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Kapitel 1


Sturm und Drang in Heidelberg

Stünde ich vor Gericht, würde mein Anwalt in seinem Plädoyer den klassischen Grund für meine Tat nennen: »Mein Mandant hatte eine schwere Kindheit.« Mein Vater ging (oder wurde vertrieben), noch bevor ich geboren war. Meine Mutter arbeitete sechs Tage die Woche als Sekre­tärin; ich sah sie nur frühmorgens und spätabends und am Sonntag. Wir Kinder, meine Schwester, mein Bruder und ich, waren Schlüsselkinder.

Spätestens jetzt aber würde ich rufen: »Einspruch, Euer Ehren.« Denn diese Sätze zeichnen ein falsches Bild. Ja, meine Mutter hat viel gearbeitet. Aber wie hätte sie uns sonst durchbringen sollen? Ja, es ging bei uns turbulent und chaotisch zu. Und ich war auf zehn verschiedenen Schulen, bis ich irgendwie mein Abitur schaffte. Aber eine »schwere Kindheit«? Das klingt nach Prügel, Lieblosigkeit und Einsamkeit. Das gab es auch, aber nicht nur. Und mit dem Schlüssel um den Hals hatte ich immerhin auch eine Menge Freiheit.

Nur Taschengeld, das gab es nicht. So habe ich eben früh angefangen mit dem Geldverdienen: Als es auf Weihnachten zugeht, kraxele ich auf Bäume, schneide Misteln und verkaufe sie auf dem Weihnachtsmarkt. Dann der nächste Job. Wir haben Mitte der Sechziger, Deutschland ist im Wirtschaftswunder. Überall wird gebaut. Ich klappere die Baustellen ab, sammle dort die leeren Flaschen ein und stecke beim Getränkehändler das Pfand dafür ein. Weil auch dieses Geschäft gut läuft, finde ich schnell Nachahmer. Die Konkurrenz lässt den Umsatz einbrechen, also suche ich mir einen neuen Job, putze die Mietruderboote am Neckar.

Anfang der Sieziger – ich bin gerade fünfzehn Jahre alt geworden – ist mir reine Handarbeit zu aufwendig. Ich nutze die neu aufkommende Drucktechnik und ziehe einen T-Shirt-Druckservice auf. Den Mehrwert schaffe ich durch meine Ideen, entwickle eigene Motive. Das finden die Leute klasse und kaufen meine T-Shirts. Der Top-Spruch ist »Freiheit für Luis Trenker – nieder mit dem Watzmann«. Und im Hintergrund prangt die Watzmann-Ostwand. Aber auch »Ra unlimited« kommt gut an. Ein Motiv mit einer großen Sonne und dem Bezug zum altägyptischen Sonnengott »Ra«.

Doch der T-Shirt-Boom ist schnell vorbei, zudem merke ich, dass ich nicht der klassische Kopfarbeiter bin. Das Denken fällt mir vormittags in der Schule schon schwer genug. Da soll es am Nachmittag tatkräftiger zugehen: Ich fahre Kajak, ein Sport, der mich mein ganzes Leben lang begleiten wird. Außerdem fälle ich Jungwälder aus, das bringt nicht nur Geld, sondern ist auch ein gutes Training. In den kommerziell betriebenen Forsten müssen die Wälder gelichtet und Stämme gefällt werden, wenn sie schlecht gewachsen sind. Ich säge sie mit der Handsäge ab, entaste sie mit der Machete, schleppe sie an den Weg und schichte sie auf. Ein Knochenjob. Aber ich merke, dass mir die harte Arbeit guttut. Zudem werde ich nach Stückzahl bezahlt.

Ich schaffe ordentlich was weg in einer Schicht. So beginne ich den Tag mit einer Stunde Kajaktraining, sitze dann in der Schule meine Stunden ab, ackere im Wald und fahre danach meistens noch einmal zum Training.

