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Atmen, Schreiben und ein bisschen Statistik

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Immer da, immer geblieben, ist Walser auch schon immer weiter. Es gibt, seine Autorschaft betreffend, eine Art Magie des Quantitativen. Andreas Meiers Werkverzeichnis endet am 24. März 2009, Walsers zweiundachtzigstem Geburtstag. Bis dahin bibliographiert er zwanzig Romane, fünf eigenständig publizierte und neun Sammelbände mit Erzählungen, Kurzprosa und Novellen, zwölf unveröffentlichte, mit Walsers gesamtem Vorlass im Marbacher Literaturarchiv befindliche Kurzgeschichten, sechzehn Dramen, vier Stücke-Sammlungen und dreiundzwanzig Sammel- wie Einzelbände mit Reden, Aufsätzen und Essays. Genannt sind damit lediglich die zentralen Genres. Auf gut vierhundert Seiten verzeichnet Meier überdies Hörspiele, Gedichte, Interviews, wissenschaftliche Beiträge, Reiseberichte, Übersetzungen, Arbeiten für Hörfunk und Fernsehen aus damals sechzig Schriftstellerjahren. 1997, zum siebzigsten Geburtstag, ist die zwölfbändige Werkausgabe des Heidelberger Germanisten Helmuth Kiesel erschienen, die dreizehn Romane enthält. Bis zu Meiers Register sind also sieben Romane hinzugekommen, natürlich haben auch alle anderen Gattungen Zuwachs erfahren. 2017, zum neunzigsten Geburtstag, veröffentlicht Walsers Freund Heribert Tenschert die »Gesamtausgabe letzter Hand« in fünfundzwanzig Bänden. Sie umfasst einen Band und fünfhundert Seiten mehr als die jüngste Grass-Edition von 2020 und enthält alles, was Martin Walser in der Überschau seines Werks aus 65 Jahren gedruckt sehen möchte. Jetzt sind es vierundzwanzig Romane geworden, sonstige Erweiterungen beiseitegelassen. Aber auch die letzte Hand hat den Autor keineswegs gehindert, weiterhin Neues zu publizieren, weshalb sich sagen lässt, er habe den durchaus sportlichen Ehrgeiz, alle Gesamtausgaben und Werkregister durch schieres Weitermachen und Hinzufügen wieder und wieder zu übertreffen.

Immer da, immer dageblieben, immer schon weiter gewesen: So hat er geschrieben und geschrieben und geschrieben. Und so ist die Metapher vom Volkswagen der deutschen Literatur entstanden: als stupende Unermüdlichkeitsmarke. Seine Laufbahn kennt zwei große Skandale und viele Kontroversen. Was ihn nie anficht, ist eine nennenswerte Schreibkrise. Im Band »Spätdienst« von 2018 findet sich, undatiert und titellos, der Sechszeiler: Jeder produziert so viele Autos, Bücher, Hemden, / Herde, wie er kann, damit alle anderen / aufhören müssen, Autos, Bücher, Hemden, Herde / zu produzieren. Aber alle anderen produzieren / auch Autos, Bücher, Hemden, Herde / auf Teufel komm raus. Die lakonisch polemisierenden Zeilen des Gedichts konstatieren den bewussten Verdrängungs-, ja Vernichtungswettbewerb durch Massenproduktion. Bücher, damit das eigene Gewerbe, bezieht Walser explizit ein, die metaökonomische Aura der hehren Ware Buch interessiert ihn für den Moment nicht. Kann sein, dass die lyrische Attacke auf marktmächtige Konzernverlage wie Bertelsmann / Random House zielt oder auf Holtzbrinck, zu dessen Bücher- und Medienreich auch der Rowohlt Verlag zählt, der Walsers Texte seit 2004 verlegt. Rein quantitativ betrachtet, ist er als Autor allerdings selbst ein Massenproduzent, ein Hersteller enormer Textmengen. Als Leuchtturm-Figur steht er in Dauerkonkurrenz nicht nur mit den anderen Mitgliedern von Blackbourns Exzellenz-Quartett, sondern auch mit dem gesamten Autoren-Ensemble der zeitgenössischen Literatur, das mit ihm auf den Buchmarkt und dort auf die Bestsellerliste drängt.

