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Erstes Kapitel

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Vom Dorf in die Stadt, von Kafka zu Beumann.

Deutschland, einig Kleinbürgerland.

In Harvard werden Leuchttürme errichtet.

Für Nachkriegskinder ist die »Gruppe 47« ein Segen.

Realismus wird Seelensprache. Rolls-Royce und Opel Kadett.

Immer schon weiter gewesen.

Warum es bei Martin Walser weder ein

Altersnoch ein Hauptwerk gibt.

Der allererste Held heißt Urleus und erinnert nicht von ungefähr an Odysseus, wahlweise Ulysses. Er steht, was er noch nicht wissen kann, am Beginn einer langen, langen Such-, Schönheits- und Schreckensfahrt. Seinen Auftritt hat der junge Mann am 29. September 1949 in der »Frankfurter Rundschau«, die bereits am 1. August 1945, keine drei Monate nach Kriegsende, als erste deutsche Zeitung der amerikanischen Zone eine Lizenz erhält. Walsers Werkchronist Andreas Meier nennt den kleinen Text eine groteske Erzählung, der vierzehnte Band der Tenschert-Ausgabe, die zum neunzigsten Geburtstag erscheint, ist der einzige Ort jenseits des »Rundschau«-Archivs, an dem sie zu finden ist. Titel: »Kleine Verwirrung«. Die ersten je veröffentlichten Walser-Sätze lauten: Urleus war noch nicht lange in der Stadt. Er kam mit der Stadt auch gar nicht zurecht. Er selbst merkte das allerdings nicht. Vertrauen flößt ihm der Verkehrspolizist ein, der ihn über die Straße winkt. Die Leute, denen er begegnet, lächelt er zur Vorsicht an. Der Hauptteil der kurzen Geschichte spielt in einer Tanzbar. Nein, Urleus hält sich nicht für einen herausragenden Tänzer. Aber die Dame, die er anspricht, tanzt tatsächlich mit ihm, sitzt mit ihm an der Bar. Wieder auf der Tanzfläche, verliert er sie nach und nach aus den Augen, dreht sich mehr und mehr um sich selbst – es ist, als tanze er um sein Leben. Er merkt nicht, dass sich die Menge der anderen Tanzlustigen ebenso gegen ihn verschwört wie die Kapelle. Plötzlich ist der Polizist von der Kreuzung wieder bei ihm – und dann waren sie auf der Straße. Dass er über Nacht in Polizeigewahrsam genommen wird, dass es dabei fast brutal zugeht, missdeutet er als freundschaftliche Geste, denn nur ganz gute Freunde, das kennt er vom Dorf, dürfen unter- und miteinander so grob verfahren wie jetzt der Polizist mit ihm. Die »kleine Verwirrung«, in die Urleus gerät, ist eine zumindest mittlere Fatalität.

Ein Zentralthema des frühen Walser ist der undurchsichtige, verworrene, unaufrichtige, verlogene Gang der Dinge. Grundmuster: Leute vom Land wollen aufbrechen, sich im Urbanen zurechtfinden, machen sich Illusionen, kommen aber nie wirklich an. Die Zentralfigur des frühen Lesens und Schreibens ist Franz Kafka. 1955 das erste Buch: »Ein Flugzeug über dem Haus und andere Geschichten«. Bereits im Klappentext weist der Verlag auf den starken Kafka-Bezug dieses jungen Autors hin, die ersten Kritiken nennen ihn wahlweise Kafka-Schüler oder Kafka-Epigone. Die »Kleine Verwirrung« hat es erst gar nicht in den Debüt-Band geschafft, aber immerhin ist Urleus die früheste Figur im Kafka-Bann – und die namenlose Stadt, in der er sich bewegt, einigen realistischen Momenten zum Trotz, ein abstrakter Raum. Wie Walser vom Gleichniserfinder Kafka’scher Provenienz zum realistischen Erzähler eigener Prägung wird, schauen wir uns im fünften, dem »Werkstatt«-Kapitel an. Jedenfalls ist Hans Beumann, der erste Romanheld, bereits höchst konkret geschildert und situiert: »Ehen in Philippsburg« erscheint 1957, zwei Jahre vor der »Blechtrommel« von Günter Grass – und acht Jahre nach der »Kleinen Verwirrung« des jungen Urleus. Wie Urleus stammt Beumann, ein Vierundzwanzigjähriger, vom Dorf, genau: aus dem wie ein Sinnbild des Geducktseins wirkenden Flecken Kümmertshausen – im realen Kümmertsweiler am Bodensee ist Walsers Mutter Augusta an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert geboren und aufgewachsen.

