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Kapitel 2


Abenteuer Afrika

Ein Jahr vor dem Abi, in den Sommerferien, war ich mit meiner Yamaha 350 bis nach Marokko gefahren. Auf dieser Reise hatte ich mich gleich dreifach verliebt: in Afrika, in die Wüste und in die Grenzenlosigkeit von Zeit und Raum. Diese dritte Leidenschaft konnte ich auf der Reise aber nicht wirklich ausleben: Im Süden Marokkos, an der Grenze zu Spanisch-Sahara bei Sidi Ifni, dem damals von Marokko und Algerien umkämpften Gebiet, war Schluss; kein Durchkommen. Nächstes Jahr komme ich wieder, dachte ich mir, besser ausgerüstet und besser vorbereitet.

Und so war es dann auch. Meine Afrika- und Wüstentour vom letzten Sommer, die Landschaft, die Weite und die Einsamkeit gehen mir nicht mehr aus dem Kopf, und so beschließe ich, jetzt, nach meinem Schulabschluss, eine zweite Afrikareise zu machen. Dieses Mal soll es grenzenlos sein, mit offenem Ende. Fahren, so weit es mich bringt, jeden Morgen aufstehen und nicht wissen, wo ich am Abend sein werde. Keine Rückkehr planen und damit auch nicht daran denken müssen. Ich stelle es mir wunderbar vor.

Ich weihe Caspar in meine Pläne ein. Er ist mein bester Freund, auch Motorradfahrer, auch er kann sich begeistern für die Freiheit auf zwei Rädern, für Afrika. Aber eine Tour, wie ich sie vorhabe, erfüllt ihn mit Skepsis. Caspars Eltern sind beide Ärzte, sein Vater, Dr. Fritz Thierfelder, ist Radiologe im Ärztehaus Heidelberg, seine Mutter ist Kinderärztin mit eigener Praxis. Die Familie gehört zur guten Gesellschaft von Heidelberg, und auch Caspar gilt nicht gerade als Aussteiger. Er hat ordentlich seine Schulzeit hinter sich gebracht, sein Abitur gemacht und steckt mitten im ersten Semester seines Medizinstudiums.

Wir unterscheiden uns sehr voneinander. Ich bin leicht zu begeistern, sehe eigentlich nie ein Problem (jedenfalls bis es mich auf die Nase haut) und bin stets guter Dinge. Caspar ist intellektuell, gedankenschwer, skeptisch. Er überlegt lange und gründlich, aber wenn er sich einmal entschieden hat, dann geht er seinen Weg. Ich beschreibe ihm Fahrten durch einsame Landschaften, Begegnungen mit fremden, exotischen Menschen, warme Wüstennächte unter sternenklarem Himmel. Und merke, wie es ihn packt. Er gibt zu, dass er im Sommer zwei Monate Semesterferien hat. Aber noch ist er nicht so weit. Ich gebe Ruhe. Und ihm Zeit.

Drei Wochen später willigt er ein. Er kommt mit, aber zum Herbst will er zurück sein und weiterstudieren, egal, wo wir dann sein würden. Abgemacht. Unser Ziel ist Lomé in Togo, gut 9.000 Kilometer Fahrtstrecke, davon 5.000 Kilometer durch die Sahara. Von Lomé will Caspar Anfang Oktober zurückfliegen.

Im Mai machen wir uns an die Vorbereitungen. Wir verkaufen unsere Straßenmaschinen und erstehen stattdessen zwei Yamaha XT 500 – gerade neu auf dem Markt und später der Klassiker schlechthin für Abenteuertouren. 500 Kubikzentimeter, ein Zylinder, wuchtiges Drehmoment, hochbeinig, robust. Für mich geht der Kauf nicht ohne Hilfe: Caspars Vater leiht mir Geld. Und überlässt uns darüber hinaus in den folgenden Monaten seine Garage für die erforderlichen Umbauarbeiten an den Motorrädern. Eine Garage in bester Lage und Wohngegend von Heidelberg, hoch oben am Berg mit einem herrlichen Blick über die Neckar- und die Rheinebene.

Wir legen sofort mit der Schrauberei los: breite Sandreifen, stabile Gepäckträger, ein riesiger Tank. Anders gesagt: weniger Höchstgeschwindigkeit, dafür mehr Leistung bei niedrigen Geschwindigkeiten. Zudem bauen wir dickere Zylinderfußdichtungen ein, damit die Motoren auch schlechtes Benzin vertragen – mit dem in Afrika häufig zu rechnen sein wird. Und natürlich stellen wir ein umfangreiches Ersatzteillager zusammen. Dazu der Papierkram, vor allem besorgt sich jeder von uns einen zweiten Reisepass.

8. August 1979. Es ist fast Mitternacht, und Caspars Vater kommt in die Garage, in der wir seit Stunden auf unseren selbst gebauten Motorradkoffern herumhämmern. 1,6 Millimeter dickes Stahlblech, gebogen und verschweißt. Genügend Platz für das Gepäck einer weiten Reise und stabil genug, auch mal einen Sturz zu verkraften. Caspars Vater kann unseren Enthusiasmus verstehen, aber jetzt beschweren sich die Nachbarn wegen des nächtlichen Lärms.

Wir legen den Hammer aus der Hand, fast dankbar dafür, dass wir nicht mehr weitermachen dürfen. Und es waren ohnehin die letzten noch zu erledigenden Umbauten. »Okay.«, sagen wir und folgen dem Vater ins Haus. Er kümmert sich um unsere Reiseapotheke, stattet uns mit allem aus, was wir auf unserer Reise hoffentlich nicht brauchen werden: meterweise Pflaster und Verbandmaterial, Tabletten gegen Grippe, Durchfall, Infektionen. Kochsalzlösung, starke Beruhigungs- und Schmerzmittel. Auch mit den schweren Geschützen, die man braucht, wenn man einen schwer verletzten Freund auf das eigene Motorrad binden muss, um ihn irgendwohin zu bringen in diesem Meer aus Sand und Steinen, das unser Ziel ist. Dann zieht er eine Spritze mit Koch­salz­lösung auf und reicht sie mir, damit auch ich lerne, wie man Spritzen setzt. Ich drücke die Nadel in Caspars Hintern wie in ein dickes Steak – »pffff«, macht Caspar und revanchiert sich kurz darauf bei mir.

Ich fahre nach Hause in mein kleines Zimmer in der Landhausstraße. Carolin ist da – wir nehmen Abschied. Sie zeigt keine Angst, keine Sorge. Sie ist überzeugt, dass eine gute Kraft über mich wacht und ich unversehrt zurückkomme.

Wir sind schon drei Jahre zusammen. Unberührt sind wir uns begegnet, der wilde halbstarke Motorradfahrer und das schöne Mädchen aus gutem Hause. Nie werde ich vergessen, wie ich in meiner abgerissenen Lederjacke und mit langen Haaren von Carolins Mutter beim ersten Kennenlernen in den Salon gebeten wurde. Auf ein Glas Sherry und gepflegte Konversation. Ich war bei allen Göttern definitiv nicht der Typ Schwiegersohn, den sich die Familie für ihre Tochter gewünscht hätte. Aber wo die Liebe hinfällt, da bleibt sie liegen, das mussten auch Carolins Eltern einsehen.

Auf meinem weiten Weg durch Afrika finde ich fast in jeder großen Stadt auf der Poststation einen Brief von ihr vor. Jochen Schweizer, Niamey, Niger, Poste Restante. Sie weiß, welche Route wir nehmen wollen, und kennt sogar die Alternativen. Ohne viele Worte hat sie mich gehen lassen – und ist in Gedanken doch dabei. Ich danke es ihr, indem ich keinen ihrer Briefe unbeantwortet lasse, und so folgt sie mit einiger zeitlicher Verschiebung unserer späteren Route.

Der nächste Tag. Es ist fünf Uhr früh, am Horizont zeigt sich eine zarte Morgenröte, die Luft ist klar und kalt. Nach Monaten der Vorbereitung beginnt unser großes Abenteuer. Ein rührender Abschied von Caspars Eltern, »uffbasse«, sagt Caspars Vater auf Badisch, nimmt mich in den Arm und drückt auch mich. Dann treten wir die Motoren an. Unsere Maschinen sehen abenteuerlich aus, die riesigen Stahlblechkoffer an den Seiten, auf dem hinteren Teil der Sitzbänke türmt sich das Gepäck fast einen Meter hoch. Und obendrauf noch jeweils zwei Ersatzreifen. Wir rollen die Ludolf-Krehl-Straße hinunter, fahren durch die noch schlafende Stadt direkt auf die Autobahn und steuern den nächstgelegenen Grenzübergang nach Frankreich an, um uns keinen Ärger mit der Polizei wegen unserer überladenen Motorräder einzufangen.

Wir bummeln durch Frankreich, selten schneller als 100 km/h. Erstens haben wir Zeit, zweitens wollen wir Motoren und Material schonen. Die XT hat viel Kraft in niedrigen Drehzahlen, das ist gut. Dafür vibriert ihr Einzylinder aber gern die eine oder andere Halterung ab.

