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Intermezzo 1
»Entweder singen oder saufen«

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Der Sängerberuf: ein Traum und seine Tücken

Lieber Herr Kowalski, zwischen die einzelnen Kapitel Ihrer Lebensgeschichte möchte ich gerne Intermezzi einschieben, die um bestimmte zeitlose Aspekte Ihres Berufs und Werdegangs kreisen. Als erstes würde ich mit Ihnen gerne ein Gedankenspiel unternehmen. Sie haben gerade erzählt, dass Sie als Teenager keine Ahnung davon hatten, wie Sie Ihren Traum, einmal Sänger zu werden, verwirklichen könnten – weshalb Sie zunächst ja auch versucht hatten, sich bei der Komischen Oper für eine Ausbildung anzumelden. Stellen Sie sich also einmal vor, Sie wären ein Berufsberater für angehende Sänger oder für solche naiven Träumer, wie der junge Jochen einer war. Und versuchen Sie dann aus dieser Perspektive, ein paar Fragen zu beantworten.

Die erste lautet, aus gegebenem Anlass: Woran erkennt man eigentlich, welche Stimmlage man hat?

Ich erkenne das meistens schon, wenn jemand zur Tür hereinkommt: an seinem Körperbau, an der Art, wie er geht, an seiner Größe und Statur – das gibt erste Orientierungswerte. Natürlich muss ich einräumen, dass man sich dabei auch täuschen kann … Jeder einzelne kann es für sich selbst dadurch ermitteln, in welcher Stimmlage er sich am wohlsten fühlt. Wenn jetzt eine junge Frau oder ein junger Mann mit dieser Frage zu mir käme, dann würde ich mit ihnen ans Klavier gehen und mir was vorsingen lassen. Und dann würde ich merken, in welcher Lage was passiert – ob die Stimme zur Tiefe hin tendiert oder zur strahlenden Höhe. Sicher, man kann beide Richtungen etwas ausbauen, aber es gibt schon natürliche Grenzen. Und das gilt auch für Countertenöre.

Was nun mein Stimmfach angeht, so muss ich zugeben, dass es oft Zufälle sind, die am Beginn der Karriere stehen: Ich selbst hatte anfangs nur aus Spaß in der hohen Lage gesungen und ahnte gar nicht, dass man daraus einen Beruf machen könnte. Inzwischen aber sind doch viele meinem Beispiel gefolgt. Neulich sprach ein junger Mann aus Georgien, aus Tiflis, bei mir vor, der mit seiner Musikgruppe zwei Tage in Berlin war und mir am Rande einer Probe die Arie LASCIA CH’IO PIANGA vorsang: auf ein Zuspielband mit einem schrecklich kitschig gespielten Orchesterpart. Aber es ging ja um die Stimme, und da war ich wirklich platt, wie schön das klang. Ich habe ihm gesagt, dass er dringend versuchen sollte, diese Stimme an einer Fachakademie wie der Schola Cantorum Basiliensis ausbilden zu lassen. Denn noch war es die reine Natur, die ich zu hören bekam, ein Rohdiamant, und der muss nun geschliffen werden.

Wie kann man feststellen, ob man für den Sängerberuf wirklich begabt ist?

Oh, das wird man erst im Beruf feststellen. Man muss die Ausbildung wagen und braucht dabei einen langen Atem. Mit der Einstellung »Ich will jetzt Karriere machen« läuft jedenfalls gar nichts. Auch darf man sich von Rückschlägen nicht entmutigen lassen, die sind unausbleiblich. Und natürlich braucht man eine gute Portion Glück: Man muss die richtigen Leute zur richtigen Zeit treffen, ob Lehrer oder Agenten oder Leute vom Theater. Manchmal ist es so, dass eine Tür zugeht und sich eine andere dafür öffnet. Ob Wettbewerbserfolge tatsächlich aussagekräftig sind, wenn es um die Befähigung für den Beruf geht, wage ich übrigens zu bezweifeln: Von vielen dieser Preisträger hört man nämlich später gar nichts mehr. Ich finde es viel besser, wenn sich jemand in Ruhe entwickelt und sich nicht beirren lässt.

Wie würden Sie die Gewichtung zwischen Begabung und Ausbildung quantifizieren? Überspitzt gesagt: Könnte jeder, der ein bisschen Stimme hat und fleißig genug ist, Sänger werden?

Sicher nicht. Die echte Begabung ist das A und O, und sie setzt sich durch, selbst wenn die Ausbildung an der einen oder anderen Stelle zu wünschen übrig lässt. Wenn jemand wirklich das Sänger-Gen in sich hat – die meisten allerdings landen doch sowieso im Chor –, dann wird er sich auch trotz Widrigkeiten behaupten. Freilich gibt es leider auch Lehrer, die Talente völlig zerstören und fehlleiten können: Die Zahl der Scharlatane unter den Pädagogen und selbst an den großen Musikhochschulen ist nicht zu unterschätzen. Das ist ein heißes Thema.