Ich wohne mit meiner Mutter zur Untermiete bei einer alten Dame – »Dökterchen« genannt. Frau Dr. Piazolo ist ihr Name. Das Haus im Handschuhsheimer Rosenbergweg ist alt und groß und bietet wenig Komfort. Keine Dusche, dafür ein Waschbecken auf dem Gang, ein gemeinsamer Kühlschrank, in dem wir ein Fach belegen dürfen. Es stört mich nicht, ich nehme es nicht wahr und bin ohnehin ständig unterwegs. Ich dusche nach dem Training im Verein oder schwimme in einem der umliegenden Seen. Mutter sehe ich kaum – sie arbeitet viel, kommt oft müde und abgekämpft nach Hause. Zu Mittag esse ich in der Mensa der Universität Heidelberg; abends, wie es sich gerade ergibt.

Mit 17 Jahren ziehe ich zu Hause aus und finanziere mich selbst. Jetzt wohne ich in einem kleinen Zimmerchen in einem steinalten Haus im Heidelberger Westend. Ich bin ziemlich muskulös, ultrafit, verdiene mein eigenes Geld und habe eine eigene Bude – diese Freiheit habe ich nie wieder aufgegeben. Als ich ein Jahr später auch noch mit meiner neu erstandenen 350er Yamaha durch Heidelberg brenne, fühle ich mich wie ein König. Mein Zimmer ist winzig klein – zwei Meter zwanzig mal vier Meter groß. Dafür aber mit einem eigenen Waschbecken und fast fünf Meter hoch. Aus ein paar Brettern baue ich mir in drei Metern Höhe ein Hochbett, das diesen Namen auch verdient – schraube drei der vier Pfosten gegen die Wand, damit das Ding nicht umfällt. Rauf kommt man nur mit einem Klimmzug und Umsetzung in den Stütz – oder mit einem Felgaufschwung.

In dem Haus wohnt eine bunte Mischung von Leuten – ein arbeitsloser Mathematiker, der begnadet Schach spielt und von dem ich an vielen Abenden die ersten übergeordneten Strategien dieses Spiels erlerne. Ein Student mit einem schwarzen Rauschebart und langen Haaren, der wie ein Terrorist aussieht, Russisch lernt und Gitarre spielt. Eine Kommune von Hardcore-Emanzen, die mit ihren Zeige- und Mittelfingern gerne mal das Scherensymbol machen, wenn im verwilderten Vorgarten die gemeinsamen Diskussionen von den männlichen Hausbewohnern nicht ernst genug geführt werden. Und im Garten dieses Hauses habe ich einen Verschlag gebaut – eine Garage für mein Motorrad. Eine Zeit lang schläft bei schlechtem Wetter ein Penner darin. Kurt heißt er. Er streicht durchs Westend auf der Suche nach Brauchbarem, das er in einem Einkaufswagen vor sich herschiebt. Ich lasse ihn gewähren – schließlich bewacht er auf diese Weise ja mein geliebtes Moped. Überhaupt, dieses Motorrad – es ist ein Stück meiner Freiheit. Wenn ich morgens auf dem Weg zur Schule die Treppe nach unten steige, in den Vorgarten einbiege und auf den kleinen Verschlag zugehe, aus dem ein Stückchen eines ziemlich dicken Hinterreifens herausschaut, dann empfinde ich Stolz und Freude. Schiebe das Moped aus der Garage, drehe es um, trete ein-, zweimal auf den Kickstarter, und dann springt es an mit einem kraftvollen Knattern. Ich lege den ersten Gang ein, rolle raus auf die Landhausstraße, schalte schnell die Gänge durch und komme mit Tempo hundert am Römerkreis an, der mich zwingt, scharf abzubremsen. Ich lege es in die Kurve – vorsichtig noch, denn die Reifen sind kalt. Manchmal, wenn das Wetter schön und mir danach ist, fahre ich spontan an der Schule vorbei und auf die Landstraße. Fahre wild und entschlossen und lasse mir den Wind um die Nase pfeifen. Schaffe es einfach nicht, mich an so einem Tag zu den anderen ins Klassenzimmer zu setzen und Mathe zu pauken. Fahre manchmal ein paar Hundert Kilometer und bin erst zurück, nachdem die Schule schon lange aus ist. Hole mir am nächsten Tag den Ärger ab, für die Freiheit, die ich mir genommen habe.