Wir fahren. Nichts weiter. Einfach nur fahren. Ich hänge meinen Gedanken nach, blicke zurück. Das Abitur am Wirtschaftsgymnasium. Für mich war es eine gewaltige Hürde, die sich über mehr als ein Jahr vor mir aufgetürmt hatte. Und die ich dann aber, zu meiner großen Überraschung, irgendwie genommen habe. Und danach? Eine Zeit der Leere und Orientierungslosigkeit, ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Und jetzt der Ausblick auf die kommenden Monate: vor mir die Straße, Frankreich, Spanien, Afrika.

Ich fühle mich so unendlich frei. Kein Plan, kein Ziel, keine Ahnung, was ich mal machen werde. Jetzt fahre ich erst mal. Einfach nur fah­ren, die Kilometer fressen. Es ist warm, die Maschinen laufen ruhig und regelmäßig. Wir haben alles dabei, was wir brauchen, sind unabhängig. Dazu die Lust auf Abenteuer und bei mir das Gefühl, gar nicht zu wissen, wann ich wieder umdrehen, zurückfahren muss. Ich genieße diese Ungewissheit, spüre, wie gut es mir tut, meinem Fernweh nachgeben zu können. So müssen sich früher die Seeleute gefühlt haben, als sie mit ihren voll ausgerüsteten Schiffen zu fernen, unbekannten Küsten aufbrachen und nicht wussten, ob und wann sie in die Heimat zurückkehren würden.

Wenn ich nicht solchen Gedanken nachhänge, singe ich in meinen Helm. Meistens alte Stones-Titel: »Under my thumb, Wild horses.« Auch Jimi Hendrix kommt gut. »All along the watchtower, Hey Joe.«

Bei Sète in Südfrankreich stoßen wir aufs Mittelmeer. Wir biegen rechts ab, folgen der Straße entlang dem Meer, bis wir außerhalb der Ortschaft auf einen leeren, unberührten Strandabschnitt treffen. Sand wie in der Wüste, denke ich, nehme Anlauf und steche schräg von der Straße aus mit 80 km/h in spitzem Winkel in den Strandabschnitt. Aber das schwere Motorrad schaukelt sich schon nach ein paar Metern gewaltig auf, ich gehe vom Gas (Fehler Nr. 1) und versuche mit den Füßen am Boden Halt zu finden (Fehler Nr. 2). Der Strand kennt keine Gnade, und in hohem Bogen segle ich über den Lenker. Ich überschlage mich ein paar Mal, rolle aus und stehe unverletzt auf meinen Füßen – verdutzt und mit viel Sorge um mein Motorrad. Wir sind doch erst 1.000 Kilometer gefahren und noch so viele mehr liegen noch vor uns. Das größere Problem hat Caspar. Er ist schwer deprimiert. 3.000 Kilometer breit ist alleine der Sandstreifen der Sahara, den wir durchqueren müssen, um auf den Atlantik zu treffen – und ich schaffe nicht mal die ersten 150 Meter . . .

Wir reden nichts, während wir mein Moped wieder zusammen­bauen und zurück zur Straße wuchten.

In Algeciras in Südspanien haben wir noch etwas Zeit, bis die Fähre nach Marokko fährt. Wir besuchen Carolins Tante Ursula in einem noblen Hotel bei Málaga, das sie seit einem halben Leben leitet. Hier habe ich schon vor einem Jahr auf meiner Alleinfahrt nach Marokko Station gemacht. Damals war ich ebenfalls von Tante Ursula zu einem edlen Dinner eingeladen worden. Die Gäste schauten irritiert, als die Dame in Begleitung eines jugendlichen Rockers in definitiv unpassender Bekleidung den Speisesaal betrat. Ich war ziemlich unsicher; noch nie zuvor in meinem Leben hatte ich einen so erlesenen Speisesaal betreten. Ich wusste, wie man ein Kajak im Wildwasser bewegt, wo beim Hinterrad meines Motorrades bei maximaler Schräglage die Rutschgrenze liegt und wie man seine Fäuste gebraucht – aber so eine Ansammlung von Besteck rechts und links des übergroßen Tellers vor mir hatte ich noch nie gesehen.

Ursula machte Konversation, sie versuchte herauszufinden, an was für einen Typen ihre geliebte Nichte ihr Herz verloren hatte. Ich kämpfte derweil mit einer Languste, die auf keinen Fall auf meinem Teller bleiben wollte. Fast war es so, als wolle sie dringend zurück ins Meer springen. Ursula betrachtete belustigt meine Versuche und half mir dann beherzt und unprätentiös, die Aufgabe zu meistern. Ich war ganz schön ins Schwitzen gekommen und hatte einen Riesendurst. Genau in dem Moment kam der Kellner mit hochgezogenen Augenbrauen an den Tisch gewedelt und brachte eine riesige Kristallschale voll Wasser, auf dem ein paar exotische Blüten schwammen. Geformt wie eine Champagnerschale, aber fünfmal so groß. Für die Finger, wie ich später erfuhr. Das wusste ich aber nicht, setzte an und trank die Schale mit einem gewaltigen Zug aus. Gerade schaffte ich es noch, ein zufriedenes Rülpsen zu unterdrücken, als ich in Ursulas versteinertes Gesicht blickte. Uuups, dachte ich, habe ich schon wieder was falsch gemacht?, und schaute Ursula mit treuen Augen an, als sich ihr Gesicht erhellte und sie in ein erfrischendes Lachen ausbrach. »Un mas«, beschied sie dem Kellner, der ungläubig schaute, und scheuchte ihn mit einer Handbewegung weg wie ein lästiges Insekt.

Lustig ist es, als Tante Ursula und ich diese Geschichte für Caspar noch einmal aufwärmen. Am nächsten Tag verlassen wir Málaga, um mit der Fähre nach Marokko weiterzureisen. Ursula wünscht uns besorgt alles Gute – irgendwie, glaube ich, hat sie uns ins Herz geschlossen. Als die Fähre in den Hafen einläuft, stellen wir uns den Grenzformalitäten. Einige Deutsche, die vor uns dran sind, werden von den Grenzern abgewiesen, weil sie in ihren Pässen ein marokkanisches und ein algerisches Visum haben. Da beide Länder noch immer um ihre Ansprüche auf Spanisch-Sahara kämpfen, lassen die Marokkaner niemanden ins Land, der in seinem Pass auch ein algerisches Visum hat. Wir haben uns deswegen das jeweilige Visum in zwei verschiedene Reisepässe stempeln lassen.

Unsere erste Station in Marokko ist Fes. Die Altstadt ist so, wie man sie sich in einem orientalischen Märchen vorstellt. Enge Gassen, in denen gehandelt und gegessen wird. Teehäuser, geschäftige Basare. Und Fes hat einen sehr gepflegten Campingplatz, auf dem wir unser Zelt aufschlagen, mit einem grünen Rasen, der so dick ist wie ein Teppich. Etliche Rucksacktraveller campieren hier, Marokkofahrer und auch ein paar Jungs, die ihren Peugeot 504 verkaufen wollen. Caspar baut den Benzinkocher auf, wir wollen kochen. Dieser Benzinkocher hat den Vorteil, dass man ihn mit ganz normalem Benzin betreiben kann. Damit das Ding brennt, muss man erst einmal mit einer kleinen Pumpe, die am Kocher fest installiert ist, einen Innendruck erzeugen. Dann dreht man das Ventil auf, das Benzin entweicht unter hohem Druck gasförmig und brennt dann wie bei einem Propangaskocher. Dabei wird der Kocher richtig heiß, sodass das Benzin weiter im gasförmigen Aggregatzustand bleibt, wenn es durch die Düse tritt. Caspar pumpt. Flucht, weil die kleine Hightechpumpe klemmt. Und reißt den Hebel ab. Nachdenklich betrachtet er den Hebel in seiner Hand, und ich spüre, wie er überlegt: ohne Pumpe kein Gas, ohne Gas kein Feuer. Ohne Feuer keine Nudeln. Heute nicht. Auf der ganzen Reise nicht. Wochenlang ohne Nudeln – ein schrecklicher Gedanke. Ich gehe zu meinem Motorrad und zapfe einen halben Liter Benzin in eine leere Konservendose. Caspar schaut mich fragend an. »Wir müssen Druck auf den Kessel bringen«, sage ich, »und dafür müssen wir ihn nur ein bisschen heiß machen.« – »Hhhmmhh«, sagt Caspar, »das könnte funktionieren«, schaut dabei aber ein bisschen unentschlossen. Ich drehe das Ventil auf, kippe die Dose mit dem Sprit über den Kocher, werfe ein Streichholz hinterher. Rumms macht es, und der Kocher geht mit einem Schlag meterhoch in Flammen auf. Panik breitet sich aus, rund um uns geht’s zu, als hätte jemand in ein Wespennest gestochen. Unsere Nachbarn beginnen hastig, ihr Zelt abzubauen, alles bringt sich in Sicherheit. Caspar und ich schauen uns an, sagen nichts, denken aber das Gleiche: Entweder es klappt, oder es zerreißt den Kocher. Sicherheitshalber treten auch wir ein paar Schritte zurück. Und siehe da, es fängt an zu zischen, aus dem Ventil drückt schon das Gas, entzündet sich zu einer blauen, kreisförmigen Flamme, obwohl der ganze Kocher noch lichterloh brennt – und nach ein paar Minuten setzen wir den Nudeltopf auf. Entwarnung auf dem Zeltplatz. Und Kopfschütteln. Während wir unsere Nudeln mampfen, beschließen wir, das »Anzünderitual« – mit dem wir dann entlang unserer Route wochenlang Angst und Schrecken verbreiten – fortzuführen, bis irgendwann der Kocher den Geist aufgibt. Überhaupt, dieser Kocher: Tage später sitzen wir gemütlich auf unseren Kanistern, kochen Nudeln. In Unterhosen und offenen Motorradstiefeln. Caspar nimmt den Topf vom Kocher, drückt halb den Deckel drauf und versucht das Wasser abzukippen. Stolpert und kippt mir den ganzen Topf voll kochender Nudeln in den Stiefel, in dem mein Fuß wie in einem nach oben gedrehten Regenschirm steckt. Ich springe auf wie von der Tarantel gestochen, versuche den Stiefel loszuwerden. »Jetzt jammer nicht so«, sagt Caspar, als er mir später die Salbe auf die hühnereigroßen Brandblasen streicht.

