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Vorwort

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Von Anfang an ist er da und dabei. Am 23. Mai 1949 wird in Bonn das Grundgesetz verkündet, von nun an gibt es die Bundesrepublik. Am 7. Oktober des Jahres wird in Ost-Berlin eine sozialistische Verfassung proklamiert, von nun an gibt es die DDR. Und es gibt den Schriftsteller Martin Walser, zweiundzwanzig Jahre alt: Am 29. September und am 22. Oktober 1949 erscheinen in der »Frankfurter Rundschau« und der »Mainzer Allgemeinen« seine ersten literarischen Texte. 1950 erwirtschaften die beiden Staaten des geteilten Deutschlands zusammen ein Bruttoinlandsprodukt von – auf heutige Währung evaluiert – knapp fünfzig Milliarden Euro. 1950 kommen Walsers bis dahin veröffentlichte Kurzgeschichten, die seit dem Vorjahr entstandenen Radiobeiträge im Süddeutschen Rundfunk sowie die noch unfertigen oder nichtpublizierten Arbeiten auf einen Umfang, der ungefähr zweihundert Buchseiten entsprechen dürfte.

2020, sieben Jahrzehnte später, liegt das Bruttoinlandsprodukt des seit 1990 wiedervereinten Landes bei gut dreitausenddreihundert Milliarden oder knapp dreieinhalb Billionen Euro: ein Anstieg um das Sechsundsechzigfache. 2017, zum neunzigsten Geburtstag des Autors, veröffentlicht die Edition Tenschert eine fünfundzwanzigbändige Gesamtausgabe mit rund 11 450 Seiten, rechnet man die seit 2005 publizierten Tage- und Notizbücher der Jahre 1951 bis 1981 sowie die seit 2017 neu erschienenen Werke hinzu, kommt man auf etwa 14 000 Seiten, was einer Steigerung um das Siebzigfache entspricht. Von den Deutschen gilt, notiert Golo Mann, sie arbeiteten wirtschaftlich nie erfolgreicher als nach Ihren Kriegen und bei weitem am erfolgreichsten nach Hitlers Krieg. Auch in diesem Sinn ist Walser ein Nachkriegsautor.

Schon rein statistisch sind das geteilte Deutschland, die vereinte Bundesrepublik und der Schriftsteller Martin Walser annähernd eins, physisch wie metaphysisch sind sie es ohnehin: das gemeinsame Beginnen, die mittlere bis lange bis sehr lange Dauer, der ungebrochene Fleiß und das trotz manchen Wellentals auch stete Vermehren, das enorme Wachstum. Dabei hätte es die Parallele nicht gegeben, wäre der oberschwäbische Alemanne 1927 nicht im bayerischen Wasserburg am Bodensee geboren, sondern am gegenüberliegenden Schweizer Ufer, zum Beispiel im fünfzehn Kilometer Seelinie entfernten Rorschach. Deutschland hätte dann, wie für Friedrich Dürrenmatt oder Max Frisch, vielleicht Stoff für poetische Parabeln geboten, nicht aber eine derart enge existentielle Verwobenheit in Geschichte und Gegenwart. Nun hat Walser, im Gegensatz übrigens zu Dürrenmatt, nie an die schiere Fatalität, sondern stets an das Fatum des Zufalls geglaubt. Noch 1992, da ist er fünfundsechzig, leidet er an der Schicksalssymbiose zwischen dem Land und ihm: Ich bin umstellt von nicht erträglicher Vergangenheit, die mich nur belagert, weil ich zu diesem Dreck dazugehöre, sagt er damals in einem Interview und fügt, sich quantitativ nur wenig, qualitativ aber gewaltig irrend, hinzu: Wäre ich nur zehn Kilometer weiter südlich geboren, könnte mir das alles egal sein.