Exemplarisch lässt sich das im Tagebuch von 1966 miterleben. Im Spätsommer des Jahres erscheint »Das Einhorn«, der dritte Roman, der zweite mit der Hauptfigur Anselm Kristlein. Woche für Woche notiert der Diarist jetzt hartnäckig die Platzierung auf der Bestsellerliste. 12.9.1966: Seit heute mit dem Roman auf der Sellerliste im ›Spiegel‹. Das haben sie (gemeint: die Kritiker) nicht verhindern können. Platz 10, na ja. Von unterwegs am 19.9.1966: Lesung in Luzern. Immer noch Platz 10. Jetzt in München: 26. bis 29.9.1966 … Rede zur Eröffnung der Vietnam-Ausstellung … Von 10 auf 6 vorgeschoben. Wieder mal zu Hause: 3.10.1966: Jetzt auf Platz 1. Vom 3. Oktober bis 5. November eine neue Lesereise, dieses Mal durch sechsundzwanzig Städte. Unterwegs am 10.10.1966: Immer noch Platz 1. Aber Böll kommt näher. Es geht um Bölls Erzählung »Ende einer Dienstfahrt«, eine Satire auf die Bundeswehr. 17.10.1966: Platz 2, Böll hat überholt. Unterwegs gibt es Fingerübungen für eine Paraphrase zu Becketts »Endspiel«, dann 24.10.1966: Platz 2, hinter Böll. Keinerlei Tagebuchnotizen bis 14.11.1966: Hinter Böll. Zu Hause Notate zu AK III, dem nächsten Kristlein-Roman. 21.11.1966: Jetzt Platz 3. Nächste Lesereise, dieses Mal durch sechs Städte. 28.11.1966: Wieder auf Platz 2. Weitere Ideen für den dritten Kristlein bis zum 5.12.1966: Wieder auf Platz 2. In Frankfurt am Main Teilnahme an einer Diskussion, dann 12.12.1966: Zurückgeschoben auf Platz 4. Danach verliert er die Lust – oder »Das Einhorn« fällt aus der Liste. Gleich zu Beginn des folgenden Jahres, am 2. Januar, der Einfall zu einer neuen Geschichte, die kurz skizziert wird, aber unausgeführt bleibt: Beschäftigung mit der Ichkrankheit.

Konkurrenzneid und Konkurrenzangst gehören zum Alltag des Literaturbetriebs. Auch Günter Grass leidet darunter. Er hat schon früh, im Jahr 1959, den bis heute bedeutendsten wie berühmtesten Roman der deutschen Literatur seit 1945 vorgelegt: »Die Blechtrommel«. Das ist fortan auch eine Last. Buchsaison für Buchsaison könnte ja von fremder Hand ein neues Werk erscheinen, das den eigenen Welterfolg einholt, gar übertrifft. Walsers Biograph Jörg Magenau, der zwischen Emphatie und Distanz fast immer das rechte Maß findet, erzählt dazu mit Blick auf den Band »Begegnungen mit Zeitgenossen« des 2015 gestorbenen Kritikers Hellmuth Karasek eine kleine Anekdote. Kaum ist Walsers »Einhorn« erschienen, fragt Grass: Und? Wie ist er? Als Karasek eher zurückhaltend reagiert, bringt Grass den aufblitzenden Triumph in seiner Miene nur mühsam unter Kontrolle, ehe er scheinmitleidig erklärt: Wenn ich Sie recht verstehe, kein ganz großer Wurf. Grass wie Walser haben sehr, sehr viel geschrieben, Enzensberger ein wenig weniger, er verfasst ja auch keine oder kaum Romane. Das Schmähetikett vom Vielschreiber verbietet sich bei allen jedoch wie der Spießer im Zusammenhang mit der kleinen Bourgeoisie in der deutschen Literatur. Schließlich ist Schreiben der Beruf. Auch die Vorgänger sind Viel- und Vieles-Schreibende, emphatische Prosaautoren des neunzehnten Jahrhunderts wie Fontane, Gustav Freytag oder Wilhelm Raabe ebenso wie jene von der Jahrhundertwende bis 1945: Hermann Hesse, Alfred Döblin oder Stefan Zweig, nicht zuletzt Heinrich wie Thomas Mann. Von Letzterem stammt das längst zum Klischee gegen die Vielschreiberei geronnene Aperçu, Schriftsteller sei, wem das Schreiben schwerfalle. Tatsächlich lautet der Satz: Für einen, dessen bürgerlicher Beruf das Schreiben ist, kam er jämmerlich langsam von der Stelle, und wer ihn sah, musste zu der Anschauung gelangen, dass ein Schriftsteller ein Mann ist, dem das Schreiben schwerer fällt als allen anderen Leuten.