Wir fahren weiter nach Osten und passieren bei Quida die Grenze nach Algerien. An der Küste finden wir einen wunderbaren menschenleeren Abschnitt und campieren dort. Abwechselnd halten wir die Nacht über Wache an unserem Camp und brechen auf, als die Sonne aufgeht.

Am Abend sind wir in Algier. Da wir keinen Schlafplatz finden, fragen wir auf einer Polizeistation nach, ob wir dort übernachten dürfen. Nach einem kleinen Plausch und einigen angebotenen und angenommenen Zigaretten ist das kein Problem. Am nächsten Tag machen wir einige Besorgungen, einer ist unterwegs, der andere bleibt bei den Motorrädern. Algerien ist 1979 ein sozialistisches Land, die Mangelwirtschaft ist überall offensichtlich. Wir finden Reis, Datteln, rote Soße in Dosen – die sich allerdings später als ungenießbar herausstellt. Noch nie habe ich eine solche Leere in einem Geschäft gesehen; da sind Konservendosen wie Preziosen in einem ansonsten leeren Regal aufgereiht. Ich bin ein Kind des Westens, entstamme einer Überflussgesellschaft, in der alles immer und jederzeit verfügbar ist. Nachdenklich brechen wir schließlich auf, fahren bis tief in die Dunkelheit hinein und suchen uns dann einen Schlafplatz.

Am nächsten Morgen sehen wir, dass wir in der Dunkelheit die fruchtbare Landschaft südlich von Algier verlassen und es schon bis in die Wüste geschafft haben. Staunend schaue ich über die weite Ebene, durch die sich das dunkle Asphaltband zieht.


Angekommen: Atlantikküste Westafrika. [Foto: Dr. Caspar Thierfelder]

Tagelang geht es durch diese eintönige Landschaft. Es gefällt mir, weil man wie auf dem Meer bis zur Krümmung des Horizontes schauen kann, ohne dass ein Zaun oder eine Siedlung die Sicht verbaut. Nach 2.000 Kilometern Straße erreichen wir das Hoggar-Gebirge und Tamanrasset. In Abdullahs »Sahara Bar« finden wir einen Platz für unser Zelt und einen vertrauenswürdigen Wächter. Wir lassen unser Gepäck bei Abdullah und unternehmen Ausflüge rund um die Stadt, bis hoch in die Einsiedelei Assekrem, weit oben in der unendlichen Einsamkeit dieses Wüstengebirges.

Frei von Last und Gepäck probieren wir Methoden aus, um besser durch Weichsand zu kommen. Die beste scheint zu sein: so schnell wie möglich. Das tut zwar in den Knochen und wegen der Belas­tung für die Maschinen auch in der Seele weh, aber je höher die Geschwindigkeit, desto seltener bleiben wir im Sand stecken. Als wir den Trick am nächsten Tag mit den beladenen Maschinen probieren, ist das schon weitaus schwieriger. Immer wieder graben wir uns im Flugsand ein und stürzen. Es ist eine elende Plackerei, die beladenen Motorräder wieder aufzurichten, noch dazu bei gleißender Sonne und sicherlich 50 Grad – im nicht vorhandenen Schatten.


Endlos lange Weichsandfelder. Immer wieder graben sich unsere Maschinen ein … [Foto: Dr. Caspar Thierfelder]


… bis wir lernen, wie es geht. [Foto: Dr. Caspar Thierfelder]

Doch wir merken, dass die Erfahrungen sich auszahlen, fahren jetzt schneller. Die Stürze werden weniger, dafür aber, wenn es uns umwirft, härter. Das muss dann auch Caspar spüren: Er gerät in eine Bodenwelle und wird aus ihr herauskatapultiert, überschlägt sich, kann sich aber vom Motorrad lösen, um nicht von sieben Zentner Stahl und Gepäck erschlagen zu werden. So bleibt es bei ein paar Schrammen, aber sein Motorrad müssen wir einen Tag lang reparieren. Nur den Lenker, den wagen wir nicht gerade zu biegen, aus Angst, ihn abzubrechen. So muss Caspar die folgenden 500 Kilometer bis Agadez in gebückter Haltung fahren.

Wir starten morgens noch in der Dunkelheit, pausieren dann über Mittag im Schatten unserer Motorräder und legen am Nachmittag weitere Kilometer zurück.

Assamakka, die Grenze zu Niger. Wir werden gründlich gefilzt. Was aber wohl weniger daran liegt, dass die Grenzer uns misstrauen, als vielmehr daran, dass an dieser Grenze so gut wie nichts los ist. Da sind zwei Motorradfahrer eine willkommene Abwechslung. Aber schließlich setzt die Hitze den Männern doch zu sehr zu, und sie lassen uns fahren.

Die Piste ist kaum noch als solche zu bezeichnen. Laster haben in der Regenzeit tiefe Spuren gezogen, die nun steinhart sind und in die wir immer wieder hineingeraten. Zudem sind wir inzwischen in einer Dornensavanne angelangt, haben immer wieder platte Reifen. Was für eine Tortur, vor allem bei den Hinterreifen: Gepäck abladen, Seitentaschen abbauen, Rad ausbauen, Reifen runterziehen, was bei den breiten Sandreifen, die wir fahren, besonders schwierig ist. Das Loch im Schlauch zu flicken ist dagegen eine Kleinigkeit. Und dann das Ganze andersherum: Reifen aufziehen, Rad einbauen, Gepäck aufladen. Wenn dann am Abend die fünfte Reifenpanne auftritt, empfindet man neben einer massiven Erschöpfung nur noch dumpfe Wut. Doch nach ein paar Hundert Kilometern verschwinden diese Probleme wieder aus unserem Bewusstsein.

Die Sahelzone. Obwohl wir vorbereitet sind, trifft uns die Wirklichkeit jetzt hart. Plötzlich wird die zu Hause eher abstrakt wahrgenommene Berichterstattung über Dürre und Hunger konkret. Die Menschen, ehemals reiche und stolze Nomaden, verhungern buchstäblich auf der Straße. Ihre Herden sind durch lange Dürren stark dezimiert. Und das nicht nur hier, wo wir gerade sind, sondern in einem 1.000 Kilometer langen und 500 Kilometer breiten Gebiet. Uns ist völlig unklar, wovon die noch Lebenden sich ernähren. Caspar und mir wird bewusst, wie klein unsere eigenen Probleme doch sind. Was ist schon ein platter Reifen, eine gebrochene Speiche?

Nach Tagen erreichen wir Benin, eines der ärmsten Länder der Welt. Hier, so hatten wir in Deutschland gelesen, funktioniert gar nichts. Es gibt keine intakte Regierung, keine Verwaltung und eine korrupte Polizei. Die lernen wir auch schnell kennen. Wir sind noch keine 20 Kilometer im Land, als wir von Polizisten angehalten werden. Wir haben jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder wir diskutieren lange über die unsinnigen Vorwürfe, die uns gemacht werden, und nehmen damit eine Nacht im Gefängnis in Kauf. Oder wir machen kleine Geschenke in Form von Geld oder Zigaretten und können danach sofort weiterfahren. Wir entscheiden uns für die zweite Möglichkeit und fahren gut damit. Leider begegnen wir nach 20 Kilometern bereits den nächsten Polizisten. Auch sie lassen uns nach einer kleinen Gabe weiterfahren. Als aber nach 40 Kilometern die dritte Polizeisperre in Sicht kommt, entwickeln wir eine dritte Möglichkeit, auf eine solche Situation zu reagieren: Wir bremsen vor den Polizisten ein wenig ab – und jagen dann einfach mit Vollgas an ihnen vorbei. Eine Verfolgung kommt nicht infrage, da die Autos der Polizisten im schwierigen Gelände stecken bleiben würden. Ein Telefon gibt es hier nicht, und wenn es eines gäbe, würde es nicht funk­tionieren.

