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Kapitel 3


Unterwegs in Sachen Versicherungen

Ich verabschiede mich von Rudolf Niehaus und seiner Familie, fahre mit gemischten Gefühlen von Genf nach Heidelberg, die letzten Kilometer meiner Reise. Natürlich freue ich mich, wieder nach Hause zu kommen. Aber ich weiß, es wird eine Rückkehr in mein »früheres Leben« sein. In mein kleines Zehn-Quadratmeter-Zimmer in diesem Heidelberger Studentenhaus. Passe ich da noch hin und rein? Die Ankunft zu Hause, das Wiedersehen mit Carolin ist schön; ich freue mich wirklich, wieder da zu sein. Ausführlich erzähle ich ihr und meinen Freunden von meiner Reise. Ich bin der Held, der nach dem Kampf mit dem Drachen zurückgekehrt ist und sich jetzt ausruhen will. Aber Carolin und ich »fremdeln« zu Beginn unseres Wiedersehens. Sie spürt, dass ich mich verändert habe – dass ich nicht wirklich zurück nach Hause gekommen bin. Es dauert eine ganze Weile, bis wir unsere Verbundenheit wiederfinden. Und doch – es hat sich etwas verändert. Die unbeschwerte naive Leichtigkeit unserer frühen Liebe ist verschwunden.

Ich brauche nicht lange, dann merke ich, dass mein Zuhause nicht mehr mein Zuhause ist; zu sehr hat mich dieses Abenteuer verändert. Und natürlich merken die Freunde das auch. Heidelberg ist mir plötzlich zu klein, zu spießig, zu langweilig. Ich fühle mich wie ein Tiger im Käfig. Um mich herum ist Weihnachtsrummel: inszenierte Kaufhausromantik, Berge von Geschenken, erzwungene Festtagsharmonie in den Familien. Ich gehöre nicht mehr dazu, weil ich ein anderer geworden bin.

Das neue Jahr beginnt in Heidelberg mit Studentendemos gegen die Erhöhung der Straßenbahnpreise. Um zehn Pfennig. Ich sehe die Studenten skandierend und Fahnen schwingend an mir vorüberziehen. Zehn Pfennig. Vier Wochen zuvor habe ich Menschen im Straßengraben liegen sehen, die sind verreckt, weil sich keiner für sie interessiert hat. Ich begreife nicht, warum diese Leute so viel Kraft und Energie investieren – um pro Straßenbahnfahrt zehn Pfennig zu sparen. Ich stehe am Straßenrand und blicke auf dieses Szenario. Und wieder spüre ich, in einer Intensität, dass es mich beinahe zerreißt: Ich gehöre nicht mehr hierher. Ich bin hier nicht mehr zu Hause.

Ich überlege, wie es weitergehen kann. Ich sehne mich zurück nach Afrika. Aber das kommt im Moment nicht infrage, allein schon deswegen, weil ich nicht nur pleite bin, sondern noch 3.000 Mark Schulden bei Caspars Vater habe. Ich muss schnellstens einen Job finden, der Geld in die Kasse bringt – wie soll es langfristig weitergehen? Ich bleibe gedanklich an der Zukunft hängen, die sich jedem Abiturienten auftut: studieren. Aber was? In der Schule hatte mir Sport immer am meisten Spaß gemacht, das war klar. Das zweite Spaßfach war Biologie gewesen; außerdem hatte ich immer schon Aquarien gehabt. Also: Sport und Biologie. Aber an der Uni einschreiben kann ich mich erst im September, bis dahin ist es noch ein Dreivierteljahr. Das nächste Ziel ist also geklärt. Jetzt ran an die Jobsuche. Wieder im Wald zu malochen, das kommt für mich nicht mehr infrage. Dieses Kapitel ist abgeschlossen. Also blättere ich in den Stellenanzeigen der Rhein-Neckar-Zeitung und stoße auf die Anzeige einer Versicherung: »Versicherungsvertreter für den Raum Karlsruhe gesucht.

3.000 Mark Grundgehalt.« Als Schuldner sehen meine Augen natürlich nur das Geld; da müsste ich nicht lange arbeiten, um Caspars Vater sein Darlehen zurückzahlen zu können. Also los. Ein Freund leiht mir seinen Anzug und zeigt mir, wie man eine Krawatte bindet. Leider kann er mir nicht auch noch mit Schuhen aushelfen, und so mache ich mich mit Anzug und Motorradstiefeln auf nach Karlsruhe.