Hans hat bäuerliche Wurzeln, ist das uneheliche Kind einer Schankkellnerin und Bedienerin, nun aber ein studierter Mann, ausgebildet am Zeitungswissenschaftlichen Institut der Landesuniversität, bereit und begierig, an den Verfeinerungen des gesellschaftlichen Lebens teilzuhaben, teilzunehmen. Dabei ist er, wie Urleus, nach wie vor ganz unsicher und nicht selten verzagt: Am besten wäre es, sagt der Erzähler des Romans, er würde heimfahren nach Kümmertshausen zu seiner Mutter, würde ihr eingestehen, daß die Studiengelder umsonst ausgegeben waren, daß der Sprung von Kümmertshausen nach Philippsburg zu groß war, um innerhalb einer Generation bewältigt zu werden. Beumann wird in der Großstadt bleiben – und er wird Karriere machen, allerdings um den Preis des Sich-Verbiegens, der beruflichen Anpassung und der seelischen Deformation. Seine soziale Lage aber wird stabil bleiben und dabei der seines Autors bis aufs Haar gleichen: Es ist die Situation, in der sich viele junge Leute des sogenannten unteren Mittelstandes in der Nachkriegszeit befinden. Beumann und ein paar Studienfreunde, heißt es, seien Kleinbürgersöhne und Proletarier …, hungrige Lesewölfe, die ihr Studium selbst hatten finanzieren oder fünfmal im Jahr um Stipendien bitten müssen, während die Stipendiengewährer mit Nadelaugen auf sie herabschauen.

Proletarier ist der Wasserburger Gastwirtssohn Walser nicht. Der Kleinbürger freilich wird der soziologische Schlüssel schlechthin sein – für ihn selbst, aber auch für die aufstrebende Bundesrepublik, die sich zum erfolgreichen Kleinbürgerstaat entwickelt, nicht zuletzt auch für die bald stagnierende DDR, in der sich die Herrschenden Kommunisten nennen und als Proletarier geben, aber wie Kleinbürger wirken und es meist auch sind. 1984, in einem substantiellen Gespräch mit dem Berkeley-Germanisten Anton Kaes, erzählt Walser anekdotisch, wie ihn die SED- und DKP-Funktionäre abkanzeln: Ich wurde dort auch immer als der störrische Kleinbürger geführt, der nichts lernen will beim proletarischen Internationalismus. Dass Kleinbürger keine Kleinbürger sein wollen, dafür andere Kleinbürger als Kleinbürger beschimpfen, ist eine Konstante, der wir wiederholt begegnen werden – damit auch eine Konstante in und für Walsers Vita.

Noch als Großschriftsteller, der er von Mitte der 1960er Jahre an zu werden beginnt, versteht sich Walser als Angehöriger des Kleinbürgertums. Nicht anders als der Danziger Altersgenosse Günter Grass, mit dem ihn bis zu dessen Tod im Jahr 2015 ein Konkurrenz- und Antipodenverhältnis, temporär auch Freundschaft verbindet. Gleiches gilt für den zwei Jahre jüngeren Hans Magnus Enzensberger, den im Allgäu geborenen Sohn eines Nürnberger Postbeamten und stets die Komplementär- wie die Kontrastfigur zu Walser. 1965 gründet Enzensberger die Zeitschrift »Kursbuch«. Jahrzehntelang prägt sie den intellektuellen Zeitgeist, bringt ihn als jeweils neue Modelinie auf den Laufsteg, reflektiert ihn im Geist einer alt-neuen Aufklärung jedoch auch kritisch und selbstironisch. 1976 erhält des Gründers merkwürdige Sozialschicht ein eigenes Heft mit zwölf Beiträgen: »Wir Kleinbürger«, seltsamerweise – es muss zwischen beiden wieder einmal Funkstille geherrscht haben – keinen von Walser. Enzensberger selbst eröffnet mit dem fulminanten Essay »Von der Unaufhaltsamkeit des Kleinbürgertums«, der nichts weniger ist als die Mental-Vermessung der alten Bundesrepublik. Der Kleinbürger will alles, nur nicht Kleinbürger sein, ist, wie zu erwarten, eine der Schlüsselsentenzen, schon um den Lesern die Sorge zu nehmen, auch auf sie könne das verächtliche Synonym Spießer zutreffen. Für Enzensberger schrumpft die eigentlich herrschende Klasse, das Großbürgertum, mehr und mehr, die Proletarier wollen sich verbürgerlichen, womit das nach wie vor ökonomisch weitgehend machtlose Kleinbürgertum nicht nur quantitativ gewinnt, sondern auch die neue Gesellschaftshierarchie dominiert, indem es der herrschenden Klasse das herrschende Denken entwindet. Die analytische Kernpassage über die modernen Angestellten-, Beamten-, Manager-, Freiberufler- und Akademikerschichten kann also resümieren: Das Kleinbürgertum verfügt in allen hochindustrialisierten Gesellschaften heute über die kulturelle Hegemonie. Es ist zur vorbildlichen Klasse geworden. Es erfinde Ideologien, Wissenschaften und Technologien, diktiere, was Moral bedeute, erzeuge Kunst, Mode, Philosophie, Architektur, Kritik und Design.