Der Satz ist freilich gemünzt auf die Karikatur eines Autors, auf Detlev Spinell, die Hauptfigur der Novelle »Tristan« von 1903, dessen einzige Publikation ein schmaler Roman ist, gedruckt auf einer Art von Kaffeesiebpapier mit Buchstaben, von denen jeder aussah wie eine gotische Kathedrale. In einem Brief von 1946 hat sich Thomas Mann zum Spinell-Gen in jedem Autor geäußert und für sich in Anspruch genommen: Das Schreiben wurde mir immer schwerer als anderen, alle Leichtigkeit ist da Schein. Selbst wenn man von den hohen Seelen-Kosten, die jedes leere Blatt von ihm fordert, einen Teilbetrag an Eigenstilisierung subtrahiert, ist die Bilanz keineswegs, Vielschreiben sei Frevel und Wenigschreiben das Ziel. »Die Große kommentierte Frankfurter Ausgabe (GKFA)« seiner Werke und Briefe, die seit 2001 in Arbeit ist, soll bei Editionsende 38 Bände umfassen, neunzehn sind, Stand Frühherbst 2021, erschienen. Martin Walser hat die meisten der bis dato sechsundzwanzig Romane, die Ulrich Greiner in der »Zeit« (15.11.18) gefühlt wie 50 oder 60 erschienen, über Jahre hinweg geplant und in den Tagebüchern skizzenhaft erprobt, die in vielerlei Hinsicht solitäre Prosa »Ein springender Brunnen« (Kapitel sechs) gar jahrzehntelang. Nicht schreiben kann er nicht. Aber: So leicht, wie ich könnte, will ich nicht, heißt es im frühen Tagebuch. Es entstünde eine umfangreiche Anthologie, sammelte man alle Autor- und Figurensätze zum und übers Schreiben. Die frühen Romane betreffend, ist das bereits geschehen. In der Summe jedoch ergibt sich eine so einfache wie emphatische Formel: Schreiben ist Atmen, also wird erst der Tod das Schreiben enden. Auf die Formel führt das undatierte Gelegenheitsgedicht »Beim Schreiben« zu: Schwarze Stirnen stehen / vor dem Fenster, neigen / sich und schauen mir / mit Gesichtern schwarz ge- / neigt beim Schreiben zu. / Nur bei Punkten können / sie sich nicht beherrschen. / Mach ich einen Punkt / lächeln sie.