Das Vorstellungsgespräch führe ich mit einem Herrn Schulze. Er ist um die fünfzig, dickleibig, angepasst, servil. Ich komme gerade aus Afrika, bin Held und Drachentöter. Herr Schulze fragt mich nach meinen bisherigen Berufserfahrungen. Ich lasse mich dazu herab, ihn ein bisschen an meinem Afrika-Abenteuer teilnehmen zu lassen. Herr Schulze wirkt leicht säuerlich. Und wie stelle ich mir meine berufliche Zukunft vor? Ich bringe den Gag von meiner Studienwahl: Sport sowieso und Biologie wegen der Aquarien.

Befremdet von so viel Coolness und Desinteresse beendet Herr Schulze das Gespräch, und ehe ich es begreife, stehe ich draußen auf der Treppe. Oh, denke ich, das ist ja wohl nicht so gut gelaufen. Aber ich weiß nicht so genau, was ich falsch gemacht habe. Ich fand mich ziemlich gut. Ich stiefele gedankenverloren die Treppe runter, als mich jemand anrempelt. Ich gucke hoch: Jungdynamiker, Anzug, Aktentasche, nimmt beim Weiterlaufen immer drei Stufen auf einmal. Bleibt dann stehen, dreht sich um, guckt mich an: hagerer Typ, Hakennase, ganz scharfe Augen, ganz wacher Blick. Ich fühle mich wie ein Kaninchen, das gleich vom Falken gerissen wird. Er fragt mich, wo ich herkomme, und ich sage ihm, dass ich mich da oben gerade vorgestellt hätte, aber dass die so einen wie mich wohl nicht brauchen können. »Na«, sagt Hakennase, »dann kommen Sie noch einmal mit hoch. Schauen wir mal, ob wir nicht doch was für Sie finden können.« Und so marschiere ich mit Heinz Goger, dem Chef der Filiale, an Herrn Schulze vorbei, der uns verdutzt hinterherschaut.

Herr Goger stellt mir die gleichen Fragen wie Herr Schulze, aber anders als sein Mitarbeiter scheint der Chef des Hauses Vertrauen in mich zu haben. »Jetzt fangen Sie erst einmal bei uns an, und dann schauen wir mal, was wir aus Ihnen machen können.« Eine halbe Stunde später bin ich eingestellt. Für 3.000 Mark Grundgehalt. Mit stolzgeschwellter Brust sause ich die Treppe hinunter, auf der ich kurz zuvor noch an mir gezweifelt hatte. Ich habe einen Job – ich habe eine Perspektive. Es waren meine Augen, sagte mir Herr Goger Monate später, als wir Freunde geworden waren und im Heidelberger Restaurant »Pop« beim Abendessen saßen. Noch nie habe er so wilde Augen gesehen, sagte er.

Doch am Montag nach meiner Einstellung zeigt sich mein Leben als Versicherungsvertreter von der ganz harten Seite. Vor dem Geldverdienen muss auch ich wie alle Neulinge in die Weihen und Geheimnisse des Berufs eingeführt werden: vier Wochen Seminar. Kaserniert in der Lüneburger Heide. Es ist Februar, die Landschaft kalt, grau und einsam. Das Seminarhotel hat auch schon bessere Zeiten gesehen, und mein Zimmer ist so klein, dass mein Koffer ans Bett knallt, wenn ich ihn öffne.

Im Seminar um mich herum fast alles mehr oder weniger gescheiterte Existenzen, die es nun noch einmal probieren wollen mit einem Job. Sie saugen alles auf und schreiben fleißig mit, was die dickbäuchigen Dozenten mit ihren gelben Krawatten auf bunten Hemden an Tipps und Tricks so von sich geben. Zum Beispiel, wie man sich in eine zunächst nur knapp geöffnete Wohnungstür reindrängt: lächeln, Blickkontakt, »Guten Tag, ich komme von der Versicherung«, jetzt Griffwechsel, Aktentasche von der rechten in die linke Hand, »Mein Name ist …«, jetzt Hand ausstrecken zur Begrüßung, »Ich bin gekommen, um Sie zu beraten«. Drin.