Wie stabil die Sozialverortung ist, zeigt ein Gespräch, das Günter Grass und Martin Walser gemeinsam im Sommer 2007, mehr als dreißig Jahre nach dem Kleinbürger-»Kursbuch«, mit Iris Radisch und Christof Siemes führen, den Feuilletonredakteuren der Wochenzeitung »Die Zeit«. Sie, Herr Walser, stellen die »Zeit«-Redakteure fest, sind der Autor des deutschen Kleinbürgertums, das sich rühmt, immer auf dem Teppich geblieben zu sein. Noch bevor Walser antworten kann, interveniert Grass enthusiastisch: Mit dem Wort Kleinbürger haben wir beide zu tun … Für mich ist meine kleinbürgerliche Herkunft eine dauernde Quelle der Inspiration und des Einfallsreichtums. Ich halte diese Internationale der Kleinbürger für die einzig funktionierende. Worauf Walser anfügt: Ja, ja, ja. Die haben auch das 19. Jahrhundert gemacht. Kleinbürger ist der, der sich selbst ausbeutet. Das dreifache Ja, das Walser beisteuert, klingt allerdings kaum euphorisch, eher erpresst. Das hat Gründe. Wir kommen gleich darauf zurück.

Grass, Enzensberger und Walser, überdies den um ein Jahrzehnt älteren und 1985 gestorbenen Heinrich Böll, Sohn eines Kölner Schreiners, nennt der Harvard-Historiker David Blackbourn sehr zu Recht die towering figures der deutschen Nachkriegsliteratur. 2011 geschieht das, als Walser in Boston über »Kritik oder Zustimmung oder Geistesgegenwart« spricht. Die Harvard-Germanisten, notabene, halten sich auch dabei von Walser fern – wie weit das geht und wie skandalös dies bei der Harvard-Germanistin Judith Ryan ist, haben wir im Vorwort gezeigt. In unserem Kontext wichtig: Dass sich die Turmfiguren der deutschen Literatur allesamt zur kleinen Bourgeoisie bekennen, ist historisch ein Novum. Goethe und Schiller werden zu Adelsbürgern, Heinrich von Kleist ist ein Uradliger, Heinrich Heine kommt aus dem assimilationsaffinen jüdischen Großbürgertum, Gotthold Ephraim Lessing, die Schlegel-Brüder, Hermann Hesse und Gottfried Benn sind Pfarrerssöhne ohne Kleinbürgeridentität, Thomas und Heinrich Mann Patrizier, Bertolt Brecht wird Wahlproletarier. 2002 benennt Walser eine große Ausnahme vom ausgehenden achtzehnten und beginnenden neunzehnten Jahrhundert: Nehmen Sie den größten Gesellschaftsspezialisten der deutschen Belletristik, Jean Paul: Was er im Roman ›Hesperus‹ über Aufstieg, Ehrgeiz und Maske schrieb, wie der Kleinbürger am Hof ironisch werden muss, um seine Demütigung zu kompensieren, das ist akut bis heute. Der soziologische Befund ist auch sozialpsychologisch spannend. Die towering figures sind Symbole eines enormen Prestigeerfolgs, eines Aufstiegs-, ja Nobilitierungsphänomens – und zwar durch eine nonkonforme, unangepasste Leistung. Es sagt viel aus über eine Gesellschaft, wenn in ihr solche Karrieren, solch meritokratische Steilflüge von Kleinbürgern möglich sind. Geboren in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, haben Walser & Co. den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg als Kinder und Jugendliche sehr bewusst erlebt und sind in der letzten Phase des Kriegs oft selbst noch Soldaten gewesen – ein Umstand, der vor allem Günter Grass, der 1999 den Literatur-Nobelpreis erhält, im achten Lebensjahrzehnt um einen Teil seiner moralischen Glaubwürdigkeit bringt, hat er doch die kurzzeitige Zugehörigkeit zu einer SS-Panzerdivision in den letzten Kriegswochen zwar in wenigen privaten Gesprächen erzählt, öffentlich aber bis 2006, als sein Erinnerungsbuch »Vom Häuten der Zwiebel« erscheint, absichtsvoll unerwähnt gelassen.