Zehn Kilometer südlich von Wasserburg beginnt freilich nicht die Schweiz, sondern Österreich, das 1938, da ist er elf, für sieben von geplanten tausend Jahren an Deutschland angeschlossen wird. Weshalb für Walsers Wasserburger Herkunftszufall gilt, was der Fall ist und bleibt: Lebensthema Deutschland. Die literarische, kulturelle und politische Öffentlichkeit antwortet ihm Zeit seines Autorenlebens ambivalent: mit Zuspruch wie Abwehr, mit Dankbarkeit wie Misstrauen, mit Verehrung wie Verwerfung. Konkret heißt das: mit dem Reden, Debattieren, Reflektieren, Senden und Schreiben über ihn, mit dem Kauf seiner Bücher, dem Besuch seiner Lesungen, Vorträge, Reden, Podiumsauftritte, Seminare, Signierstunden. So reizvoll es wäre, so wenig ist statistisch zu erfassen, was das rein quantitativ bedeutet. Nur ganz grob schätzen lässt sich die Walser-Ökonomie. Bei etwa hundert öffentlichen Auftritten pro Berufsjahr erst als Mitarbeiter des Süddeutschen Rundfunks, dann als freier Schriftsteller kommen seit 1949 an die siebentausend publike Momente zusammen. Den etwa 14 000 Seiten, die er selbst zu Papier bringt – Briefe und Interviews gar nicht gerechnet – entspricht ein veritables Universum an Texten, das über ihn in Zeitungen, Magazinen und Rundfunkanstalten, an Schulen und Universitäten und in Verlagen entstanden ist. Seit dem Urknall von 1949 dehnt es sich permanent.

Am 24. März 2022 ist sein 95. Geburtstag. Es ist an uns, den Autor und sein Lebenswerk zu würdigen, nicht nur an diesem Tag. Allerdings steht zu befürchten, dass dies nicht geschieht, jedenfalls nicht im verdienten Maß. Zu gespalten ist die Gesellschaft mittlerweile, zu unversöhnlich gegenüber dem einmal Beiseitegeschobenen. Für nicht wenige ist Walser ein poète maudit, ein verfemter Dichter. Unverdientermaßen. Aber so ist es. Über den 1936 in Hamburg geborenen, von 1960 an in Ost-Berlin zum Dichter und Sänger reifenden Wolf Biermann sagt man mit einigem Recht, seine Ausweisung aus der DDR im Jahr 1976 habe deren Untergang zumindest mitbewirkt. Vom oberschwäbischen Alemannen Martin Walser darf man mit mindestens gleichem Recht behaupten, sein Eintreten für ein geeintes Deutschland, singulär in der literarischen Sphäre der alten Bundesrepublik wie der DDR, habe der tatsächlichen Vereinigung von 1990 eine wesentliche geistige Bühne bereitet. Allein dies ist mehr als Grund genug für den Respekt der Republik. Angemessen wäre auch, wenn seine Gegner und Feinde zumal in den Medien wie auch in der Wissenschaft den intellektuell unsinnigen und menschlich zutiefst ehrverletzten Vorwurf revidierten, Martin Walser hege antisemitische Ressentiments. Auch dies wird wohl nicht geschehen. Dabei ist er so wenig Antisemit wie Wasserburg eine Metropole.

Seinem nationalen Gewicht korrespondiert das internationale nicht, schon lange nicht mehr. Gerade in der englischsprachigen Welt sind die Romane, Novellen und Erzählungen, so sie denn überhaupt übersetzt wurden, im Vergleich etwa zur »Blechtrommel« von Günter Grass, zur »Deutschstunde« von Siegfried Lenz oder zum Weltbestseller »Das Parfüm« von Patrick Süskind Randerscheinungen geblieben, auch das erfolgreichste Buch, »Ein fliehendes Pferd« (»Runaway Horse«) von 1978, ändert die Bilanz nur wenig. Im Überblicksartikel über die deutschsprachige Literatur von 1945 bis zur Jahrtausendwende erwähnt ihn die Encyclopædia Britannica mit keinem Wort – was grotesk, beschämend und ja: ein Skandal ist: für die Enzyklopädie, für Judith Ryan, die Harvard-Germanistin und Verfasserin des Überblicks. Walser hat eine Fülle nationaler Ehrungen erfahren, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis, 1992 die Aufnahme in den Orden Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste sowie 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. International wurde er mit Ausnahme der Ehrendoktorate der Katholischen Universität Brüssel (1998), die inzwischen nicht mehr existiert, und der griechischen Universität Thessalien (2013) sowie des chinesischen Weishanhu-Preises von 2009 substantiell nie ausgezeichnet, erst recht nicht in Großbritannien oder den Vereinigten Staaten, die dank einer Reihe von Gastprofessuren an Ost- wie Westküste so etwas wie Wunsch- und Wahlheimat sind.