Und dann die einzelnen Versicherungen. Der Tarif 14 zum Beispiel. Der ist ideal für junge Akademiker, die gerade geheiratet haben und demnächst ein Kind haben wollen. Die haben nämlich trotz Beitragszahlungen in die gesetzliche Rentenversicherung in den ersten fünf Jahren eine Deckungslücke bei Berufsunfähigkeit. Aber dafür sind wir ja da, wir von der Versicherung. Wir können diesen Menschen nämlich ein besonderes Angebot machen: eine Kapitallebensversicherung, kombiniert mit einer Berufsunfähigkeitszusatzversicherung – und das zu überaus attraktiven Kondi­tionen. Doppelte Leistung, wenn die Berufsunfähigkeit durch Unfall ausgelöst wird. Was wir den Akademikern natürlich nicht sagen, ist, dass das Attraktivste daran die Abschlussprovision ist, die wir kassieren.

Ich fliehe. Aber nur in Gedanken. Raus aus dem Seminar. Raus aus der grauen, kalten Landschaft. Ich schaue auf meine Hände; die letzten Blasen sind noch nicht ganz verheilt. Die Haut ist noch braun gebrannt, rissig. Afrika. Was zum Teufel mache ich hier?

Am dritten Abend sitze ich depressiv in meiner Zelle und denke an eine Flucht; das halte ich nicht noch vier Wochen aus. Nicht mit diesen Leuten und nicht in diesem winzigen Zimmer. Andererseits will ich nicht aufgeben. Ich will durchhalten. Aber ich brauche Luft, Raum, Natur. Kurz entschlossen zerre ich die Matratze aus dem Spanplattenbett, greife Bettdecke und Kopfkissen. Fenster auf, raus aus dem Haus, rüber in den gegenüberliegenden Wald. Ich suche mir einen Lagerplatz unter einer großen Eiche und lege mich auf die Matratze. Jetzt fühle ich mich besser. Die Kälte stört mich nicht. Außerdem trage ich alle Klamotten, die ich dabeihabe. Im Hoggar, vor einigen Wochen, habe ich mehr gefroren als jetzt. Zudem habe ich noch so viel Sonne gespeichert, da überstehe ich im kalten Norddeutschland locker eine Februarnacht. Und danach noch eine. Und dann fast jede Nacht in diesen vier Wochen. Tagsüber passe ich mich an, ertrage den Schnellkurs in rhetorischen Tricks und Versicherungstarifen; überhöre die anderen, wenn sie mich wegen meines »Freiheitsticks« aufziehen. Nachts liege ich im Wald und finde zu mir.

Ich halte durch, und nach vier Wochen bin ich offiziell Versicherungsvertreter. Die wichtigsten Tricks und Tipps haben wir Anfänger jetzt drauf, aber natürlich bekommen wir alle an unseren jeweiligen Arbeitsorten noch einen Ausbilder zugewiesen. Meiner, in Karlsruhe, ist – Herr Schulze. Der macht gar keinen Hehl daraus, dass er erstens immer noch sauer darüber ist, dass er mich rausgeschmissen und Herr Goger mich trotzdem eingestellt hat. Und dass er mich zweitens für einen Versager hält. Notgedrungen bildet er mich aus, schleppt mich mit zu seinen Kunden und zu denen, die es werden sollen.

In den Gesprächen merke ich, dass Herr Schulze nicht nur wenig Ahnung von den Leistungen und den Tarifen unserer Versicherungen hat. Er hat auch kein Interesse. Weder an den Versicherungen noch an den Menschen, mit denen er spricht und denen er etwas verkaufen will. Seine Hauptaufgabe sieht er offensichtlich darin, mich niederzumachen, zu beleidigen, zu verachten. Genüsslich erklärt er mir, was es mit den 3.000 Mark Grundgehalt auf sich hat: Jeder Versicherungsabschluss wird intern mit Punkten bewertet. Eine hohe Versicherungssumme bringt viele Punkte. Die 3.000 Mark gibt es nur für die Mitarbeiter, die pro Monat Versicherungen im Wert von 100 Punkten abschließen. Wer keine 100 Punkte schafft, bekommt nur die Pro­visionen. Und wer gar nichts verkauft, bekommt – nichts.