Wie Günter Grass, Spross eines Lebensmittelhändlers, ist der Gastwirtssohn Martin Walser bei Kriegsende achtzehn Jahre alt, Enzensberger noch keine sechzehn. Ein Jahrzehnt später gehören sie zu den tonangebenden Mitgliedern der »Gruppe 47«, der von Hans Werner Richter gegründeten und in der Geschichte der deutschen Literatur einzigartigen Dichtervereinigung. Der signifikant ältere Heinrich Böll, ebenfalls zur »Gruppe 47« zählend, steigt zum »Gewissen der Nation« auf. Ihr Prestige erwerben sich die Autoren durch die intellektuelle Opposition gegen den Muff und Mief der Adenauerära und die tendenzielle Restauration nationalsozialistischer Strukturen, die sich vor allem in der personalen Kontinuität führender Institutionen von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik zeigt. Der Jurist Hans Globke, der die »Nürnberger Rassegesetze« von 1935 mitverfasst und den Konrad Adenauer 1953 zum Chef des Bundeskanzleramtes macht, wird zum Sinnbild solchen Überdauerns. Dass die junge literarische Elite zu einer ganz wesentlichen Kraft der neuen, demokratischen Kultur werden kann, ist ein Signum jedenfalls für die westliche Seite des 1949 scheinbar endgültig geteilten Landes. Dass es ihrer Herkunft und ihrem Wesen nach vor allem kleinbürgerliche Autoren sind, die der jungen Bundesrepublik den nötigen geistigen Vitalitätsschub bescheren, spiegelt die fortschreitende Durchlässigkeit und Nivellierung der Gesellschaft. Das westliche Deutschland setzt ökonomisch auf den Kapitalismus und zähmt ihn durch Ludwig Erhards Wirtschaftspolitik sozial.

Vereinfachend gesagt, in der Zuspitzung aber nicht unwahr: Die Bundesrepublik ist Soziale Marktwirtschaft plus »Gruppe 47«. Nie zuvor hat die Literatur einen derart herausgehobenen Stellenwert wie in den Jahren zwischen 1945 und etwa 1970 – sie büßt ihn danach rasch wieder ein. Wer, wie ich und meinesgleichen, im ersten Nachkriegsjahrzehnt zur Welt kommt, macht um die Mitte, spätestens zum Ende der 1960er Jahre die ersten Erfahrungen mit zeitgenössischer Literatur. Für uns, die wir ins Wirtschaftswunder hineinwachsen, werden die um eine bis anderthalb Generationen älteren deutschsprachigen Autoren zu elementaren Vorbildern für das eigene Weltempfinden. Unsere Heldenliste in etwa: mit und neben Blackbourns towering figures die Schweizer Giganten Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt, die Poesie-Königinnen Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann und Friederike Mayröcker, der singuläre Paul Celan, die Sprachgewaltigen Ernst Jandl und Thomas Bernhard, der bis zur Selbstqual genaue Wolfgang Koeppen, der programmatische Außenseiter Arno Schmidt, der Schwarze-Tinten-Heros H. C. Artmann, der Sensibilist Wolfgang Hildesheimer, der deutsch-deutsche Subtilist Uwe Johnson, der gestrenge Alfred Andersch, der freundliche Siegfried Lenz, die DDR-Säulen Christa Wolf, Peter Hacks und Franz Fühmann, die Dokumentaristen Heinar Kipphardt, Rolf Hochhuth und Peter Weiss.