Der Grenzübergang von Benin nach Togo macht keine Probleme. Jetzt sind es nur noch ungefähr 200 Kilometer Piste bis nach Lama-Kara. Ab dort, so hatten wir zumindest gehört, führt eine Asphaltstraße nach Süden bis zur Atlantikküste, bis nach Lomé, 400 Kilometer. Eine richtige Straße – immer wieder stellen wir uns vor, wie das wohl sein wird, auf einem festen Untergrund einfach die Augen in die Ferne zu richten, nicht auf Verwehungen, Spurrillen und versteckte Hindernisse achten zu müssen. Einfach nur zu fahren.

Der Himmel unterbricht unsere Träume, er wird stahlgrau. Die ersten Regentropfen. Wir genießen sie, nach sechs Wochen Wüste hinterlässt das Wasser schmutzige, sandige Spuren auf unseren Gesichtern. Wir halten an, um unsere Regenkombis aus der Tiefe der Packtaschen zu ziehen. Doch bevor ich überhaupt die Reifen losbinden kann, die über den Packtaschen liegen, öffnet der Himmel alle Schleusen: Einen solchen Regen gibt es in Mitteleuropa nicht. Nach weniger als zwei Minuten ist die Straße überschwemmt, und ergeben kämpfen wir uns mit gesenkten Köpfen ohne die Regenkombis durch die Fluten; es dauert nur eine halbe Minute, dann sind wir nass bis auf die Haut. Doch erstens glauben wir, dass afrikanischer Regen zwar heftig, aber kurz ist und die Sonne anschließend unsere Klamotten und uns schnell wieder trocknen wird. Und zweitens sind es nur noch wenige Stunden bis zu unserem Ziel.

Lomé, Togo. Wir versenken unseren Blick in den Atlantik. Nach Wochen der Wüste, Hitze und Sonne. Es ist eine Mischung aus Glück, Stolz und Wehmut. Ja, wir haben die Sahara durchquert, haben Hitze, Pannen, Schlag- und Schlammlöchern getrotzt und uns von Erschöpfung und manchmal scheinbar ausweglosen Situationen nicht beirren lassen. Jetzt sind wir angekommen, unsere gemeinsame Reise ist zu Ende.

Aber noch haben wir ein paar Tage, entdecken die Stadt, das afrikanische Leben, unternehmen noch kleine Ausflüge entlang der Atlantikküste. Auf unseren Streifzügen durch die Stadt treffen wir einen jungen deutschen Entwicklungshelfer. Als er hört, dass Caspar sein Motorrad verkaufen will, ist er begeistert; die beiden einigen sich auf einen Kaufpreis von 2.000 Mark. Ich übernehme das komplette Werkzeug und alle Ersatzteile, um mich für die Soloheimfahrt zu rüsten. Das gibt mir zwar einerseits Sicherheit, andererseits habe ich keine Ahnung, wie ich diesen ganzen Krempel auf meinem Motorrad verstauen soll. Aber bis dahin ist ja noch Zeit, ich habe es nicht eilig mit der Rückfahrt.

Als ich Caspar zum Flughafen bringe, wissen wir beide nicht, was wir reden sollen. Wir haben schwierige und gefährliche Situationen gemeistert, konnten uns blind auf den anderen verlassen – was gibt es da noch zu reden? Wir umarmen uns, dann geht er zum Flugzeug. Ich bleibe so lange, bis der Jet im gleißenden Himmel Afrikas verschwunden ist.

Die nächsten Tage verbringe ich damit, mich auszuruhen. Ich habe keine Pläne, stehe morgens auf, wenn es im Zelt zu warm wird, frühstücke, bummele durch die Gassen von Lomé, lasse mich treiben. Gelegentlich springe ich aufs Motorrad und erkunde die Küste.

Ich richte mich auf einen längeren Aufenthalt in Lomé ein und finde einen geeigneten Platz für mein Camp: neben dem Hotel Tropicana. Das Tropicana liegt außerhalb der Stadt an einem traumhaften Strand – es ist ein Hotel für Touristen, aber auch für deutsche Geschäftsleute.

Schnell freunde ich mich mit den Angestellten des Hotels an: Kellner, Zimmermädchen, Koch und Wächter, sie alle kommen und staunen, was da für ein merkwürdiger Mensch am Strand campiert. Ich erzähle unsere und nun meine Reisegeschichte – und nach ein paar Tagen sind wir so gute Freunde, dass sie mich ans abendliche Buffet lassen, für umsonst.

Was für ein Luxus, was für ein Überfluss. Über Wochen habe ich karg gegessen: Müsli mit angerührtem Milchpulver, Reis, Datteln, Feigen. Jetzt stehe ich vor einem zehn Meter langen Tisch, der überladen ist mit kulinarischen Genüssen. Und alles ist für mich umsonst. Schnell entwickle ich eine Technik, möglichst viel auf den Teller zu packen: ganz unten, entlang dem Tellerrand, flache Steaks, fliesenartig geschichtet. Über die Steaks Gemüse. In die Mitte, sozusagen in den nun entstandenen kleinen Turm, Rahmgeschnetzeltes mit Reis. Und obendrauf ein ganzes Huhn. Bon appétit. Und was an dem Abend nicht mehr reinpasst in den Magen, wickle ich in eine Serviette ein: Frühstück und Mittagessen für den nächsten Tag.

Zunächst habe ich Bedenken, dass sich die »seriösen« Gäste an meiner Essgewohnheit stören, doch es dauert nicht lange, dann bin ich gern gesehener Gast an den Tischen; ein »bunter Hund«, der tolle Geschichten erzählt, während er nebenher seinen Futterberg verputzt.

Für vier Wochen wird das Tropicana meine Heimat – und ich bin der freieste Mensch der Welt. Nach dem reichlichen Abendessen und dem Geschichtenerzählen ziehe ich mich aus dem gediegenen Tropicana in das einfache Leben zurück, krieche in Zelt und Schlafsack. Tagsüber unternehme ich Touren entweder zu Fuß durch die Stadt oder mit dem Motorrad, manchmal sogar mit kleinem Gepäck und einer Übernachtung. Ich fahre ins Landesinnere von Togo, vor allem aber führen mich meine Ausflüge den Atlantik entlang nach Westen bis Ghana, nach Osten bis Benin. Ich erlebe Afrika so, wie ich es mir vorgestellt habe: singende Menschen in bunten Gewändern, unbeschwert wie große, fröhliche Kinder. Nicht ein einziges Mal fühle ich mich bedroht oder in Gefahr. Sondern immer wie einer von ihnen, wie ein weißer Afrikaner. Ein einfaches, aber lebendiges und zufriedenes Leben, das ich noch eine Weile leben kann. Ich zelte am Strand und gebe pro Tag umgerechnet vielleicht eine Mark aus.

Und wenn ich von meinen Ausflügen zurückfahre, ist es fast wie nach Hause kommen. Am Tropicana angelangt, lade ich ab, wasche mich, gehe ins Hotel und treffe dort viele bekannte Gesichter.

Und eines Tages den Mann, der einen entscheidenden Einfluss auf mein Leben haben wird: Rudolf Niehaus. Niehaus ist Inhaber einer in der Schweiz ansässigen, weltweit arbeitenden Spedition. Er ist ein hochgewachsener Mann mit einem hageren Gesicht und hellen, wachen Augen. Im Auftrag der GTZ – der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit mit Sitz in Eschborn bei Frankfurt, der offiziellen Entwicklungshilfegesellschaft der Bundesrepublik Deutschland – soll er Dutzende von Lastern in den Norden von Mali bringen. Dort, in Bourem, am nördlichsten Nigerbogen, hat die Entwicklungshilfe eine Phosphatmühle gebaut.

Ich bin mal wieder im Restaurant des Tropicana mit meinem kunstvoll geschichteten Fressteller unterwegs zu einem Tisch, als mich Rudolf Niehaus belustigt anschaut und dann anspricht: »Wenn du das jetzt hier auf der Stelle aufisst, dann halte ich dich die ganze Woche frei.« Ich überlege kurz: Steaks, Gemüse, Geschnetzeltes und Reis sind kein Problem. Aber das ganze Huhn, das war eigentlich für morgen Mittag gedacht. Doch eine Woche frei wohnen, in einem richtigen Zimmer? Also zögere ich nicht lange, setze mich zu Niehaus und seinen Freunden an den Tisch – und esse unter den staunenden und zweifelnden Blicken der Runde den Teller leer. Großer Applaus. Und Niehaus hält sein Versprechen: Für eine Woche ziehe ich mit Sack und Pack ins Tropicana ein. Wieder denke ich: was für ein Luxus. Und was ich wieder mal für ein Glück habe.