Vom Literatur-Nobelpreis nicht zu reden, auch wenn Walser, etwa in den Achtzigern, bisweilen als Kandidat gehandelt wurde. Ende der 1970er Jahre hat man ihn um die Einleitung zu einem exklusiven, im Buchhandel gar nicht erhältlichen Prachtband unter der Schirmherrschaft der Nobelstiftung und der Schwedischen Akademie Stockholm gebeten: Im Aufsatz »Nobel und die Nobelpreisträger« hat er dabei die literarische Ehrung als eine Art Weltmeisterschaft im Schreiben bezeichnet. Nach der Friedenspreis-Rede in der Frankfurter Paulskirche vom Oktober 1998 ist er wegen des (nicht nur) in Stockholm als unkorrekt geltenden Zugangs zur deutschen Vergangenheit endgültig aus dem Kandidaten-Karussell gefallen. Was unberechtigt erscheint, wenn man es mit der bleibend skandalösen Haltung Peter Handkes zu den Jugoslawienkriegen vergleicht. Gewiss, Handkes Werk zumal der 1970er und 1980er Jahre ist große Literatur. Während für Weltmeister des Sports die pure Leistung genügt, so sie fair erbracht wurde, gehört zur Weltmeisterschaft im Schreiben ein Geistes-Ethos, dem Handke nicht entspricht. Aber das ist nicht Thema dieses Buches.

Der Tod ist ein Meister aus Deutschland, lautet der zentrale Refrain des Gedichts »Todesfuge«. Die Verszeile ist die berühmteste des deutsch-jüdischen Dichters Paul Celan und der deutschsprachigen Literatur seit 1945. Auf emphatische Weise darf, mehr noch: muss man Martin Walser in diesem Zusammenhang nennen. Nach dem für immer Unvorstellbaren und Unvergleichlichen des Holocausts ist er zum Gegenbild des Celan-Refrains geworden: zum deutschen Schreibmeister eines streitbaren Friedens. Die Essays »Unser Auschwitz« (1965), »Auschwitz und kein Ende« (1979) und »Das Prinzip Genauigkeit. Über Victor Klemperer« (1995) gehören zur geistig-humanen Substanz unserer Gegenwart. Als deutscher Schreibmeister ist Walser ein literarisches wie mediales, damit gesamtgesellschaftliches Phänomen, das im Folgenden beleuchtet werden soll. Zur Phänomenologie gehören, von »Ehen in Philippsburg« (1957) bis »Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte« (2018), sechsundzwanzig Romane, eine Vielzahl von Erzählungen und Novellen, »Ein fliehendes Pferd« zumal. Zur Phänomenologie gehört auch, dass sich der realistische Erzähler wie der literarische und republikanische Essayist dabei als Nachkomme der deutschen Romantik entpuppt – politisch, poetisch, intellektuell. Zugleich charakterisiert ihn das stupende Produktionskontinuum über siebzig Jahre hinweg. Natürlich hat man ihn deshalb mit dem Volkswagen verglichen, dem Bevölkerungsbeweger schlechthin.

Das schiere und enorme Vermehren des eigenen Werks ist aber keineswegs nur quantitativ von Bedeutung, sondern eine Qualität in sich. Innere Entwicklung kennt dieses Werk sehr wohl, Brüche nie, Abbruch, und sei es temporär, ohnehin nicht. Dem Walser’schen Procedere diametral entgegengesetzt ist ein Autor wie Wolfgang Koeppen, der zu Anfang der 1950er Jahre in rascher Folge »Tauben im Gras«, »Das Treibhaus« und »Der Tod in Rom« schreibt, um Publikum wie Kritik danach mehr als vier Jahrzehnte lang mit dem Warten auf einen nächsten Roman zu beschäftigen, der nie kommt. Auch in Sachen Verlässlichkeit ist Walsers Werdegang ein Spiegel der allgemeinen Entwicklung, kennzeichnet die Bundesrepublik bis 1989 und Deutschland seither doch ebenfalls das Immer-Weiter als ein Immer-Mehr. Die Grenzen des Wachstums werden zwar wieder und wieder beschworen, in der aktuellen Klimadebatte mehr denn je: Gesellschaftliche Realität sind sie bis heute so wenig geworden wie Schreibpausen, gar Schaffenskrisen in Walsers Werkstatt.