Naturgemäß lesen wir nicht alle und schon gar nicht alles von ihnen. Wie auch? Aber ob ihr zugehörig oder nicht: Diese Autoren eint für uns junge Leser auf eine objektiv naturgemäß falsche, subjektiv aber enthusiasmierende Weise das symbolische Band der »Gruppe 47« und setzt sie damit von Gegenwartsklassikern wie Rilke, Benn, Anna Seghers oder den Brüdern Mann ab. Es gibt eine höchst bemerkenswerte Passage im Tagebuch des Gruppengründers Hans Werner Richter, in der diese Wirkung so anschaulich wie präzise beschrieben wird. Am 17. Januar 1967 notiert Richter, er habe einen Vortrag in Bielefeld vor sechshundert Oberschülern gehalten, und zwar im Haus der ›Neuen Gesellschaft‹, einer der SPD nahestehenden Kulturzeitschrift: Adenauers CDU konnte weiland mit progressiven Literaten nichts anfangen. Richters literaturfernes Thema lautet: Die Sowjetunion, die sozialistischen Staaten und die Politik. Seine Zuhörer charakterisiert er: Die jungen Leute, siebzehn, achtzehn, neunzehn Jahre alt; skeptisch, zum Widerspruch neigend, provokatorisch diskutierend, doch ohne jede Ideologie. Sie sind schwer zu gewinnen. Ihr Widerstand: individuelle Selbständigkeit. Erst als ich zugebe, daß ich dies und jenes selbst nicht weiß, tauen sie auf, wird die Diskussion wärmer, toleranter, verlieren ihre Fragen den Charakter der Provokation. Ihren Höhepunkt findet die Veranstaltung allerdings erst, als Richter die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten hinter sich lässt und mit den Schülern frei debattiert: Zum Schluß Fragen nach der Gruppe 47, die sie mehr interessiert als alles andere, und hier, in dieser letzten Diskussion, erfahre ich, was mehr als beruhigend ist: für sie, für diese Jugendlichen, ist die Gruppe 47 die neue Welt, die Welt von heute. Der Leiter der ›Neuen Gesellschaft‹ zu mir: ›Hätten Sie über die Gruppe 47 gesprochen, so wären tausend junge Leute gekommen. Das interessiert sie mehr als alles andere.‹ Richter fragt sich: Wie ist das möglich? Es ist nicht nur möglich, es ist ganz real – damals sechzehn, wäre ich gewiss unter den Zuhörern gewesen, hätte sich Richter statt in den Teutoburger Wald auf die Schwäbische Alb begeben. Grass ist bei uns gewesen, selbst auf der Alb hat er für die Es-Pe-De und Willy Brandt getrommelt.

Logisch ist demnach, dass Blackbourn aus der amerikanischen Perspektive von 2011 den Leuchttürmen des deutschen Nachkriegs auch den Status von public intellectuals zumisst. Neu ist, dass man sie im existentialistischen Geist Jean-Paul Sartres von den 1950er Jahren an engagierte Autoren nennt, was ihnen zu Beginn durchaus, bald jedoch nur noch wenig behagt, weil es umgehend zum Klischee, vor allem zu einer Erwartungshaltung gerinnt. Wichtig aber bleibt: die gewollte, die bewusste Engführung von Literatur, Politik und Gesellschaft. Es ist diese Verbindung, die den Schriftstellern ihre enorme Wirkung verleiht. Natürlich verdankt sich die Aufmerksamkeit, die ihnen zuteil wird, auch einer noch relativ spärlichen Medienkonkurrenz. Für uns Jungleser von damals gibt es neben Grass, Walser & Co als Verlockung vor allem die Popmusik, die ihren Siegeszug annähernd zeitparallel zur »Gruppe 47« antritt. Bob Dylan, Joan Baez, Jimi Hendrix, Janis Joplin, die Beatles und die Rolling Stones sind freilich nur geringfügig älter als wir. Auch sie werden umgehend zu Vorbildern – aber eben exklusiv als Popstars, nicht als geistige und moralische Leuchttürme wie die weitaus älteren Dichterinnen und Dichter der Kriegsgeneration. Im Übrigen haben wir nicht den geringsten Gegensatz zwischen dem Rhythmus eines Bachmann-Gedichts – Es kommen härtere Tage. / Die auf Widerruf gestundete Zeit / wird sichtbar am Horizont – und dem Riff von (I Can’t Get No) Satisfaction gespürt. Das ist so geblieben.