Bei und gegen Herrn Schulze habe ich keine Chance; er wird mich nie darin unterstützen oder anleiten, auch nur eine einzige Versicherung zu verkaufen. So halte ich zwar still, spiele weiter Herrn Schulzes Azubi, aber inoffiziell orientiere ich mich an Herrn Goger. Er ist ein erstklassiger Verkäufer und hat einen sehr guten Draht zu Menschen. Wann immer es geht, versuche ich mit ihm zusammenzukommen, damit er mir von seinen Geschäften erzählt. Er hat tolle Ideen, um an potenzielle Kunden zu kommen.

Er geht zum Beispiel regelmäßig in die Immatrikulationsbüros der umliegenden Unis, plaudert und flirtet dort mit den Mitarbeiterinnen. Ein Strauß Blumen und ein paar Pralinen – und dafür bekommt er Namen und Adressen der Studenten, die gerade ihren Abschluss machen oder vor Kurzem fertig geworden sind. So hat er die Klientel, die im Seminar als ideale Kunden beschrieben worden ist: Akademiker, gerade mit dem Studium fertig, möglicherweise schon verheiratet, werdende Eltern oder sogar schon mit Kindern. Die warten geradezu darauf, dass wir ihnen unsere Versicherungen verkaufen. Haben wir gelernt. Eine andere gute Zielgruppe sind Prostituierte. Das hört sich verrückt an, ist aber knallhartes Geschäft, denn Prostituierte sind die beste Zielgruppe: Sie planen, ihren Job nur ein paar Jahre zu machen, sie sind überwiegend jung, haben meistens noch keine Lebensver­sicherung – und sie haben immer Bargeld. Damit können sie nach der Unterschrift die erste Rate sofort bezahlen, und das bedeutet für den Versicherungsvertreter, dass die Provision sicher ist. Einer hat sich extra einen VW-Bus zum Büro umgebaut, hat stets alle Unterlagen, Prospekte und Verträge dabei und kann so immer gleich zur Sache kommen. Versicherungstechnisch gesehen.

Ich frage Herrn Goger, ob er mir nicht drei Adressen aus seiner Akademikerkartei geben kann. Er hat inzwischen natürlich schon mitbekommen, dass es mit mir und Herrn Schulze nicht so gut läuft. Ich spüre, dass er mich mag, aber natürlich kann er Herrn Schulze, den offiziellen Ausbilder, nicht einfach übergehen. Also macht er aus meiner Bitte eine Ausbildungsübung, indem er Herrn Schulze vorschlägt, dass er, Goger, mich bei einem Kundenbesuch begleitet, um mal zu sehen, wie ich mich so mache; zwei weitere Kunden könne ich dann ja mal allein be­suchen.

Ein paar Tage später sind Herr Goger und ich unterwegs zu einem jungen Architekten im Odenwald. Verheiratet. Ein Kind. Für einen Versicherungsvertreter ein klarer Fall. Ich habe zuvor einen Termin ausgemacht, nun sind wir da. Das Interesse ist groß, auf beiden Seiten; ja, die finanzielle Absicherung sieht momentan noch nicht so gut aus. Also lege ich los. Vier Wochen geballtes Wissen aus der Lüneburger Heide. Ganze Kapitel aus dem Handbuch für Versicherungsvertreter. Die frisch gelernten Rhetoriktricks. All unsere Versicherungstarife. Zukunftsvisionen. Nach einer Stunde mache ich die erste Pause. Und die nutzt der Architekt – und schmeißt uns raus.

Wir sitzen im Auto. Herr Goger ist nicht gerade glücklich, aber ernsthaft sauer ist er auch nicht: »Wissen Sie, Schweizer, das war ungefähr so, als hätten Sie dem armen Mann eine Stunde lang mit dem Holzhammer auf den Kopf gehauen.« Er rät mir, für heute Schluss zu machen, mich auszuruhen und dann ab morgen noch einmal zwei Wochen Schulze zu begleiten. Auf der Rückfahrt vom Odenwald nach Karls­ruhe erklärt er mir ausführlich und geduldig in allen Einzelheiten, was ich alles falsch gemacht habe, und ich muss ihm in allen Punkten zustimmen. Ich habe es komplett versiebt, und zudem ärgert es mich, dass ich Herrn Goger enttäuscht habe. Kein guter Tag heute. Ich grübele noch den ganzen Nachmittag und Abend, mache mir Vorwürfe, frage mich, warum ich nicht gemerkt habe, wie es mit mir durch­gegangen ist. Noch immer deprimiert, schlafe ich endlich ein.