Woran merkt man, ob man beim richtigen oder ob man beim falschen Lehrer gelandet ist?

Zum Beispiel daran, ob man nach dem Unterricht immer heiser ist. Man sollte sich auch nicht von Lehrern zu irgendwelchen Übungen bequatschen lassen, die einen nicht weiterbringen. Und man wird rasch merken, ob man in technischer Hinsicht von seinem Lehrer profitiert. Wenn das nicht der Fall ist, sollte man sich umorientieren. Ich selbst habe mich leider viel zu lange als Medium und Aushängeschild benutzen lassen – richtig singen gelernt habe ich erst bei meiner heutigen Lehrerin Jutta Vulpius, die mich seit zehn Jahren unterrichtet. Wenn ich die von Anfang an gehabt hätte – nicht auszudenken, was dann aus mir geworden wäre …

Welche Rolle spielen Charisma und Nervenstärke für den Erfolg?

Na, wer Charisma hat, der hat schon viel gewonnen. Ich kannte dieses Wort lange Zeit gar nicht und bin erst darauf gestoßen, als ich in einer westdeutschen Tageszeitung nach der Premiere von Händels BELSAZAR in Hamburg zu lesen bekam: »der charismatische Daniel des Jochen Kowalski …« Ich dachte: Was, um Himmels willen, ist denn das nun schon wieder? Harald Stamm, mein lieber Kollege, hat mir dann erklärt, dass es sich dabei um etwas ganz Wunderbares handele und nicht etwa um eine Krankheit … Also, wer Charisma hat, genießt große Vorteile. Und wenn dann noch Nervenstärke dazukommt, dann ist das ein Geschenk vom lieben Gott! Aber über die passende Stimme muss man natürlich auch verfügen – Charisma und Nervenstärke tun es allein dann doch noch nicht.

Welche Einschränkungen bringt der Sängerberuf mit sich? Worauf muss ein Sänger verzichten?

Der Sängerberuf ist eine einzige Lebenseinschränkung. Man muss auf vieles verzichten, was andere Leute gerne machen: Herr Kowalski kann auf keine Fanmeile gehen, er muss große Partys bis tief in die Nacht meiden, er sollte nicht zu viel sprechen, er darf nicht viel Alkohol trinken, und manchmal muss er auch die zwischenmenschlichen Beziehungen einschränken. Von morgens bis abends geht es immer nur um die Stimmbänder, um diese beiden kleinen Dingerchen. An die denkt man doch ständig und achtet darauf, dass sie bloß funktionieren. Aber ich habe das nie als wirkliche Belastung empfunden, sondern mir gesagt: entweder singen oder saufen – das ist wie beim Sportler.

Sie haben das Rauchen noch gar nicht erwähnt: Wie steht es mit dem Tabakkonsum bei Sängern?

Rauchende Sänger – das gibt’s. Enrico Caruso zum Beispiel hat permanent geraucht; wie er es dabei geschafft hat, seine Stimme in Ordnung zu halten, ist allerdings sein Geheimnis. Vielleicht hat er ja auch nur gepafft, um seine Nervosität in den Griff zu bekommen. Raucher findet man übrigens öfter unter den Bässen, die überhaupt viel gelassener sind. Denken Sie nur an Kurt Moll und Harald Stamm: Diesen beiden ist es zum Beispiel auch gelungen, mir die Angst vor dem Beruf zu nehmen. Vielleicht prägt das Stimmfach ja auch den Charakter. Bässe zum Beispiel sind in der Regel gesetzter und ruhiger vom Naturell her, Baritone sind schon aufbrausender und rebellischer, und Countertenöre haben überhaupt einen Knall – ich staune manchmal, was ich in Interviews meiner jungen Kollegen zu lesen bekomme. Sie werden zurzeit gerne in so eine Glamour-Ecke gerückt, und das gefällt mir gar nicht.

Wie bekämpft man am besten Lampenfieber?

Die beste Methode, Lampenfieber zu bekämpfen, ist nach wie vor, seinen Part 110-prozentig zu beherrschen. Also üben, üben, üben. Und danach kann man dann gelassener sein und sich sagen: Ich habe alles, was möglich war, gemacht; es klappt alles, ich brauche keine Angst vor technischen Problemen zu haben. Ich kann den Text, ich beherrsche die Noten und muss mich vor nichts fürchten. Von irgendwelchen Tricks, sich zu beruhigen, halte ich wenig. Als es mir stimmlich einmal nicht so gut ging, hat man mir geraten, Bachblüten zu nehmen oder immer irgendwelche Notfalltropfen dabei zu haben. Aber das ist alles Quatsch! Wenn man wirklich ein Problem hat, hilft es nur zu arbeiten, bis die Schwierigkeiten überwunden sind. Dann ist die Aufregung vielleicht immer noch da, aber man kann damit besser umgehen. Übrigens habe ich, wenn ich erst mal auf der Bühne stehe, kein Lampenfieber mehr – vor dem Auftritt dagegen ist es furchtbar, dann male ich mir nämlich immer aus, was alles schiefgehen könnte.