Während meiner Hotelwoche treffen Niehaus und ich uns häufig. Wir spielen Schach, erzählen uns gegenseitig Geschichten, schließlich kurven wir mit dem Motorrad durch die Gegend. Ich merke, dass Niehaus, ungeachtet seiner Verantwortung und Arbeit als Manager und Unternehmer, ein Abenteurer ist. Mehr als einmal schaut er verträumt auf die Maschine und sagt: »Junge, genieße das Leben, diese Reise, solange es geht.« Ich beherzige diesen Rat. Und es fällt mir nicht schwer. Vor allem nicht an den Sonntagen: Im Deutschen Seemannsheim von Lomé gibt’s für alle Seeleute, Afrikafahrer und alle Togolesen, die am Goethe-Institut Deutsch gelernt haben, die Höhepunkte deutscher Kultur: Filterkaffee, von der Frau des Pfarrers selbst gebackene Schwarzwälder Kirschtorte und danach einen deutschsprachigen Film. Heute, vielleicht nicht ganz zur Kirche passend: Leichen pflas­tern seinen Weg, ein Italowestern von Sergio Corbucci. In der Hauptrolle als Kopfgeldjäger und Schurke: Klaus Kinski. Nach Kaffee und Torte sitzen wir im Garten, und als die Dämmerung einsetzt, wird das Kino aufgebaut: der Projektor und zehn Meter davor ein fest gespanntes Laken. Film ab.

Eine Westernlandschaft im Winter, tief verschneit. Und ich sitze mittendrin, draußen, unter Palmen, bei 30 Grad, in Afrika. Klaus Kinski reitet durch den Tiefschnee: schwarze Klamotten, schwarzer Hut, schwarzes Pferd. Er jagt einen schwarzen Sklaven. Ich blicke mich um. Alles Schwarze. Grotesk. Der Sklave versteckt sich in der Scheune. Kinski geht ins Haus, zieht die Frau des Sklaven an den Haaren raus. Und ruft: »Komm raus, dann passiert ihr nichts.« Und der Schwarze kommt aus der Scheune, Kinski knallt ihn ab, packt die Leiche auf sein Pferd und sagt mit seiner leisen, fies klingenden Stimme: »Hoho, wer hätte das gedacht, ein Schwarzer ist doppelt so viel wert wie ein Weißer.« Um mich herum lachen alle. Afrika.

Ein paar Tage später bekommt mein Afrikabild einen Sprung, aber nur einen kleinen. Nachts liege ich im Schlafsack und höre ein Geräusch. Dann spüre ich ein Messer an meiner Kehle. »Money.« Meine Machete liegt unerreichbar unter meiner Liegematte. Ich gebe den unsichtbaren Männern, ich glaube, es sind zwei, meinen Brustbeutel. Und weg sind sie. Als ich aus dem Schlafsack raus bin, renne ich hinterher. Aber sie sind längst über alle Berge. Der Schock sitzt tief. Doch ich bin weder hektisch noch sauer. Ich sitze vor dem Zelt und überlege, was ich tun kann. Als es hell wird, findet man meinen Brustbeutel. Das Geld ist weg. Aber die Pässe und die anderen Papiere sind noch drin. Erleichterung. Und Afrika wird wieder so fröhlich, schön und geheimnisvoll wie vorher.

Am Abend gehe ich ins Tropicana und erzähle Rudolf Niehaus, was vorgefallen ist. Ich frage, ob er mir Geld leihen kann, damit ich nach Hause fahren kann. Er willigt ein – und setzt noch einen drauf: »Ich leihe dir das Geld. Aber du kannst dir auch welches verdienen: In zwei Wochen kommt das nächste Schiff mit Lastern für Niger an. Ich brauche eine Fotodokumentation der Überführung. Wenn du die lieferst, zahle ich dir 1.500 Franken.« Natürlich sage ich zu. Ich bin von seiner Großzügigkeit beeindruckt. 1.500 Franken sind weit mehr, als ich für die Heimreise brauche. Und ohne genau zu wissen, was mich erwartet, sicher auch ein sehr gutes Honorar für die Fotodokumentation. Der Deal ist perfekt. Niehaus fügt noch hinzu, dass er sich freuen würde, wenn ich auf meiner Rückreise bei ihm in Genf vorbeikäme. Ich verspreche es ihm.

Zwei Wochen später bin ich im Hafen von Lomé. Geleitet wird der Konvoi von zwei Feldwebeln der Bundeswehr. Sie geben den schwarzen Fahrern klare Anweisungen, aber ich merke, dass der Ton nicht der richtige ist. Ich würde es anders machen, würde versuchen, aus den einzelnen Fahrern ein Team zu bilden. Doch ich bin beherrscht genug, die Klappe zu halten. Dann gehen wir auf die Reise.

Ich lerne viel. Dass zum Beispiel die Passierscheine für die Grenze gefälscht werden. Gefälscht werden müssen, weil es gar keinen offiziellen Weg gibt, an diese Papiere zu kommen. Und dass jeder irgendwie daran verdient. Ich lerne, dass die vielen Polizeikontrollen nicht dem Schutz von irgendwem dienen, sondern dass die Schmiergelder fürs Weiterkommen das Haupteinkommen der Polizisten sind. Ich lerne, dass Afrika ganz anders ist, als ich dachte. Wieder ein Sprung in meinem Afrikabild. Und dieser Sprung wird mit jedem Tag, mit jedem Bakschisch, mit jeder Fälschung größer. Das ist nicht mehr mein Afrika. Und ich bin auch plötzlich nicht mehr der Sonnyboy auf dem Motorrad, sondern der reiche Weiße, der mit einem LKW-Konvoi unterwegs ist.

Obervolta. Wir kommen durch ein Dorf, halten an. Ich schaue mich um, mache Fotos. Menschen, Erwachsene, vor allem aber Kinder haben wässrige Blasen auf der Haut. Die Feldwebel klären mich auf: Die Krankheit wird durch Bakterien ausgelöst, das körpereigene Wasser sammelt sich in den Blasen, die Menschen trocknen aus. Und sterben. Antibiotika können helfen. Aber es gibt keine in den Krankenstationen.

In eine dieser Stationen schaue ich rein. Das Wort »Krankenstation« täuscht. Es gibt nichts, was nach Krankenhaus, Arztpraxis oder Medizin aussieht. Ein leerer Raum, wie eine ausgebrannte Garage mit Sperrmüll darin. Die Kranken liegen auf der Erde, vielleicht gerade noch eine Decke als Unterlage. Ein Sanitäter, erkennbar an der Rot-Kreuz-Binde am Ärmel. Das ist alles. Nicht einmal zu essen gibt es für die Kranken. Wer keine Familie oder Freunde hat, die ihn bekochen, verhungert.

Ich trete an das Lager eines Jungen, er ist schätze ich, vielleicht zwölf Jahre alt. Diese scheußliche Blasenkrankheit ist bei ihm schon sehr fortgeschritten. Ich schäme mich. Ich bin reich, ich bin gesund, ich habe immer Glück im Leben. Ich finde heraus, wo die Eltern des Jungen wohnen, fahre zu ihnen. Dort gebe ich dem Vater 150 Mark, damit er mit seinem Sohn in die nächste Stadt, ins nächste Krankenhaus fahren kann. Ich weiß nicht, warum ich das tue. Aber ich merke, dass es sich gut anfühlt. Ich gebe ein bisschen von der Großzügigkeit eines Rudolf Niehaus weiter. An Menschen, die es nötiger haben als ich. Und ich gebe Afrika ein wenig von dem zurück, was es mir gegeben hat. Denke ich.

Der Konvoi hat trotz, vielleicht aber auch wegen des Feldwebeltons sein Ziel erreicht. Mit dem Buschtaxi fahre ich zurück nach Lomé. Ich nehme mein vorheriges Leben wieder auf: Mein Camp ist neben dem Hotel, tagsüber Ausfahrten mit dem Motorrad, abends den Bauch vollschlagen am Buffet. Und vor den Gästen, vor meinem Publikum den bunten Hund geben, den mit den tollen Geschichten. Dass das alles nicht mehr richtig passt, merke ich nicht sofort. Erst an dem Morgen, an dem ich aufwache, den Kopf aus dem Zelt strecke und, ohne vorher daran gedacht zu haben, zu mir sage: Jetzt fahr ich heim. Einfach so. Ich spüre, dass mein Afrika-Abenteuer, dass meine Zeit hier abgelaufen ist. Zumindest für dieses Mal.

