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Sommerski in Mecklenburg
Der Winterüberfall hatte mit Kirschen zu tun. Im heißen Frühsommer hatten sie sich prächtig entwickelt, allerdings gab es nicht zu viele.
„Auf die Vögel musst du achten“, sagte meine sonst etwas karge alte Nachbarin und stellte eine Vogelscheuche auf. In jenem Sommer hatte ich mich aus beruflichen Gründen – und um mich gegen die gesellige Versuchung der Altonaer Bars und Kneipen abzuhärten – in die Weiten Mecklenburgs verfügt und ein Haus am See gemietet.
Als ich eines Abends in meinem Garten saß und mir die noch milde Sonne ins Gesicht scheinen ließ, nahm ich eine Bewegung in den Zweigen meines Kirschbaumes wahr. Ich blickte genauer hin und erkannte am Stamm eine blaue Kunststoffschüssel, aus der es weiß leuchtete. Was ich genau gerufen habe, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls plumpsten zwei Jungen aus dem Blattwerk des Baumes auf die Wiese, ein kleiner Eimer schlug auf den Boden und dunkelrote Kirschen kullerten heraus. Sie rappelten sich auf, griffen in das Weiße der Schüssel und starteten ihren Winterangriff.
Der erste Schneeball traf mich an der Schulter. Er zerplatzte und ich spürte den kalten nassen Schnee an der Wange. War das wirklich Schnee? Dem Unglauben folgte das Staunen: Ja, es war Schnee, weiß und kalt und nass. Und das Staunen wandelte sich in ein Gefühl heftigster Empörung, als mich der nächste Schneeball mitten im Gesicht erwischte. Die Schneekristalle rutschten an meiner Nase entlang. Es roch nach Schnee und es schmeckte nach Schnee, Pappschnee. Ich stellte mir kurz vor, es wäre Winter. Aber trotz des Schnees in den Augenwinkeln sah ich grünes Laubwerk, mit Kirschen rot gesprenkelt, und zwei verwischte Jungs, die über den Zaun verschwanden. Mit dieser Episode begann in dem kleinen Ort die Wintersaison.
Die Jungen waren schnell ausfindig gemacht, im ganzen Dorf gab es nämlich nur zwei. Obwohl sie ihr Kirschvorhaben langfristig und gründlich vorbereitet hatten, war ihnen diese Tatsache entgangen. Zehn Minuten später zeigte sich der Kirschenraubzug für die beiden Urheber als ein einziger Schlag ins Wasser. Zerknirscht standen sie vor ihrer Großmutter, die ihre Seelen durch den Fleischwolf drehte. Angesichts dieses Bildes überkam mich Großmut. Die Jungen hatten die Tiefkühltruhe des verstorbenen Großvaters für ihre Zwecke genutzt. Der hatte dort früher sein Hammelfleisch eingefroren. Im Winter wollten die Jungs noch keine Vorstellung davon gehabt haben, dass die Frischobst-Versuchung auf ein nicht mehr kontrollierbares Maß anschwellen könnte. Gramgebeugt beteuerten sie ihre Winterliebe. Und als der Schnee im Frühjahr taute und der Winter stöhnte, da retteten sie ihn eben. Zumindest teilweise – in die Gefriertruhe. Damit auch im Sommer ein bisschen Winterlust aufkäme.
„Für etwas frische Kühle habt ihr ja schon gesorgt“, sprang ich ihnen bei. Dankbar griffen sie diesen Faden auf und erzählten mit großen Augen von den Wonnen beim Schneemannbauen. Das winterliche Reden ließ auch die großmütterlichen Grundsätze schmelzen und mit den Jungs war auf einmal gut Kirschen essen. Ich erzählte ein bisschen von meinen früheren Skiurlauben in Tirol.
Als ich am nächsten Abend die Glocke des Verkaufwagens hörte, der hier mit seinen Lebensmitteln über die Dörfer fuhr, überkam mich die Lust auf ein Eis am Stiel, denn es war noch immer sehr heiß und ich hatte tagsüber viel geschwitzt. Der alte Fiete war gerade mit seinem Einkauf fertig geworden. „Du kannst also Skilaufen“, sprach er mich an.