Gegen das kapitalistische Wirtschaften hat auch er, wie viele andere, in den 1960er und 1970er Jahren heftig opponiert, 1964 etwa im Appell »Sozialisieren wir die Gruppe 47!«, 1968 in der Polemik »Berichte aus der Klassengesellschaft«, 1970 im Essay »Kapitalismus und Demokratie«, 1972 im Roman »Die Gallistl’sche Krankheit« – bis hin zum Aufruf »An Uferbesitzer und Politiker« von 1971, in dem er nicht nur die Parole ausgibt: Wir, die Seeuferbesitzer, sollten von den Parlamenten das Gesetz zur Sozialisierung des Seeufers verlangen, sondern aus Gründen der politischen Moral auch ernsthaft in Erwägung zieht, das ein paar Jahre zuvor erworbene Uferanwesen in Nußdorf bei Überlingen, die lebensbeste Investition, mitsamt der Familie wieder zu verlassen. Zum Glück ist nichts daraus geworden. Die eigene Text-Produktion jedoch verläuft stets, also auch in jener nach außen linksradikalen, in Wahrheit frühromantischen Zeit, nach rein kapitalistischen Prinzipien: Geldverdienen müssen und wollen, als scheinbar freier Autor abhängig, also ausgebeutet zu sein und sich selbst auszubeuten, den Konkurrenzkampf mit wie den Konkurrenzneid gegenüber anderen Autoren bestehen und ertragen. Einziges Produktionsmittel ist das Schreiben von Hand, Tag ein, Tag aus, Monat um Monat, Jahr für Jahr. Entwickelt hat sich darüber von den frühen 1950er Jahren an eine innerhäusliche Manufaktur, bei der Käthe Walser, die Ehefrau, für die Herstellung druckfähigen Materials – sprich: die Umwandlung von Manuskript in getippte Seiten – zuständig bleibt, bis ihr vor gut einem Jahrfünft die digitale Spracherkennung einen Teil der Arbeit abnimmt. Zwei der vier Töchter, Johanna und Alissa Walser, haben neben ihren eigenen literarischen Arbeiten mit dem Vater gemeinsam fremdsprachige Autoren übersetzt, Alissa hat durch die Umschlagentwürfe für die späteren Vaterbücher wesentlich zur deren Schönheit beigetragen. Zusammen mit der Schauspielerin Franziska und der Dramatikerin Theresia Walser bildet die Familie eine Art Kulturdynastie, die allerdings locker gefügt ist und auf der Eigenständigkeit jedes Einzelnen beruht.

Dies ist die eine Walserseite, der sich dieses Buch widmen wird, wobei die achtundvierzig Produktionsjahre bis zum siebzigsten Geburtstag zwar behandelt werden, mit Bedacht aber in eher summarischer Weise. Vor allem zwei Monographien sind es, die ein nochmaliges Buchstabieren von Beginn an zur unnötigen Wiederholung gemacht hätten: die außerordentlich geglückte, Nähe und Distanz klug ausbalancierende Walser-Biographie von Jörg Magenau, die in der 2008 publizierten erweiterten Neuausgabe lebens- wie werkgeschichtlich bis zum Gedichtband »Das geschundene Tier« von 2007 reicht, und die so kompakte wie profunde Studie des deutsch-amerikanischen Germanisten Gerald A. Fetz in der Sammlung Metzler, die das genuin literarische Werk, Prosa wie Drama, bis 1997 kartographiert. Das Schwergewicht dieses Buches liegt also auf dem späteren und späten Erzählen, in dessen Zentrum die zwölf Romane von »Ein springender Brunnen« (1998) bis zu »Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte« (2018) stehen, sowie auf der Debatte um die Friedenspreis-Rede von 1998 und den Skandal um den Anti-Reich-Ranicki-Roman »Tod eines Kritikers«.