Aber Afrika hält noch eine Bewährungsprobe für mich bereit. Es wird die größte und härteste dieser Tour. Vor mir liegen 9.000 Kilometer, davon 5.000 durch Wüste, Hitze und Einsamkeit. Lebensbedrohlich, wie sich herausstellen sollte. Vor allem aber: Ich bin allein.


Selbstauslöser: Zentralsahara, Tanzerouft. [Foto: privat]

Auf der Hinfahrt sind wir die Ostroute gefahren, jetzt will ich die Sahara auf der Tanezrouft-Strecke durchqueren. »Tanezrouft« bezeichnet den heißesten Teil der Zentralsahara und bedeutet »Land des Durstes«. Eine andere Übersetzung: »die Wüste der Wüsten«. Unter Afrikafahrern hat diese Route aber einen anderen Namen: »la piste bidon cinq«, die Piste mit den fünf Fässern. Gebaut von den Franzosen im Ersten Weltkrieg. Wobei »gebaut« übertrieben ist: Ein paar Laster im Konvoi stellten alle 300 bis 400 Kilometer ein mit Sand gefülltes Ölfass auf, fertig. Die Fässer sind auf einer Strecke von 1.700 Kilometern die einzigen Markierungen. Keine Menschen, keine Häuser. Kein Wasser oder Benzin. Der heißeste Teil der Erde. Und da mittendurch will ich. GPS gibt es noch nicht, von Astronavigation habe ich keine Ahnung. Also bleibt nur der Kompass. Und die Hoffnung, jedes der fünf Ölfässer zu passieren. Ohne Umwege, denn dafür werden Wasser und Benzin nicht reichen.

Mein Ziel ist eine Asphaltstraße, die von Norden aus durch die algerische Wüste führt, bis nach Reggane. Ich fahre von Süden nach Norden. Im Süden liegt das besonders schwierige Gelände, und die Maschine ist wegen der Wasser- und Benzinvorräte noch besonders schwer. Niemand, den ich vor unserer Abfahrt in Deutschland befragt habe oder jetzt hier in Afrika danach frage, kennt jemanden, der das Tanezrouft mit dem Motorrad von Süden nach Norden allein durchquert hat. Und ich bin allein.

Ich mache mich an die Vorbereitungen für diese Fahrt. Der Aufbau meiner Maschine ist ursprünglich dafür konzipiert, vier 20-Liter-Kanis­ter zu tragen. Zwei Kanister für Wasser, zwei für Benzin. Zusammen mit dem normalen Tank ergibt das 65 Liter Benzin. Meine Reichweite beträgt somit bei einem Verbrauch von sieben Litern pro hundert Kilometer 900 Kilometer. Da auf meiner geplanten Route im ungünstigsten Fall 1.700 Kilometer ohne Benzin liegen, muss ich mein Fassungsvermögen auf 125 Liter erhöhen; ich muss also insgesamt sieben Kanister mitnehmen und irgendwie an der Maschine befestigen.

Ich löse dieses Problem, indem ich die Packtaschen völlig entleere und in jeder Packtasche zwei Kanister unterbringe. Mein Gepäck sortiere ich noch einmal durch. Alles, was ich nicht unbedingt brauche, bleibt zurück. Schließlich ist alles verstaut, und ich mache eine Probefahrt: 300 Kilometer bis ins Nachbarland Benin. Dort, in Cotonou, besorge ich mir bei der algerischen Botschaft das Visum für die Einreise. Alle Ka­nister, Beutel, Säcke und Taschen bleiben dran und halten – auch noch, als ich wieder in Lomé an meinem Camp ankomme.

Abfahrt. Ich verabschiede mich von Lomé, meiner Heimat der letzten zwei Monate. Meine erste Etappe sind die 1.200 Kilometer von Lomé nach Tillabéri im Norden Nigers. 700 Kilometer davon sind Piste. Ich will so viele Kilometer wie möglich schaffen, fahre fast ohne Pause und brauche deswegen nur drei Tage. In Tillabéri endet nicht nur der Asphalt, hier ist auch die letzte Tankmöglichkeit. Bis zur nächsten Tankstelle sind es 1.700 Kilometer.

Als ich an die Tankstelle fahre, kommen die Bewohner des Städtchens von überall her angerannt. Ich muss ihnen vorkommen wie ein Mensch von einem anderen Stern. Blond, bärtig, dazu mit einem Motorrad, das kaum noch als solches zu erkennen ist, überall hängen Säcke, Teile und meine sieben Kanister. Die tanke ich nun einen nach dem anderen voll. Dann den eigentlichen Benzintank. Und schließlich die beiden Wasserkanister. Als ich fertig bin, wiegt die XT ungefähr neun Zentner. Ich fühle mich, als würde ich einen schweren Panzer fahren, aber einen mit nur zwei Rädern.


Selbstauslöser: Zentralsahara, Tanzerouft. [Foto: privat]

Stürze ich wieder einmal mit Maschine und Ladung in einem der ausgedehnten Weichsandfelder, beginnt eine schweißtreibende Prozedur: entladen, Maschine aufheben, zu einem festeren Untergrund schieben, manchmal mehrere Hundert Meter. Dann das im Weichsand liegende Gepäck zur Maschine schleppen. Aufladen. Aber ich schaffe es bis Gao. Dort treffe ich einen Kanadier namens Bob Vance, einen früheren Buschpiloten. Er lädt mich in sein Haus ein, und hier erhole ich mich eine Woche lang von den Strapazen. Mit Schlafen, Essen und eiskaltem Bier. Und sammle so Kraft für die große und schwerste Etappe meiner Reise durch die Zentralsahara.

Sie beginnt damit, dass ich stürze, in der Nähe von Tessalit, dem Grenzposten zu Mali. Bei dem Sturz löst sich einer der Benzinkanis­ter aus seiner Befestigung, segelt durch die Luft, schlägt auf und entzündet sich. Glücklicherweise brennt das Benzin weit genug vom Motorrad entfernt. Aber jetzt fehlen mir 20 Liter Benzin, und ich werde es mit dem restlichen Benzinvorrat nicht bis zur nächsten Tankstelle schaffen. Ich fahre nach Tessalit und versuche, dort Benzin zu bekommen. Offiziell ist das unmöglich, aber über dunkle Kanäle, Schmiergeld und Beziehungen gibt es wohl eine Chance. Ein paar Tage dauert es, dann habe ich meine 20 Liter beisammen – und dafür rund 100 Mark bezahlt.

So kann ich endlich weiterfahren, aber nach nur wenigen Kilometern ist schon wieder Ende: Weil ich nur nach Kompass fahre, gerate ich in militärisches Sperrgebiet. Soldaten halten mich an, nehmen mich, ihre Gewehre auf mich gerichtet, fest und bringen mich zurück nach Tessalit. Sie nehmen mir meinen Pass ab. Auch den Motorradschlüssel kassieren sie ein. Sie befehlen mir, mein Zelt neben der Polizeistation aufzubauen. Anschließend werde ich verhört, darf dann zurück zu meinem Lagerplatz, werde aber bewacht. Sieben Tage geht das so: Die Situation scheint ausweglos zu sein, ich kann den Kommandanten nicht davon überzeugen, dass ich kein Spion bin, sondern nur ein Abenteurer auf dem Weg nach Hause. Er wartet auf Order aus Bamako.

Nach einer Woche beschließe ich zu fliehen. Ich habe meinen Pass mit dem algerischen Visum und den Ersatzschlüssel tief im Gepäckberg versteckt. Der einzige Fluchtweg geht nach Norden, weiter in die Wüste. Bis zur malisch-algerischen Grenze sind es 160 Kilometer, bis zum algerischen Grenzposten Bordj-Mokhtar weitere 20. Unauffällig packe ich meine wichtigsten Utensilien zusammen, lasse aber mein Zelt zurück, damit mein Bewacher, der oben auf der Veranda der Polizeistation sitzt, keinen Verdacht schöpft.

Als es dunkel ist, lege ich mich in voller Montur in den Schlafsack, den Helm neben mir. Sobald die Sonne aufgeht, will ich mich davonmachen; eine Nachtfahrt wäre zu gefährlich, da der Scheinwerfer der XT nicht sehr hell ist. So liege ich mit klopfendem Herzen, schlaflos, und erwarte den Morgen. Schließlich, nach schier unendlich langen Stunden, dämmert es am Horizont. Ich steige leise und langsam aus dem Schlafsack. Ebenso leise setze ich den Helm auf und nehme den Lenker in die Hände. Schlüssel rein, umdrehen. Ein Tritt, und der Motor läuft. Oben springt der Wachmann auf und ruft aufgeregt.

Ich springe auf, erster Gang rein, ab geht’s. Der Wachmann springt runter, stellt sich mir in den Weg. Inzwischen bin ich schon im dritten Gang und rase mit 50 Sachen auf ihn zu. Er springt im letzten Moment beiseite.