Das klang eher nach einer Feststellung. Als er noch als Zimmermann gearbeitet hat, habe er auch auf den höchsten Gebäuden keine Höhenängste, aber ein gutes Gleichgewichtsgefühl gehabt. „Wer so gut die Balance halten kann, der kann doch auch Skifahren, oder?“
Ich äußerte einige Bedenken und wunderte mich, dass der wirkliche Kirschen-Diebstahl in dem kleinen Dorf offensichtlich schon vergessen war, nicht aber die mit den verschiedensten Absichten geäußerten Winterfantasien.
Doch dann vergaß ich zunächst das kurze Gespräch. Als ich mir wenig später ein paar Kirschen zum Nachtisch pflücken wollte, lehnte sich meine alte Nachbarin über den Zaun und fragte, ob Skilaufen genauso wäre wie Schlittschuhlaufen. Im Fernsehen hatte sie gesehen, wie ein Skifahrer erfolgreich vor einer Lawine weggefahren war. „Die Lawine kam nicht hinterher.“ Und dann holte sie zu der entscheidenden Frage aus: „Geht Skilaufen auch ohne Skilift?“
Ich zupfte mich an meinem Ohr, man braucht keinen Lift, natürlich, sogar ein Trockenkurs wäre denkbar. Ich sagte: „Ja, das geht.“ Ich hatte gerade meinen folgenreichsten und wichtigsten Satz in diesem Jahr gesprochen. Ich wurde Skilehrer. Skilehrer in Mecklenburg. Das Märchen begann.
Wir trafen uns zweimal die Woche am frühen Abend in meinem Garten. An der höchsten Stelle steht das Backsteinhaus, ungefähr zehn Meter über dem See. Das ist nicht sehr viel, aber für die Gegend gar nicht schlecht. Im Dorf gibt es keine höhere Erhebung. Der Garten fällt zum See hin ab, allerdings nicht gleichmäßig. Dadurch ist der Hang in einigen Partien etwas steiler. Und für die Fantasie sind steilere Hänge natürlich anregender, genauso wie beim richtigen Abfahrtslauf.
Mit Gekicher und Räuspern zogen sich alle Handschuhe und Mützen an und ich sorgte für einen schönen stillen Schneefall. Ich bat alle Teilnehmer, für einen Augenblick die Augen zu schließen, und beschrieb mit ruhiger Stimme die Schneeflocken, die wie an unsichtbaren Fäden langsam und gleichmäßig herabschwebten. Nach und nach begann alles weiß zu werden, die Baumkronen hellten auf und bekamen einen Überzug, das gegenüberliegende Ufer schien ferner gerückt, frischer lockerer Schnee lag vor unseren Skiern, die Welt im Schneegestöber wurde leiser. Und meine Stimme auch.
Wir begannen den Skikurs mit dem Schneepflug, denn Fiete und meine Nachbarin waren schon über Achtzig. Da wird Sicherheit großgeschrieben. Sie mussten lernen, in jeder Situation abbremsen zu können. In Wirklichkeit glitten oder rutschten sie natürlich nicht den Hang hinunter, sondern standen still auf der Stelle. Dies war eine der vielen Gelegenheiten, bei denen sie die Fantasie bemühen mussten, und ich natürlich auch. Wir bildeten also ein V mit den untergebundenen Brettern oder Ästen und belasteten die gedachten Innenkanten. Nur bei Fiete waren sie nicht gedacht, der hatte seine Kanthölzer gehobelt und mit Stahl beschlagen. Dann nahmen wir in beide Hände einen Stock und belasteten zuerst das rechte, dann das linke Bein, um das Kurvenfahren zu lernen. Und um nicht im Schuss geradeaus in den See fahren zu müssen. Der See ist übrigens schon nach einigen Metern so tief, dass man mit Skiern an den Füßen ertrinken könnte. Vor allem Großmutter war nicht nur wasserscheu, sie konnte nicht schwimmen und hatte panische Angst, zu ertrinken. Deshalb ließ ich den See zufrieren. Ich war sozusagen der Winter. Auf diese Weise war es nicht so schlimm, wenn die Kurventechnik noch nicht ganz klappte, denn man konnte den Schwung auch bei einer Schussfahrt auf der Eisfläche auslaufen lassen. Schlittschuhfahren kann jeder. Ein schöner Erfolg: Nach der ersten Woche konnten alle, ohne zu stürzen, den Abhang hinunter bis zum See fahren.