Ich spüre neben der Lust am Training diese andere Seite in mir: Sehnsucht, Reisefieber, Abenteuerlust. Die Suche nach starken Er­lebnissen. Diese beiden Seiten bestimmen meine Jugend. In der Schule und in der Clique bin ich der, der andere für seine Ideen gewinnen und mit­reißen kann. Dann wieder gibt es Tage, an denen ich mich zurückziehe; ein Einzelgänger auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Und nach dem ganz großen Ding. Und das suche ich vor allem in der Natur. Bei meiner Arbeit im Wald. Und auf dem Wasser. Im Kajak.

Aber ein großes Ding, das mir widerfährt, ist recht profan: Ich schaffe das Abitur am Willy-Hellpach-Wirtschaftsgymnasium. Wider Erwarten. Denn ich war immer unterwegs gewesen – mit dem Motorrad, im Wald, mit dem Kajak.

Es ist für mich nicht nur mein Schulabschluss. Es ist auch das Ende eines Lebensabschnitts. Ich will raus aus Heidelberg und rein ins richtige Leben.


Die erste große Freiheit in meinem Leben war das Motorradfahren. Bis heute trägt es zu meinem zentralen Lebensgefühl – Freiheit – in besonderem Maße bei, wenn ich ein vollgetanktes startklares Moped in meiner Nähe weiß. Jederzeit losfahren zu können, das ist ein Gefühl, das ich nicht missen möchte.

In meinem Büro steht eine 900er Ducati SD »Dharma«, Baujahr 1978. Ein echtes Eisenschwein, zugelassen und fahrbereit. Mit dem Lastenaufzug bringe ich sie für ein paar Wochenenden im Jahr nach unten und dorthin, wo sie hingehört: auf die Landstraße.

Mit diesem Motorrad hat es eine besondere Bewandtnis, denn als es 1978 auf den Markt kam, war es unerschwinglich für mich. Ich lebte damals von ein paar Hundert Mark im Monat, und das Motorrad war so teuer, als wenn es heute 100.000 Euro oder mehr kosten würde – jedenfalls im Vergleich zu meinem Einkommen. Ich fuhr eine gebrauchte 250er RD Yamaha, getunt mit einem 350er-Satz, ein leichtes aggressives Moped, 200 km/h schnell und für einen jungen Wilden eine echte Waffe.

Aber wenn wir in Zotzenbach an der Bergrennstrecke im Odenwald samstags oder sonntags unseren Mut kühlten und dann nach einigen Stunden irgendwo auf einer Wiese lagerten, mit gutem Überblick über die Kurven, dann bekam ich jedes Mal eine Gänsehaut, wenn eine Königswellen-Duc vorbeihämmerte. Die Königswelle, genauer gesagt: die Desmotronik-Zwangssteuerung, ist ein geniales, allerdings hochempfindliches Ventilsteuerungssystem, das von einem deutschen Ingenieur – König – entwickelt wurde. Ein so gesteuerter 900-cm3-Zweizylinder­motor erzeugt in Verbindung mit Lafranconi-Schalldämpfern und offenen 52er Vergasern ein Ansaug- und Abgasgeräusch und eine Vibration – das ist einfach von einem anderen Stern.

