrill, wenn sie etwa den Widerwillen gegen das amerikanische Führungstrio McNamara-Johnson-Rusk bekundet. Das ist nicht der Walser-Ton, den ich bewundere. Zudem gehen mir die Attacken gegen die SPD und ihre Vorweg-Anpassung an Washington gegen den Strich. Willy Brandts Name fällt in beiden »Kursbuch«-Texten nicht, aber es ist offenkundig, dass Walsers Polemik implizit gerade ihm gilt. Willy Brandt indes ist für mich der Hoffnungspolitiker schlechthin, der von Walser ersatzweise attackierte Es-Pe-De-Trommler Günter Grass deshalb der überzeugendere Gewährsmann. Wegen Herbert Wehners enormer Parlamentsreden, in erster Linie wegen Brandts Aura trete ich der SPD, sprich: den Jusos, bei.

Gleichwohl spielt Walser beim einzigen großen Konflikt, den ich mit meinem Vater habe, eine jedenfalls indirekte Rolle. Am Ende von »Praktiker, Weltfremde und Vietnam« proklamiert er ein Büro für Vietnam. Er will, das imponiert sehr, nicht nur schreiben und reden, sondern Konkretes tun, also handeln. Heruntergebrochen auf die Kleinstadtwelt heißt das: Im Frühjahr 1968 organisiert die SMV des Gymnasiums einen Vietnam-Abend im Evangelischen Gemeindehaus. Im Bericht darüber bezeichnet die »Schwäbische Post« den Schulsprecher, also mich, als treibende Kraft. Was nicht falsch ist. Mein Vater, Jahrgang 1899 – also annähernd so alt wie Walsers Mutter Augusta, die 1967 stirbt –, ist vollkommen entsetzt. Ich habe ihm nichts von der Veranstaltung erzählt, geschweige denn sein Einverständnis eingeholt. Am Mittagstisch in der Küche stellt er mich zur Rede. Dabei geht es rasch auch um den Eintritt in die SPD. Man soll überhaupt in keine Partei gehen, und schon gar nicht zu den Sozis, sagt er. Und du warst nie in einer?, frage ich. Nein, sagt er. Achtzehn Jahre später, ein paar Wochen nach seinem Tod, finde ich die Mitgliedskarte der NSDAP – im Schrank auf dem Dachboden.

Martin Walser ist die große Ausnahme meines Leselebens. Als einzigem unter den zeitgenössischen Autoren begegne ich ihm zunächst und emphatisch in seinen Essays, danach erst in den Romanen und Erzählungen. Der erste Roman, den ich lese, ist »Das Einhorn« von 1966. Bis zu Walsers siebzigstem Geburtstag sind meine literarischen Lieblingsbücher in aufsteigender Reihe: »Ein fliehendes Pferd« (1978), »Brandung« (1985) und »Ohne einander« (1993), ganz eindeutig ganz oben aber »Seelenarbeit« von 1979, das große Heldenepos des größten unter allen Kleinbürgern, des Chauffeurs Xaver Zürn, der beinahe einmal deutscher Meister im Kleinkaliberschießen geworden ist und sich auch wegen all seiner finalen Niederlagen als Walsers vortrefflichster Fast-Romantiker erweist. Im Epilog des Buchs wird er uns noch einmal begegnen.

Martin Walser

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