Bei den Schwarzen Stirnen und den Gesichtern schwarz ge- / neigt handelt es um Anspielungen auf das Schleppen und Zustellen von Kohlen und Briketts, die zu Walsers Pflichten während der Wasserburger Kindheit und Jugend gehören. Im Sommer 1965 haben die neugierig durchs Schreibfenster Schauenden allerdings keinen Anlass zu lächeln. Denn Walser macht schlicht keinen Punkt, was lebensbedrohlich wird. Damals, berichtet Magenau, ist »Das Einhorn« an einer Stelle angelangt, an der Anselm Kristlein, die Hauptfigur, im Zelt am Strand auf die Traumfrau Orli wartet, die aus dem Wasser des Bodensees steigt, im nichts als knappen Bikini auf ihn zukommt und ihr Haar löst: Urbild des Weiblichen, göttliches Wasserwesen, Urerlebnis des Begehrens. Die Szene kommt uns bekannt vor. 1962, zwei Jahre, bevor Walser »Das Einhorn« zu schreiben beginnt, kommt »James Bond – 007 jagt Dr. No« in die Kinos, die erste, noch recht nah an Ian Flemings Roman »James Bond – Doctor No« (1958) angelehnte Adaption in der Regie von Terrence Young. »Dr. No« entwirft eine Reihe szenischer Muster und Urbilder, die in den weiteren Bonds variiert wiedererscheinen: zuvorderst den Auftritt des Bond-Girls. Mag die betörend schöne, völlig unemanzipierte, auf männlichen Schutz angewiesene Agentengespielin heutigen Korrektheitsstandards nicht mehr entsprechen: Das Auftauchen des ersten, von Ursula Andress gespielten Bond-Girls Honey Ryder ist ein mythischer Moment – im weißen Bikini, am weißen Gürtel ein schwarzes Messer, in jeder Hand eine kostbare Muschel, entsteigt sie den Wellen am jamaikanischen Paradiesstrand.

Walser scheut Gewöhnlichkeitswonnen nicht. In den Romanen und Erzählungen wird nicht nur Klavier gespielt, über Erbrechtsfragen philosophiert und das alte Rom adoriert, in den Essays nicht nur über Nietzsche nachgedacht, der Maler Werner Tübke bestaunt und theologienahe Karl-Barth-Exegese betrieben, überall wird auch Ski gefahren, Tennis gespielt, gesegelt, geschwommen oder kalifornische Leichtigkeit erprobt. Das umfassende Verworten der Welt: Darum geht es in Walsers OEuvre. Ganz Spiegel der Epoche zwischen 1950 und 2020, überschreitet es spielend und spielerisch die Grenze zwischen dem Erhabenen und der Trivialität, dem Klassischen, dem Populären und dem Kitsch, Letzterer fast immer durch Ironie gezähmt. Lediglich die Formen und Figuren der populären Musik sind Walser etwas fremd. Ganz selten Jazz (etwa am Ende der »Ehen in Philippsburg«), nahezu Fehlanzeige bei Bob Dylan: In der »Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung« vom 25. Mai 2001 beschuldigt man ihn, ein früheres Zitat von Günter Amendt kolportierend, er habe Dylan einen herumzigeunernden Israeliten genannt – es stimmt nicht. Fehlanzeige jedoch bei den Rolling Stones oder Jimi Hendrix, Metallica oder Kraftwerk. Vom IT-Kontinent kennt er einige Landmarken, besitzt Laptop und iPhone, arbeitet mit digitaler Spracherkennung und lässt seine Figuren in späteren Romanen E-Mails und Textnachrichten verschicken. Eine Webseite hat er nicht, im Gegensatz zu Handkeonline wird auch keine für ihn gepflegt. Aber das Kino. Ein Paradies und zugleich der beste Ort, um selber unsichtbar zu werden: Alfred Dorn, die Hauptfigur des Romans »Die Verteidigung der Kindheit« (1991), entzieht sich dem Alltag, indem er in Westberlins Filmhöhlen abtaucht. Warum also nicht eine Bond-Szene in einem Walser-Roman?