Mitte der Neunziger mietete ich ein Lager bei München und war fassungslos, unter einem riesigen Berg alter leerer Kartoffelsäcke genau dieses Motorrad zu entdecken. Für 2.000 Mark und im Tausch gegen meine XT 600 übernahm ich sie vom Eder Bauer. So heißt unser Vermieter und Eigentümer des Bauernhofs, auf dem ich die »Unerreichbare« gefunden hatte.

Wieder hatte sich etwas in meinem Leben manifestiert, was ich mir einmal ganz stark gewünscht hatte. Dann hatte ich diesen Wunsch in meinem Unterbewusstsein irgendwo vergraben. Den originalen Verkaufsprospekt von 1978, den hatte ich aber in meinen Unterlagen, und irgendwie war er immer mal wieder aufgetaucht.

Warum die Hersteller der Maschine den Namen »Dharma« gaben, weiß ich nicht, und ich muss zugeben, dass ich mich in den 70er- oder 80er-Jahren weder mit dieser Frage noch mit der Frage, was Dharma überhaupt bedeutet, jemals beschäftigt hätte. Das hat sich später geändert, und als ich die Kartoffelsäcke beiseiteräumte, bekam ich beim Lesen dieses spirituellen Begriffs eine Gänsehaut. Irgendwie schloss sich so ein Kreis für mich. Denn ich war zu dieser Zeit dabei, mich intensiv mit den buddhistischen Gesetzen des Dharma zu beschäftigen, und nun entdeckte ich dieses Motorrad.

Eines der Gesetze des Dharma besagt, dass es nicht so sehr darum geht: »Was springt dabei für mich heraus?«, sondern eher um die Frage: »Wie kann ich helfen?« Ein anderes Gesetz sagt, dass jeder Mensch ein ureigenes Talent besitzt, ein Talent, das ihn einzigartig macht und ihn von allen anderen Menschen unterscheidet. Das Gesetz sagt, dass dies für jeden Menschen gilt, der auf dieser Welt existiert. Ich habe sehr lange gebraucht, um mein ureigenes Talent zu entdecken – obwohl ich es eigentlich von frühester Kindheit an ausgelebt habe. Andere Menschen dafür zu begeistern, etwas zu tun, einen Weg zu gehen, ein Abenteuer zu unternehmen, hat mir schon immer Freude gemacht.

Vielleicht ist der heutige Erfolg meines Unternehmens gar nicht so sehr das Ergebnis rational richtiger Managemententscheidungen – und damit nicht rational, sondern karmatisch begründbar.

In Schwierigkeiten geraten bin ich eigentlich immer dann, wenn ich verkopft, rein rational, aufgrund von Messungen und Analysen entschieden habe. Solche Entscheidungen haben mich meist in die falsche Richtung bewegt. Immer aber, wenn ich aus dem Bauch heraus mit einem guten Gefühl entschieden habe, sozusagen aus meiner konzentrierten Mitte heraus, dann war es eine gute Entscheidung. Selbst wenn sie mir am Anfang irrational erschienen sein mag.

Überhaupt ist das ständige Testen und Analysieren eigentlich eher ein Zeichen von Unsicherheit. Vielleicht sogar von Angst. Unsicherheit und Angst, die daraus resultieren, dass man selbst den Bezug und das Gefühl dazu verloren hat, was richtig ist beziehungsweise was sich richtig anfühlt. Richtig oder falsch, das sind ja sowieso keine wirklich greifbaren Begriffe. Es ist doch letztlich alles nur eine Frage des Standpunktes. Und damit schließt sich auch der Kreis zu dem, was Buddha als »mittleren Weg« bezeichnet hat: Der mittlere Weg ist nicht das arithmetische Mittel zwischen zwei Extremen, sondern das Erreichen eines Standpunktes, von dem aus betrachtet es eigentlich egal ist, was ist. Von dem aus betrachtet alles seine Berechtigung hat.

So setze ich eben weiterhin einen Fuß vor den anderen und beobachte – manchmal staunend –, wohin der Weg mich führt.

Warum Menschen fliegen können müssen

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