Sollte jemand den Sängerberuf ergreifen, der überhaupt kein schauspielerisches Talent besitzt?

Ach, dafür gibt es doch viele Beispiele … Die stehen da auf der Bühne rum und stellen ihre tolle Stimme aus, ohne sich überhaupt nur zu bewegen. Solche Fälle existierten schon in den zwanziger und den dreißiger Jahren: Leute, die schauspielerisch null Begabung hatten, aber mit einer göttlichen Stimme gesegnet waren. Und denen kann man ja nicht den Beruf verwehren. Auch wenn mir das persönlich nicht gefällt, denn ich finde, dass zumindest Opernsänger beides brauchen: Spiel und Stimme.

Ein junger Sänger steht oft vor schwierigen Entscheidungen: Soll er sich an ein Ensemble binden oder lieber seine Unabhängigkeit bewahren? Soll er an einem mittleren Haus große Partien singen oder an einem berühmten Haus kleine? Soll er in der Provinz beginnen oder gleich die Nähe der Prominenz anstreben?

Ich glaube, man kann dafür kein Patentrezept nennen – es gibt ganz viele Wege, die zum Ziel führen. Bei mir war es zum Beispiel so, dass ich direkt von der Hochschule an ein großes Haus, an die Komische Oper Berlin, kam und dort mit einer kleinen Partie angefangen habe. Und ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob ich mich an einem kleinen Haus in der Provinz wohlgefühlt hätte. Trotzdem: Wenn es heute noch eine richtige Ensemblepflege gäbe, dann würde ich jedem jungen Sänger empfehlen, sich zunächst einmal ein Festengagement in seinem solchen Ensemble zu suchen. Aber es gibt ja leider kaum mehr diese Kapellmeister, die einen jungen Sänger mit Bedacht aufbauen, oder die Ensembles, die einen echten Schutzraum bilden und somit die Möglichkeit bieten, dass sich Talente in Ruhe entwickeln können. Heute verlangt man von den Nachwuchskünstlern, dass sie von Null auf Hundert kommen – das war schon zu meinen Zeiten schlimm, aber dieser Erwartungsdruck hat sich mittlerweile noch erheblich verschärft. Ein guter Weg ist ohne Frage, die Laufbahn in einem Opernstudio zu beginnen – leider gibt es davon viel zu wenige.

Ist es unvermeidlich, sich einer Agentur anzuvertrauen? Worauf muss man dabei achten – und wovor sollte man gewarnt sein?

Ohne Agentur kommt man heute nicht mehr aus. Aber die passende Agentur für sich zu finden ist ähnlich schwierig, wie einen guten Lehrer zu entdecken. Die versprechen einem oft das Blaue vom Himmel, und solange man gut ist und alles läuft, mag das auch okay sein, aber sobald die erste Krise oder der erste Rückschlag eintritt, lassen sie einen hängen. Bei der Wahl der Agentur sollte man also unbedingt darauf achten, wie seriös sie arbeitet – oft können einem dabei auch die Erfahrungen von Kollegen helfen.

Viele junge Künstler, nicht nur Sänger, klagen, dass sie frühzeitig verheizt werden durch ein Übermaß an Reisen und Terminen, glauben aber, gar keine andere Wahl zu haben. In etwa nach dem Motto: alles oder nichts. Ist das eine verständliche oder eine übertriebene Befürchtung?

Man muss lernen, auch einmal etwas abzusagen. Aber wie das heutzutage ist: Jeder will eine CD einspielen, jeder will schnell Karriere machen, jeder will in den bunten Seiten der Opernmagazine erscheinen und über sich lesen: Soundso ist die neue Callas … Der eigene Ehrgeiz und der Medienerfolg stehen der Vernunft allzu oft im Weg. In den dreißig Jahren meiner Sängerkarriere habe ich so viele Kollegen kennengelernt, die regelrecht hochgeschossen wurden – und an die sich heute keiner mehr erinnert. Der Verschleiß ist riesig. Wer länger als ein paar Jahre überdauern will, darf sich nicht allen Erwartungen und Ansprüchen fügen, sondern muss für sich die richtige und gesunde Mischung finden.

Welche Fehler sollte man also auf jeden Fall vermeiden?

Man darf den Verlockungen des Berufes nicht zu sehr nachgeben. Das Zauberwort für die nachhaltige Karriere heißt Nein.

Der Countertenor Jochen Kowalski

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