Die andere, die zweite Walserseite, um die es geht, behandelt den Autor nicht als Individuum, sondern als Quasi-Kollektivgestalt. Sie setzt sich zusammen naturgemäß aus ihm selbst, manifest aber auch aus uns, den Lesern und Kritikern seiner Werke, den Kommentatoren seiner Reden und öffentlichen Auftritte, den Befürwortern wie Gegnern, den Bewunderern wie Feinden des Autors. Walser-Rezeption lässt sich das nennen. Genauer ist: Es geht um die Dynamik der Interaktion zwischen ihm und uns, der Öffentlichkeit. Sie ist ein bundesrepublikanisches Wirklichkeitselement. Beinhalten muss dieses Mit-, Neben- und Gegeneinander selbstverständlich die medialen Aspekte von Walser-Vita und Walser-Werk. Aus dem Nachlass des 2019 gestorbenen Hamburger Historikers Axel Schildt haben dessen Mitstreiter Gabriele Kandzora und Detlef Siegfried 2020 das gewaltige, gleichwohl Fragment gebliebene Forschungsvorhaben über »Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik« ediert und publiziert. Schildts unabgeschlossene 800-Seiten-Studie endet mit dem Kapitel über »die langen 60er Jahre«. Walser spielt schon darin eine nicht geringe Rolle, die hohe Zeit als Zentralakteur öffentlicher Debatten aber steht noch bevor. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit wollen wir sie empirisch beleuchten. Martin Walser erscheint dabei sowohl als Treibender wie Getriebener, als medial Geächteter wie als Medienliebling, seinerseits ist er ein Medienverächter ebenso wie Medienafficionado, kurzum: in einer notwendig widersprüchlichen Rolle, die ebenfalls typisch und, vor allem, exemplarisch für die Bundesrepublik ist. Walser ist ein Medionaut, ein Medienautor aus eigenem Antrieb und wider Willen zugleich.

Die Rezension der Kindheits- und Jugenderinnerungen, die der lediglich zwei Jahre und sieben Monate jüngere Hans Magnus Enzensberger unter dem Untertreibungstitel »Eine Handvoll Anekdoten, auch Opus incertum« versammelt hat, beginnt Iris Radisch in der »Zeit« vom 25. Oktober 2018 mit dem Satz: Das deutsche Nachkriegsliteraturwunder ist nicht zu Ende, solange Hans Magnus Enzensberger (88) und Martin Walser (91) noch schreiben. Enzensberger (jetzt 91) hat jüngst neben einigem anderen den Gedichtband »Wirrwarr« (2020) veröffentlicht, Walser (94) im Frühjahr 2021 die Gedankenlyrik »Sprachlaub oder: Wahr ist, was schön ist«. Das Literaturwunder ist nicht zu Ende. Im Abendlicht, aber ohne Nostalgie, schauen wir es noch einmal an. Dabei interessiert überhaupt nicht, ob Martin Walsers Werk nach wie vor als aktuell gelten kann, ebenso wenig, ob es und was an ihm von Dauer ist und bleibt. Das mag erörtern, wer mag. Kein Kanon entscheidet das, weder Hymnen noch Verdikte bestimmen es, sondern einzig die Leserinnen und Leser, die gegenwärtigen wie die künftigen. In einem Werkganzen ist immer alles Gegenwart. Deshalb nimmt dieses Buch den Fall Martin Walser auch als ein Spezifikum für etwas, was ich die Ewigkeits-Präsenz der Literatur nenne – und was weit über den Begriff der »unsterblichen Werke« hinausgeht, auch über die beliebte Frage: »Was bleibt?«. Ewigkeits-Präsenz ist mediales Zuhandensein von Schrift, Ton und Bild, aber auch von deren unmittelbarer wie fortdauernder Rezeption. Weshalb, wo immer es möglich ist, dieses Buch im Präsens geschrieben ist. Martin Walser hat uns beschenkt und bereichert, indem wir nicht zuletzt an und mit seinem Werk als Öffentlichkeit gewachsen sind. Er ist, alles in allem, als deutscher Schreibmeister ein bundesrepublikanisches Monument. Darüber hinaus ist er ein Weltverworter, wie es wenige gibt.

Martin Walser

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