Zurück zur Chronologie: Unter den drei jüngeren Solisten, die mit Böll das Harvard-Literatur-Quartett bilden, ist Walser der erste, der mit verstreuten Veröffentlichungen auf sich aufmerksam macht. Das Premierenbuch, die Sammlung »Ein Flugzeug über dem Haus und andere Geschichten« (1955), erscheint ein Jahr vor dem Grass-Debüt, dem Lyrikband »Die Vorzüge der Windhühner«, und zwei Jahre, bevor Enzensberger mit der »Verteidigung der Wölfe« auf die Dichterbühne tritt. Lauter markante erste Sätze und Verse sind zu lesen. Als mich damals die Lust überkam, mich auf mein Bett zu legen, beginnt Walser die »Flugzeug«-Geschichte »Gefahrenvoller Aufenthalt«, wußte ich wirklich nicht, wohin das führen würde. Grass gibt im »Vogelflug« der »Windhühner« schon 1956 die ganze Richtung vor: Über meiner linken Braue / liegt Start und Ziel / für immer begründet. Und Enzensberger schreibt »Ins Lesebuch für die Oberstufe« die Zeile des Jahrzehnts: Lies keine Oden, Sohn, lies die Fahrpläne: / sie sind genauer. Einmal und als Erster da, ist Walser immer geblieben – als inzwischen Letzter zusammen mit Enzensberger, von dem jüngst der Gedichtband »Wirrwarr« erschienen ist. Walsers bis dato vorletzte Publikation stammt vom 9. Mai 2020 – ein autobiographisches Aperçu im »Spiegel« über die Befindlichkeit in Zeiten der Pandemie. Und jetzt, heißt es, hat ein Virus alles, was wir waren oder zu sein glaubten, entwertet. Die Neugier des Dreiundneunzigjährigen ist ungebrochen: Ich höre jetzt täglich, wo auch immer ich aufmerksam bin, nur noch Corona. Corona-Neuigkeiten. Ich habe noch nie so oft den Apparat eingeschaltet, weil ich süchtig war, das Neueste über Corona zu erfahren. Er ist sich sicher: Das Virus wird besiegt werden, ausgelöscht, zum Verschwinden gebracht. Und fügt hinzu: Je öfter ich mich genötigt sehe, das Neueste über Corona zu erfahren, umso deutlicher erfahre ich, wie fest gegründet in mir die Sprache der Seele ist.

In Seelensprache geschrieben ist auch das aktuell jüngste Buch, im März 2021 zum 94. Geburtstag erschienen: »Sprachlaub oder Wahr ist, was schön ist«. Dabei hält Walser inne bei der Gattung, die er stets als Mitte und Ziel des Literarischen empfunden hat: der Lyrik. Vierzeiler, Sechszeiler, Achtzeiler, ein längeres, herbes Erzählgedicht, einige Verse auf Alemannisch, stets konzentrierte Kontemplation. Der Band beginnt: Der Himmel glüht, allwissend schweigen die Bäume, / wer’s jetzt noch eilig hat, ist ein Narr. / Existenz pur schwebt mir vor, / Weltmeister will ich sein / durch nichts / als Einbildungskraft. Er endet: Stich mich nicht in die Hüfte, Freund, / zapf mich nicht an, ich wehre mich / nicht, ich bin bedacht und will / bis zum letzten Abend leben. Naturmeditationen über Bäume, den Regentag, den Fluss, den Mond, den leeren Himmel. Einverstanden sein. Dazwischen aber und plötzlich ein Aufbegehren, fast ein Aufschreien: Ich bin überhaupt kein Deutscher / und gehöre dazu, ausgespuckt / von den Tälern in ein Reich. / Selber wankend, hat die Geschichte / uns mitgerissen. Alissa Walsers Aquarelle illustrieren die Gedichte nicht, harmonieren als eigenständige Form aber mit ihnen. Sie durchziehen das Buch mit Linien, Schwüngen, Kurven, Bögen – breit, schmal, Großflächiges aber scheuend. Zurückgenommene Farben, Braun, Blau, Gelb, Grün, kein Rot. Seelensprachenfarben eben. 2017 veröffentlicht Martin Walser gemeinsam mit seinem Sohn Jakob Augstein das Gesprächsbuch »Das Leben wortwörtlich«. Gegen Ende kommt er auf drei seiner Lebensautoren zu sprechen, auf Friedrich Hölderlin, Franz Kafka und den Namensvetter Robert Walser: Hölderlins Hymnen sind nichts als schön. Kafkas ›Prozess‹ und ›Schloss‹ – nichts als schön. Robert Walsers Prosa ist voller Schönheitsbeispiele. Alle drei Dichter seien im bürgerlichen Sinn Gestalten der erlebten, äußersten Verlassenheit. Und auf diese Verlassenheit haben sie als Dichter geantwortet, sie haben die menschliche Existenz verklärt. Gegen die Bedrohung durch Corona hisst Walser im »Spiegel« denn auch Hölderlins Verse aus der »Patmos«-Hymne wie eine Fahne: Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.