Ich fahre, so schnell es geht, doch es dauert nicht lange, bis ich in einiger Entfernung hinter mir einen Landrover bemerke, der mich verfolgt. Ich höre Schüsse. Ich ducke mich und mache mich so klein ich kann, als ich merke, dass die feste Piste zu Ende ist und der Boden weich wird. Sosehr mich in den letzten Wochen Weichsand zur Verzweiflung gebracht hat, jetzt rettet er mich. Hier haben meine Verfolger keine Chance, denn ich kann mit meinem Motorrad im Weichsand viel schneller fahren als der Geländewagen. Nur stürzen darf ich nicht. Alles gelingt, ich bin frei und wieder unterwegs.

Abends erreiche ich den algerischen Grenzposten. Die Grenzer werfen einen Blick auf das gültige Visum und winken mich ohne weitere Fragen durch. Jetzt beginnt die Fahrt durch den Sand, durch den heißesten Teil der Sahara. Die Tage, an denen ich mich allein mit meiner überschweren Maschine hier durchkämpfe, sind erfüllt von immer wiederkehrenden Handlungen. Die stete Suche nach dem richtigen Weg, nach Spuren im Sand. Die ständige Konzentration auf das Fahren, das ängstliche Registrieren aller mechanischen Motorgeräusche. Die Hochgeschwindigkeitsfahrt durch immer längere Weichsandfelder, Stürze, Pannen: eine gerissene Kette, ein gebrochener Simmerring, die gerissene Gepäckhalterung. Aber ich kann alles zumindest so weit reparieren, dass ich weiterfahren kann. Immer wieder lasse ich einen leeren Benzin- oder Wasserkanister zurück. Mein Motorrad wird leichter.

Die Wüste ist nicht schön. Für mich liegt der Reiz dieser ausgebrannten Landschaft in ihrer Stille und Unendlichkeit. Gerade auf einem Motorrad kann ich mich dieser Umgebung nicht entziehen. Ich bin Teil der Wüste, mittendrin. Ich nehme alles in mich auf – die Kühle eines Felsenschattens, den Duft der Dornakazie, den heißen, steten Wind der Sahara.

Fahren ist leben. Vom Morgen bis zum Abend und durch die Nacht. Eins sein, dahinfegen, den Wind im Gesicht, das Vibrieren der Maschine im Körper, die nach vielen Tausend Kilometern inzwischen eins ist mit mir. Kraft, Freiheit. Eine Art Rausch. Ich will nur fahren, fahren, alles hinter mir lassen.

Ich übernachte dort, wo die Dunkelheit mich überrascht. Mit der Nacht kommt die Kälte. Von tagsüber 50 Grad fällt die Temperatur nachts unter den Gefrierpunkt. Trotz der immensen Anstrengung am Tag liege ich abends lange wach, neben mir die nach Öl und Benzin riechende Maschine und über mir ein unendlicher Sternenhimmel, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen habe. Dieser unendlich scheinende Nachthimmel über der Wüste ist so nah, so dicht, dass man nicht das Gefühl hat, man liege am Boden und sehe die Sterne über sich. Aufgrund der extrem trockenen, klaren Luft wirken die Sterne zum Greifen nah, sie leuchten um mich herum. Ich liege mit müdem Körper und einem Gefühl der Über-Wachheit in diesem Meer von Sternen. Irgendwann schlafe ich ein und habe einen dieser Träume, in denen ich unterwegs bin, frei fliegend in diesem Meer von Sternen. Bis die Sonne in die Kapuze meines Schlafsacks dringt und mich zurück in die Realität holt – in diese unendliche Weite aus Sand, Geröll und Felsen. Ich bin mittendrin, allein, mein einziger kleiner Fixpunkt in einer unendlichen Ebene, in der sich Luftspiegelungen bilden. Zu Fuß wäre ich verloren, aber dieses Stück Technik neben mir macht die Weite überwindbar. So löse ich mich in meinen Gedanken aus dieser Wüste, aus dieser Reise, denke an mein Leben, an meine Zukunft, während ich meine Sachen zusammenpacke und mich auf den nächsten Teilabschnitt der weiten Fahrt vorbereite. Ich denke an Carolin und wünsche mir, sie könnte das alles durch meine Augen sehen. Was wird nach Afrika sein, was werde ich machen, wie werde ich leben? Über mir das Universum. Wie klein sind meine Probleme, wie kurz die Zeit meiner realen Existenz in der Ewigkeit. Irgendwann kicke ich den Motor an, lege mit leisem Klacken den ersten Gang ein und rolle los. Nach Norden. So geht es Tag für Tag.

Als ich nach meinen Berechnungen auf der Höhe von Reggane bin, spüre ich eine große Anspannung. Noch immer sind um mich herum nur Sand, Geröll und Steine. Mein Blick wechselt ständig zwischen dem Sand, dem Gelände vor mir und dem Horizont.

Da wird ein flimmernder Streifen unter dem Himmel zum dunklen Band im Sand. Ich habe es geschafft. Ich fahre bis an den Rand des Asphalts, halte an, steige ab. Die Anspannung und die Anstrengungen der letzten drei Wochen fallen von mir ab. Ich setze mich in den Sand, schließe die Augen. Die Straße. Ich habe mein Ziel erreicht. Ich empfinde keine Euphorie, keine überquellende Freude, sitze nur ruhig da und fühle, dass ich es nach Hause schaffen werde. Aber auch, dass hier an diesem Punkt etwas Großes, etwas Unbeschreibliches zu Ende geht.

Es ist schon fast dunkel, als ich auf meinem Weg nach Norden die erste Ansiedlung erreiche. Ich gehe auf eines der Häuser zu, trete ein. Eine Gruppe von Männern sitzt um ein Feuer. Wir verständigen uns durch Zeichen, denn sie sprechen nur Arabisch. Sie geben mir zu essen und zu trinken, wollen wissen, wo ich herkomme und wo ich hinwill. Die Männer beeindrucken mich. Sie sind authentisch, echt, schlanke Gesichter, Hakennasen über schmalen Lippen, dunkle, wache Augen unter geschwungenen Brauen. Sie bieten mir ein Lager für die Nacht, gerne nehme ich an.

Am nächsten Morgen ist es wieder eisig kalt, dennoch muss ich weiter. Die Männer sitzen alle wieder zusammen am Feuer, essen Brot und Käse und trinken heißen Tee. Wir verabschieden uns herzlich, und ich bedanke mich per Zeichensprache für ihre Gastfreundschaft. Dann dröhnt der Motor mit der schweren Last weiter nach Norden.

Die Orientierung ist jetzt, auf der Straße, kein Thema mehr – dafür spüre ich, immer noch mitten in Afrika, ein anderes Problem: Kälte. Es ist Mitte Dezember, die Straße führt durch das Atlasgebirge – und plötzlich bin ich mitten in einem Schneesturm. Es wird eiskalt, ich habe nur einen offenen Helm, keine Handschuhe, und bin nach einer halben Stunde total durchgefroren.

Ich laufe gerade in meinen Wüstenklamotten ein paar Mal rund ums Motorrad, um wieder aufzutauen, als ein LKW auftaucht, abbremst und bei mir anhält. Im Fahrerhaus und auch auf der Ladefläche sind Araber, tief vermummt. Sie begreifen sofort, in welcher Situation ich stecke, und ohne lange Erklärungen laden sie das Motorrad auf den Laster. Ich darf im beheizten Fahrerhaus mitfahren. In ihrem Ort, den wir nach kurzer Fahrt erreichen, laden sie das Motorrad ab, vor dem Haus des Dorfältesten. Bei ihm darf ich übernachten, die Yamaha steht sicher im Innenhof seines Hauses.

Algier. So groß, so laut, so viele Menschen. Ich fühle mich wie ein Fremder. Ich nehme mir noch ein paar Tage Zeit, erhole mich von meiner Wüstenreise und wappne mich für den Wiedereintritt in die Zivilisation. Denn, das merke ich schon jetzt, es wird nicht einfach sein, wieder ein normales Leben zu führen. An nur einem Ort. Mit immer denselben Menschen.

Natürlich will ich mein Versprechen gegenüber Rudolf Niehaus halten und fahre nach Genf. Was für ein Gegensatz: eine schöne Stadt mit weißen Häusern, sauberen Straßen, wohlhabenden Einwohnern. Und ich: völlig abgerissen nach dieser Reise. Bärtig, dreckig, lange verfilzte Haare, sonnenverbrannt, die Hände voller Blasen, die Haut abgeschabt, verbrannt, die Klamotten in Fetzen, 20.000 Kilometer Afrika hinter mir. Mit meiner XT, in die ich bei jedem Tanken einen halben Liter Öl kippen muss und die beim Fahren mit höchstens noch 80 km/h eine entsprechende Rauch­fahne hinter sich herzieht.