Erprobt wird dabei das atemlose Schreiben. Im »Einhorn« ist Orlis Erscheinen vor Kristlein eine einzige, über drei Buchseiten hinweg lediglich von Kommas und einigen Strichpunkten gegliederte Satzsuada. Gewiss eine Verbeugung vor Molly Blooms über siebzig Seiten zugleich gedehntes wie verdichtetes Selbstgespräch, dem ominösen inneren Monolog am Schluss des »Ulysses« von James Joyce. Mit dem Unterschied, dass Anselm Kristlein als Ich- wie Er-Erzähler nicht für sich und in sich hineinspricht, sondern den Außenadressaten, den lieben Verwandten und Bekannten, das ungeheure, ihn überwältigende Geschehen nahebringen, begreiflich machen will. Kurz nach dem Erscheinen des »Einhorns« – und ganz zweifellos, ohne das Buch zu kennen – hat Walsers Jahrgangsgenosse Gabriel García Márquez am kolumbianischen Ende der Welt mit der Arbeit am Diktatorenroman »Der Herbst des Patriarchen« begonnen, der auf Deutsch dann 1978 erschien. Auch hier ein Experiment mit dem Endlos-Satz, nun ins überbordend Phantastische gesteigert.

Bei Walser: Campingplatz am Bodensee, Auftritt Orli. Das Wort Bikini kommt nicht vor, dessen Details, die Träger des Ober- und die Schlaufe des Unterteils, allerdings manifest: blaßrot-lodernde Banderolen. Wir hören zu: Anselm, seht ihr, sieht die zwei blaßrot-lodernden Banderolen naß kleben, naß und aus Hemdenstoff, naß auf der walnußbraunen Haut, sieht sie, vor Nässe durchsichtig, vor Nässe die Haut selbst, und vom oberen Rand der unteren Banderole zielt er mit der sich verjüngenden Haarspur auf den Nabel hin, schaut doch, liebe Leute …, die rotnaß mit Hemdenstoff beklebten Brüste, die aufgingen mit den steigenden Armen, beiße hinein, wer’s vermag, in die zu Wörtern gewordenen Größen eines Mädchens, das erschien um 11 Uhr 59, das nicht aufhörte, die Hände zu heben, bis die den Zenit und ihren Nacken erreichten, dann lösten sich dort Haare, dann stürzte der Kopf mit allen Haaren vorwärts, ein schwarzer Vorfall. Das schreibt er am 25. August 1965, wobei das Zitierte nur ein kleiner Teil der Passage ist. Seine Methode, im Text vorwärtszukommen, ist so obsessiv wie fatal: Walser hatte die Angewohnheit, so Magenau, beim Schreiben bis zum Ende des Satzes den Atem anzuhalten. Unmöglich bei einem Text, der über drei Buchseiten geht. Der Autor verausgabt sich bei dieser Szene derart, dass der Kreislauf kollabiert. Drei Monate verbringt er in Kliniken und Sanatorien. Als Konsequenz bilanziert der Biograph, übte er sich darin, kürzere Sätze zu bilden, aus Angst, es könnte ihm wieder die Luft ausgehen. Daran hält er sich fortan, mehr oder weniger.

1998, er ist einundsiebzig, veröffentlicht er den Roman über seine Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus: »Ein springender Brunnen«. Die Kritiker merken sofort, dass hier etwas Neues geschieht. Walsers Romane enthielten nie die Geschichte ihres Autors, sondern immer die kollektive Autobiographie seiner Leser. In diesem Buch, vor dem Walser lange gezögert zu haben scheint, ist alles anders, notiert Lothar Müller, der den »Springenden Brunnen« in der F.A.Z. als neuen Fortsetzungsroman vorstellt (12.6.98). Müllers Kollege Thomas Steinfeld urteilt drei Monate danach (F.A.Z. vom 26.9.) über das inzwischen auf Bestsellerhöhen gelangte Werk: Je weiter man in der Lektüre des Buches kommt, desto mehr sortiert sich das Werk dieses Autors: Auf der einen Seite liegen alle anderen Romane, Novellen, Erzählungen und Dramen Martin Walsers, auf der anderen liegt dieses Buch. Auf der einen Seite finden sich die literarischen Konstruktionen, Allegorien, Kombinationen von erdachten Figuren. Auf der anderen trifft man auf die Kindheit und Jugend des Johann, der erkennbar die Züge Martin Walsers trägt. Heute, fast ein Vierteljahrhundert danach, wissen wir, dass das rein autobiographische Erzählen ebenso Ausnahme bleibt wie die Jahre zwischen 1933 und 1945 als erzählte Zeit eines Walser-Werks.