Um fünf Uhr wache ich auf. Ich habe ja noch zwei Karten. Die nehme ich nun in die Hand, lese mir Namen und Adressen durch. Und entscheide mich für eine. Der Mann ist Jurist, hat gerade das Examen bestanden und geht demnächst ins Referendariat. Ohne vorher anzurufen, fahre ich hin, habe Glück, er ist da. Ich bin cool, weiß genau, was ich sage. Und höre nach den ersten Informationen auf. Der Mann stellt viele Fragen. Ich beantworte sie kompetent, freundlich, unaufdringlich. Eine Stunde später unterschreibt er den Vertrag für eine Lebensversicherung. 120 Mark im Monat. Ein Dauerschuldverhältnis über 35 Jahre. Über 50.400 Mark.

Ich bin begeistert. Gestern habe ich an mir gezweifelt, ich war ein Versager, unfähig. Heute bin ich der Chef. Ich fahre ins Büro, zwinge mich dann aber zu Gelassenheit. Ruhig gehe ich zu Herrn Goger ins Büro, lege ihm den Vertrag vor und frage betont unaufgeregt: »Herr Goger, haben Sie noch ein paar Karten?«

Einen Monat später habe ich 5.000 Punkte gemacht, weitere zwei Monate später bin ich der erfolgreichste Verkäufer der Filiale. Ers­tens habe ich irgendwie den Bogen raus, um die Menschen, die Kunden zu erreichen und zu überzeugen. Vor allem aber habe ich von Herrn Goger gelernt, nicht einzelne, zufällige Adressen zu sammeln oder Klinken zu putzen, sondern eine Quelle aufzutun: Herr Goger hat seine Unimit­arbeiterinnen, andere die Prostituierten, und ich habe inzwischen – Handballvereine.

Weil sich die Vereine gegenseitig die guten Spieler abwerben, versucht jeder Verein, seine jungen Spieler zu halten. Mit Geld, aber auch in Form einer guten Alterssicherung. Und die besorge ich. Ich kenne mich inzwischen perfekt aus, kann die besten Tarife und die günstigsten Konditionen anbieten und den Vereinen erklären, wie sie die Verträge mit den Spielern abfassen müssen, damit über das Incentive Versicherung ein Wechsel zu einem anderen Verein für den Spieler weniger attraktiv wird. Ich schließe ganze Serien von Ver­trägen ab.

Überhaupt mutiere ich voll und ganz zum Versicherungsvertreter. Ich habe immer ein Antragsformular dabei, und mir gelingen sogar Abschlüsse in der Kneipe. Es ist wie eine Jagd, die süchtig macht: unten rechts die Unterschrift. Irgendwas geht immer. Den da schreibe ich, denke ich mir – und es gelingt. Es geht nicht mehr um Punkte, um Geld. Es geht um die Trophäe, das unterschriebene Antragsformular. Fragt man uns, wenn ich mit Kollegen abends noch einen trinken gehe, was wir beruflich so machen, dann sagen sie: Anlageberater. Ich sage: Versicherungsvertreter – und checke die Lage, welcher Tarif passen könnte. Ich unterscheide die Menschen zunehmend in ver­sicherbar oder uninteressant.

Mit einem gebrauchten Porsche Targa lasse ich meinen Erfolg sichtbar werden. Man dreht sich inzwischen nach mir um, wenn ich montags zum Jour fixe im Porsche auf den Parkplatz fahre. Schweizer, der Aufsteiger. Gegen so viel Erfolg kommt auch Schulze nicht an; ich merke, dass er mich inzwischen in Ruhe lässt. Der Konzern schickt mich wieder auf Seminare. Aber statt im heruntergekommenen »Seminaris« in der Lüneburger Heide treffen sich Topverkäufer wie ich im Sternehotel im Allgäu oder am Starnberger See.

Und es dauert nicht lange, bis Herr Goger mich zum Gespräch bittet und mir die Leitung der Freiburger Filiale anbietet. Erst jetzt wache ich auf.