Ich fahre in einen der noblen Villenvororte von Genf ein. Eine kleine Zufahrtsstraße, ein Park, Alleebäume, Auffahrt. Und dann, am Ende der Auffahrt, auf einem Hügel, die klassische Villa: leuchtend weiß, Säulen, gepflegter Garten. Ich stelle mein Motorrad ab, gehe auf die schwere bronzene Eingangstür zu und klingele. Es dauert eine Weile, dann geht die Tür auf, aber nur einen kleinen Spalt weit. Und dann sofort wieder zu. Nach ein paar Sekunden geht die Tür wieder auf, und eine feine Frauenstimme fragt: »Vouz êtes Jochen?« – »Oui«, sage ich, »ich bin Jochen. Ich komme gerade aus Afrika.« Dann geht die Tür ganz auf, und Rudolfs Frau bittet mich ins Haus.

Ich bin angekommen. Klamotten ausziehen, am besten gleich alles verbrennen. Dusche. Seife. Shampoo. Und danach ein werbungsweicher weißer Frotteebademantel. Ich bin Mensch, jetzt auch wieder nach den Regeln der Sauber-Gesellschaft. Der Wechsel vom Wüsten- ins Villenleben macht mich fast schwindelig. Ein riesiges Wohnzimmer mit Blick über den Genfer See. Und vor mir ein Teller voller Sandwiches. Aha, so kann man auch wohnen; bislang war für mich das Haus von Caspars Eltern der Inbegriff von »Schöner Wohnen« gewesen.

Am Abend kommt Rudolf Niehaus nach Hause. In allen Einzelheiten will er wissen, wie es mir ergangen ist auf meiner Reise. Wieder spüre ich den Abenteurer in ihm, habe den Eindruck, dass er, der nach geltenden Maßstäben alles hat, gerne dabei gewesen wäre. In diesen drei Tagen, nach wochenlangem Schweigen, brechen die Geschichten aus mir heraus. Ich genieße das Haus, den Luxus, gutes Essen. Aber am meisten beeindruckt mich Rudolf Niehaus selbst. Nicht sein Reichtum, nicht das, was er mir materiell hier bietet, sondern seine Ehrlichkeit, seine Offenheit, seine Großzügigkeit. So möchte ich später auch mal werden: zielstrebig, erfolgreich, aber doch authentisch, locker, großzügig.

Zwischen den Gesprächen mit Rudolf und seiner Frau schlafe ich viel, erhole mich und komme nach und nach auch gedanklich am Ende meiner Reise an. Eine Mischung aus Glück und Wehmut überkommt mich: Ja, ich habe es geschafft. Nein, ich wollte und will nicht ankommen, die Reise soll nie zu Ende sein. Ich spüre, dass diese Reise, die Abenteuer, die zum Teil lebensbedrohlichen Gefahren mich verändert haben. Gerade erst habe ich mein Abi geschafft, aber jetzt fühle ich mich gereift, in mir ruhend, und habe das Gefühl, dass Ankommen nichts Bleibendes ist. Und ich ahne, dass ich in meinem weiteren Leben in vielen Situationen, bei vielen Menschen noch mehr anecken werde als bisher.


Über 30 Jahre sind seither vergangen. Aber in meiner Erinnerung ist alles noch genauso präsent wie damals. Diese Fahrt entsprach meinen Wünschen und Idealen: spontan leben und entscheiden. Keine Termine, keine Verpflichtungen, aus der Situation heraus und in den Tag hinein leben. Grenzenlose Freiheit, das Gefühl eines langen Fluges durch eine end- und zeitlose Landschaft. Natürlich war ich noch jung und naiv, geprägt von einer romantischen, leidenschaftlichen Sehnsucht nach Afrika, nach allem Fremden und Exotischen, da gab es für mich nichts Böses. Selbst der Überfall im Zelt hat an dieser Sehnsucht und an meiner Liebe zu diesem Kontinent nichts geändert: Die Täter haben mir mein Geld genommen – ich habe den Tribut für meine Hautfarbe bezahlt.

Weit mehr getroffen hat mich eine Enttäuschung, die ich zwei Jahre nach meiner Motorradfahrt durch Afrika erleben und verarbeiten musste: Ich führte einen LKW-Konvoi durch Obervolta, und wir kamen durch dasselbe Dorf, in dem ich zuvor den Eltern des kranken Jungen Geld für die Fahrt ins Krankenhaus gegeben hatte. Natürlich wollte ich wissen, wie es »meinem« Jungen inzwischen ging, und fuhr zu den Eltern. Sie waren da, der Sohn nicht. Er war gestorben. Aber nicht im Krankenhaus, denn der Vater war gar nicht mit ihm in die nächste Stadt gefahren. Stattdessen hatte die Familie meine 150 Mark genommen, um zu überleben – dafür musste der Sohn sterben. Ich war fassungslos, fragte noch einmal nach. Aber es war und es blieb so. Ich rannte aus dem Haus, kämpfte mit den Tränen. Ich fühlte mich hintergangen und getäuscht. Dieser Mann, dieser Vater, hatte mir einen weiteren Teil meines Afrikatraums genommen; der Sprung im Bild war jetzt so groß, dass das Ganze nicht mehr zusammenhielt. Natürlich habe ich später erkannt, dass Enttäuschungen Teil des Lebens sind. Und notwendig, um erwachsen zu werden.

Diese Afrikareise aber war und ist weit mehr als das Ausleben jugendlicher Reiseromantik und die Erkenntnis, dass die Welt, auch und gerade in Afrika, nicht nur gut ist. Diese Reise hat mich verändert und mein Leben geprägt – und zwar weit mehr, als es meine höchsten und gefährlichsten Bungeesprünge, meine Erstbefahrungen der wildesten Wildwasser und all meine anderen Abenteuer gemacht haben. Denn sie hat mich die Dinge gelehrt, die in meinem späteren Leben als Stuntman, Unternehmer, aber auch als Vater und Mensch so wichtig wurden und es immer noch sind:

Erfolg braucht eine Vision, einen Traum, an den du glaubst und den du wirklich wahr machen willst. Nur der Glaube daran gibt dir die Kraft, durchzuhalten und anzukommen. Erfolg braucht Training. Unglaublich viel Training. Ich hätte den weiten Weg nach Hause sicher nicht geschafft, wenn ich nicht im Jahr zuvor schon 10.000 Kilometer von Europa nach Afrika und zurück gefahren wäre. Wenn ich nicht mit Caspar den weiten Weg nach Togo gemacht hätte. Denn allein die Kraft und Technik, die nötig sind, um ein so schwer beladenes Motorrad durch die Wüste, durch den weichen Sand zu fahren, die bekommst du nur durch Training. Und durch den Glauben daran, dass du es kannst.

Wer sich abspeisen lässt mit der Aussage: »Das geht nicht«, der kapituliert, ohne es versucht zu haben. Wer etwas wagt, geht das Risiko ein zu verlieren. Wer nie etwas wagt, verliert garantiert.

Damals ist mir auch klar geworden, dass der Erfolg den Misserfolg bedingt. Das klingt vielleicht widersprüchlich, ist aber eine fundamentale Lebens­erfahrung: Gerade im Zusammenfallen von vermeintlichen Gegensätzen zeigt sich das Leben von seiner intensivsten Seite, und zwar im Geschäftlichen wie im Persönlichen. Wir denken viel zu häufig in Entweder-oder-Kategorien und liegen damit meist daneben. Wer immer nur versucht, Misserfolge zu verhindern, wird keinen Weg zum Erfolg finden. Wer immer nur gewinnen will, ohne Rücksicht auf Verluste, wird zum ungeliebten Einzelgänger. Es klingt vielleicht kurios, aber ich bin überzeugt, dass es sogar gut sein kann, wenn Taten scheitern. Entscheidend ist, ob man Rückschläge verkraften, daraus lernen und die hierdurch gewonnene Energie in neue Taten umsetzen kann. Über das Ergebnis meiner naiven 150-Mark-Hilfsaktion war ich enttäuscht, aber ich habe gelernt, dass Moral oder Wertesysteme höchst subjektiv sind. Es ist zwar nicht das eingetreten, was ich bewirken wollte. Hätte ich aber erst gar nicht versucht zu helfen, hätte ich erstens selbst nichts über die Welt gelernt, wären zweitens vielleicht auch Vater und Mutter des Jungen gestorben. Seitdem versuche ich, Misserfolge als eine Chance zu betrachten, die mir das Leben schenkt. Wenn mir etwas misslingt, dann frage ich mich immer: »Für was kann das gut sein?«

Niemals werde ich vergessen, was ich gefühlt habe, als ich mich mit meiner überschweren Maschine allein durch den heißesten Teil der Zentralsahara gekämpft habe. Als ich morgens auf einer Anhöhe erwachte, auf der ich mich nach langer Fahrt schlafen gelegt hatte, und einfach nur, noch halb im Schlafsack sitzend, ans Motorrad gelehnt meine Augen über diese endlose Landschaft gleiten ließ. Da war niemand, so weit ich sehen konnte, Hunderte Kilometer nur Stille und unendliche Weite. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich so dasaß, ohne zu denken. Irgendwann muss ich dann aufgebrochen sein.

Danke, Afrika.

Warum Menschen fliegen können müssen

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