Es gibt im Grunde also nur zwei Phasen und einen Solitär im genuin literarischen OEuvre: Die vier Jahrzehnte vom Erzähldebüt »Kleine Verwirrung« bis zum Wiesbaden-Roman »Finks Krieg« (1996), dann den »Springenden Brunnen« selbst und seither, beginnend mit »Der Lebenslauf der Liebe« (2001), elf weitere Romane, die sich, die Erzählstoffe betreffend, naturgemäß von den früheren unterscheiden, erzähltechnisch wie bei der erzählten Zeit – jeweils die unmittelbare Gegenwart der Hauptfigur – aber kaum. »Der springende Brunnen«, der fünfzehnte Roman, ist und bleibt die Werk-Ausnahme. Da Walser auch andere Genres fortführt, neue Theaterstücke schreibt, neue Essays, Reden und kurze Prosa, da überdies die Schreibfrequenz, damit das jährliche Schreibquantum eher zu- als abnimmt, lautet der gar nicht so ungefähre statistische Befund: Gut ein Drittel der etwa 14 000 Seiten des Gesamtwerks ist seit dem siebzigsten Geburtstag am 24. März 1997 entstanden. Von »Spätwerk« oder »Alterswerk« zu sprechen, verbietet sich. Dazu ist Walsers Schreiben zu vital, sind dessen Themen zu gegenwärtig. Als Beginn eines Spätwerks im traditionellen Sinn kann allenfalls der Roman »Ein sterbender Mann« von 2016 gelten, da ist der Autor neunundachtzig. Am Tag des siebzigsten Geburtstags aber, am 24. März 1997, steht Walser auf dem Höhepunkt der öffentlichen Anerkennung als Dichter des neuen Deutschlands. Der Biograph Jörg Magenau kann ein schönes Seefest schildern. Wo aber ist der alles überragende Roman, der Jahrhundertwurf? Bereits im September 1964 schreibt Max Frisch an den damals siebunddreißigjährigen Walser: Ich bin äußerst gespannt, wie Sie weiterarbeiten. Sie sind (das wissen Sie) ein großer Schriftsteller, und ich möchte Ihr Hauptwerk, Ihre Meisterschaft, deren Möglichkeit aufgezeigt ist, so daß nicht daran zu zweifeln ist, noch erleben. Es muß ganz nah sein, grad um die Ecke. Magenau, der den Brief zitiert hat, kommentiert im Anschluss: Ohne es zu wollen, berührte Frisch damit einen wunden Punkt. Das Hauptwerk war eben nicht in Sicht. Bei Grass mit der ›Blechtrommel‹, bei Döblin mit ›Berlin Alexanderplatz‹, bei Thomas Mann mit den ›Buddenbrooks‹ und bei Johnson mit den ›Jahrestagen‹ kann man sich rasch auf einen Titel einigen, den jeder kennt, ohne sonst etwas vom Autor zu wissen. Bei Walser gibt es dieses Hauptwerk eben nicht.

Martin Walser unterscheidet von all den Genannten, von Grass, Döblin, Thomas Mann, Uwe Johnson, dass er ein genuin romantischer Autor ist, dessen Hauptwerk deshalb der unendliche Progress des Schreibens selbst ist. Susanne Klingenstein zitiert ihn mit dem Satz: Ich schreibe nur einen Roman. Im 89. »Athenaeum«-Fragment notiert der Erzromantiker Friedrich Schlegel: Offenbar gehören nicht selten alle Romane eines Autors zusammen, und sind gewissermaßen nur ein Roman. Und im 47.: Wer etwas Unendliches will, der weiß nicht was er will. Aber umkehren läßt sich dieser Satz nicht. Im übernächsten Kapitel wird sich weisen, was das heißt.

Martin Walser

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