Eine Filiale zu übernehmen war das, wovon jeder aufstrebende Vertreter träumte. Chef sein, ein gesichertes Einkommen, Mitarbeiter führen. Das Unternehmen und auch Herr Goger hatten lange überlegt, ob sie mir dieses Angebot unterbreiten sollten, denn bei allem Erfolg: Ich war gerade mal 22 Jahre alt. So waren alle Entscheider nicht nur überrascht, sondern sogar verärgert und enttäuscht darüber, dass ich dieses Angebot offensichtlich nicht zu würdigen wusste und ablehnte. Aber in einer schlaflosen Nacht war mir bewusst geworden: Das ist nicht mein Weg. Ich realisierte, dass ich mich in diesen Strudel hatte reißen lassen, dass ich meine Ziele aus den Augen verloren hatte. Selbstbestimmung und Freiheit. Ich wollte doch nur einen schnellen Weg finden, um meine Schulden zu bezahlen. Dieses Ziel hatte ich längst erreicht.

Ich fühlte, dass dieser Weg zu Ende gegangen war. Und dass meine Seele mit der Arbeit, die ich machte, mit dem Leben, das ich führte, nicht einverstanden war. Ich schaute mir die erfolgreichen Kollegen in unserem selbst ernannten Royal Club an: Sie alle peilten die große Versicherungskarriere an. So war ich nicht. Und so wollte ich auch nicht werden. Ich hatte Angst, dass meine Seele irgendwann die Farben meiner Gedanken annehmen würde. Man muss nur lange genug etwas denken, dann übernimmt die Seele diese Gedanken und macht daraus Empfindungen. Und das waren in Sachen Versicherungen zumindest bei mir keine guten Gedanken. Es gibt Kollegen, die interessieren sich wirklich für die Bedürfnisse des Kunden. Wir nannten sie geringschätzig Berater. Nette Menschen, aber mit kleinen Abschlussquoten und kleinen Einkommen.

Einige Tage nach dem Angebot ging ich zu Herrn Goger. Ich bedankte mich für sein Vertrauen in mich und für sein Angebot. Und sagte ab. Er konnte es nicht verstehen. Ich versuchte es ihm zu erklären: »Herr Goger, ich weiß, dass Sie viel für mich getan haben. Aber ich merke, dass meine Zeit hier abgelaufen ist. Es geht nicht mehr. Ich muss weiterziehen.«

Dieses Gefühl habe ich später immer wieder erlebt. Stets kam ich an einen Punkt, an dem ich merkte: Das war’s. Es war schön, es ist noch schön. Ich habe gelernt, was es zu lernen gab, gemacht, was es zu tun gab. Aber nun muss ich etwas anderes machen. Ich muss weiterziehen. Und wenn überhaupt, trauere ich nur kurz über diesen Abschied. Warum er sein musste und was mir diese Zeit, diese Erfahrungen und auch die daran beteiligten Menschen gegeben haben, wird mir immer erst im Nachhinein klar. Von der Versicherung habe ich gelernt, dass eine Bezahlung auf reiner Provisionsbasis hart ist. Und aus Idealisten rücksichtslose Jäger machen kann.

Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, dann empfinde ich, wie schon nach meiner Afrikareise, eine große Dankbarkeit. Ich hatte viel Glück. Ich hatte Erfolg, Geld, bekam Anerkennung. Und ich habe Heinz Goger getroffen, meinen Förderer und Freund, einen Mann, von dem ich unendlich viel gelernt habe. Über den Job als Versicherungsvertreter, über Kunden, über Menschen, über das Leben. Er war eine Mischung aus knallhartem Verkäufer und verständnisvollem Zuhörer. Mit Staubsaugern hatte er angefangen und ist dann in die Versicherungsbranche gewechselt. Er war Vertreter aus Leidenschaft – und er stand zu seinem Beruf. Während viele Kollegen sich in der Kneipe als Anlageberater ausgaben, hat Goger immer stolz gesagt: Ich bin Versicherungsvertreter. Das hat mich ebenso sehr beeindruckt wie die Tatsache, dass er in der gleichen Kneipe zehn Minuten später einem Gast eine Lebensversicherung verkaufte. Und ich machte es ihm nach. Noch heute erinnere ich mich an seinen Standardwitz: »Wer nichts wird, wird Wirt. Und ist auch dieses ihm misslungen, dann reist er in Versicherungen.« Er lebt nicht mehr, aber immer noch sehe ich sein Gesicht vor mir mit diesen bogenförmigen, dicken Augenbrauen über wachen Augen, die beim Sprechen hoch- und runterwanderten, sodass man gar nicht wegschauen konnte von seinem Gesicht.

Danke, Heinz Goger, für alles, was Sie mich gelehrt haben.

Warum Menschen fliegen können müssen

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