Von 1949 an ist der Kleinbürger Walser fünf Jahrzehnte lang den Weg des realistischen Erzählens wie des engagierten Redens und Reflektierens gegangen. Vom achten Lebensjahrzehnt an sucht er mehr und mehr einen Pfad der säkularen Transzendenz, will das Nichts-als-Schöne und damit so etwas wie ein innerweltliches Beseeltsein. Am 24. März 2007, zum achtzigsten Geburtstag, erscheint in der »Frankfurter Rundschau« ein Interview. Er möchte über das Schöne und die Schönheit reden, die Zeitung beharrt auf der »Kleinbürger«-Frage. Sie ist ihm inzwischen lästig, also antwortet er wegwerfend: Mir fiel auf, dass eine Zeitlang alle möglichen Leute, die nichts anderes waren als Kleinbürger, alles sein wollten, nur keine Kleinbürger. Da habe ich mich in die Brust geworfen und gesagt: Ich bin ein Kleinbürger! Kleinbürger sind die, die sich selbst ausbeuten. Bürger sind die, die andere ausbeuten. Es ist natürlich lächerlich. Aber damals hatte man halt diese soziologischen Klischees. Und ich habe sie mutwillig bedient. Dafür darf man bestraft werden. Wenn man so will: Die Strafe folgt auf dem Fuß. Drei Monate später, im bereits zitierten »Zeit«-Gespräch mit Grass, muss er – mehr der Not des Augenblicks gehorchend als dem eigenen Trieb zur Transzendenz – dessen nach wie vor stabiles Bekenntnis zum Kleinbürgertum teilen. So hartnäckig ist Grass, so hartnäckig ist die Soziologie.

Auch wir können vom Thema noch nicht ganz lassen. Aus zwei Gründen nicht – einem zeitgeschichtlichen, den Nationalsozialismus betreffend, und einem, der Walser persönlich wie beruflich trifft. Beginnen wir mit Letzterem. 2009 erscheint bei Suhrkamp, Walsers Verlag bis 2004, der Briefwechsel zwischen Siegfried Unseld und Thomas Bernhard. Siegfried Unseld, 2002 gestorben, ist seit den Tübinger Studienzeiten des frühen Nachkriegs Walsers Lebensfreund, bald auch sein Verleger gewesen. Thomas Bernhard, 1931 geboren und 1989 einem chronischen Lungenleiden erlegen, gehört, wie Walser, zu den literarischen Säulen, ja: Säulenheiligen von Suhrkamp. Bernhards Brief an den Verleger, um den es jetzt geht, datiert vom 26. November 1985 und bezieht sich auf den eigenen, im zurückliegenden Frühjahr erschienenen Roman »Alte Meister« und den zeitparallel publizierten Walser-Roman »Die Brandung«. Bernhard an Unseld: Wenn ich bedenke, mit was für einem gigantischen Werbeaufwand Sie sich über drei Monate lang für Herrn Walsers Buch ins Zeug legen, während Sie für meine ›Alten Meister‹ fast nichts getan haben, … könnte mir die Lust an einer Zusammenarbeit mit dem Verlag schon vergehen. Es gibt zu diesem Brief einige weitere, nie abgeschickte Entwürfe, die der Briefband jedoch wiedergibt, die also seit 2009 ebenfalls öffentlich sind. In einem Entwurf spricht Bernhard von dem absoluten Kleinbürgerschmarren von Martin Walser und fügt dann, die beiden Romane bildlich vergleichend, hinzu: Sie haben in meinen Rolls-Royce nur einen Liter Normalbenzin gegossen und ihn stehen lassen, während Sie in den Opel-Kadett Ihres Freundes vier bis fünf Zusatztanks haben einbauen und mit Superbenzin haben anfüllen lassen.

Im Frühherbst 2012, drei Jahre nach der Publikation des Briefwechsels, ist Walser im Berliner Ensemble mit dem damals neuen Buch, dem Briefroman »Das dreizehnte Kapitel« – dazu mehr im achten Kapitel. Die »Welt« berichtet am 7. September von der Lesung, zunächst aber von einem Hass-Stalker, der vor dem Theater ein Flugblatt verteilt: als Dichter des Mobs und Kleinbürger-Herrenmensch wird Walser darauf beschimpft sowie, Thomas Bernhard zitierend, als Opel Kadett der deutschen Literatur. Zusammengefasst: Ein Kleinbürger (Bernhard) schimpft den anderen Kleinbürger (Walser) einen Kleinbürger, zudem dessen Roman als einen absoluten Kleinbürgerschmarren und Opel-Kadett der Literatur, was ein Hass-Stalker wiederum auf sein Flugblatt schreibt. Auch eine Art Wirkungsgeschichte. Für uns von Bedeutung sind nicht die einstigen Interna aus dem Hause Suhrkamp – welcher Werbeetat für wen und wie viele Buchverkäufe mehr oder weniger deshalb, zudem ein wieder einmal beleidigter, sich zurückgesetzt fühlender Autor. Es geht vielmehr darum, dass eine soziologische Kategorie dazu dient, ein Kunstwerk ästhetisch zu diffamieren. Der Gegensatz zum Kleinbürgerschmarren kann im Grunde ja nur das Signum Groß- oder Weltliteratur (Rolls-Royce) sein, das Bernhard implizit für sich in Anspruch nimmt.

Ich habe beide Bücher unlängst aufs Neue gelesen. Sagen lässt sich: Wohl der Literatur, der in einer Saison zwei solche Romane entspringen. Grundverschiedener könnten sie nicht sein, aber das nimmt nicht weiter Wunder. »Die Brandung«: ein Zeitbild der mittachtziger Jahre, ein in Kalifornien spielender Campus-Roman, ein Buch übers Älterwerden, die Tragikomödie einer Liebe und einer Ehe. In der Summe wie in den Details bis heute fabelhaft zu lesen: Ein typischer Walser am oberen Rand seiner Könnerschaft. »Alte Meister«: ein typischer Bernhardblick in die menschliche Nichtigkeit, eine typische Bernhardbeschimpfung Österreichs, der katholischen Kirche wie der Justiz, der Museumskultur im Allgemeinen wie der Kunsthistoriker im Besonderen. Durch die Situierung der wie stets höchst überschaubaren Handlung im Kunsthistorischen Museum Wien, im immer neuen Umkreisen der »Alten Meister«, im Speziellen des »Weißbärtigen Manns« von Tintoretto, eben nicht nur ein typischer Bernhard, sondern einer am oberen Rand seines Könnens. Wo ist das Problem? Das Ganze zeigt, wie viel Sprengkraft im Begriff wie im Wesen des Kleinbürgerlichen liegt.

Auf ganz andere Weise, aber nicht minder brisant, zeigt sich das Problem im Entwurf des persönlichen Nachworts, das der eingangs erwähnte Historiker Axel Schildt wenige Wochen vor seinem Tod für seine Studie über die »Medien-Intellektuellen in der Bundesrepublik« noch zu Papier bringt. Kurz resümiert er, selbst Jahrgang 1951, die Geschichte seiner groß- und bildungsbürgerlichen Herkunft. Als Wissenschaftler Texten in der Ich-Form eigentlich abhold, scheint sie ihm jetzt unumgänglich. Warum? Weil die NS-Belastung von Teilen der intellektuellen Elite ein alles begleitendes Thema darstellt – wohlgemerkt: Er meint die Elite der Bundesrepublik. Schildts Vater, zwischen 1933 und 1945 in der Ölindustrie tätig, hält sich von den Nazis so gut wie möglich fern, die Mutter, Violinistin von Beruf, kommt mit ihnen nur peripher in Berührung. NS-Belastung: keine. In den 1960er Jahren, der Zeit der Studentenbewegung, will der heranwachsende Sohn und angehende Wissenschaftler gleichwohl Auskunft von den Eltern. Er resümiert: Über den Nationalsozialismus wurde nicht viel gesprochen, und wenn, dann mit einer gewissen Verachtung gegenüber dessen kleinbürgerlicher Kulturlosigkeit. So ist es vielfach gewesen. Nach dem Zweiten Weltkrieg distanzieren sich nicht wenige Angehörige des Groß- und Kulturbürgertums vom untergegangenen Hitlerstaat, indem sie ihn als eine Kleinbürger-Verirrung, als Kleinbürger-Wahn abtun. Dass dies weder historisch noch soziologisch haltbar ist, wissen wir längst. Aber dass in der Bundesrepublik nun junge Autoren, zumal jene der »Gruppe 47«, dass die towering figures rasch zu Repräsentanten werden und sich dabei selbst als Kleinbürger identifizieren, ist weit mehr als eine beiläufige Pointe der Gesellschaftsgeschichte seit 1945.

Martin Walser

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