In der zweiten Woche übten wir, den Talski zu belasten und den Bergski leicht anzuheben. Die beiden Jungs schlugen vor, sich diese Bewegung nicht nur vorzustellen, sondern sich von einem Bein auf das andere zu stellen, um das richtige Gespür zu entwickeln. Neuerungen gegenüber bin ich immer aufgeschlossen. Ich griff den Vorschlag auf und belohnte die beiden Jungs, indem ich sie wie ein Tiroler Skilehrer Buben nannte. Wir simulierten den Parallelschwung und alle wirkten am Ende der Woche glücklich. Niemand sprang von dem Skikurs ab, im Gegenteil, ein Schäfer stieß neu hinzu, der am Ortsrand in seinem Wagen wohnte. Wir alle brauchen hin und wieder Gefahren in unserem Leben, weil der Alltag so langweilig ist. Deshalb steigerte ich die sportlichen Ansprüche.
Als der Hang zum See eines Tages mit Maulwurfshügeln übersät war, übten wir das Buckelpistenfahren. Die beiden Buben legten sich ständig auf die Nase, bis sie dann konzentrierter und rechtzeitig in die Knie gingen. Auch Fiete hatte sich zu viel vorgenommen. Er meinte, er sei mit der Skispitze im Schnee hängen geblieben und habe sich das Bein gebrochen. Immer wenn er an sein Bein dachte, spürte er den Schmerz. Jedenfalls verzog er das Gesicht.
„Er hat ein Wirklichkeitsproblem“, sagte die Nachbarin, „er hat den Schmerz im Kopf und meint, er wäre im Bein.“
Doch niemand wollte sich auf solche schwierigen Überlegungen einlassen. Als praktische Frau ging sie mit Fiete in dessen Werkschuppen neben dem Hühnerstall, wo er sein Material sammelte, und machte ihm dort einen gewaltigen Gipsverband. Als er getrocknet war und Fiete ihn vorführen konnte, schien er sehr glücklich. Mit Schwung und Geschick nahm er unter allgemeinem Beifall die Buckelpiste. Dass man mit einem gebrochenen Bein eigentlich nicht weiter Ski läuft, sondern erst einmal aussetzt, verriet ich nicht. Fiete lief weiter, der Skikurs ging in die vierte, siebte und zehnte Woche, in der vierzehnten nahm sich Fiete den Gips ab, die Monate mit R begannen.
Im Oktober waren wir so weit, dass wir uns an den schnellen Abfahrtslauf machen konnten. Wir fuhren unser erstes Rennen. Alle gingen leicht in die Hocke, verlagerten das Gewicht nach hinten, die Jungs, bis sie fast umfielen – und los ging’s. Der Schnee stob seitlich hinweg, in den Kurven schabten die Kanten und wir warfen sprühende Schneefahnen, die Geschwindigkeit griff unter unsere Ski, der See flog uns entgegen. Wir spürten den Fahrtwind im Gesicht, und als wir am Ufer ankamen, tränten uns die Augen. Nur bei der Nachbarin tränte gar nichts. Sie hatte geschummelt – und gab es auch zu. Sie wollte gar nicht erst die Hügel hinunterfahren, sondern gleich am Ufer sein. Das ging natürlich nicht. Dennoch blieb sie stur: Sie hielt nichts von hohem Tempo und von Rennen. Sie wollte in eleganten Schwüngen abwärtsfahren.
Das Rennen gewannen übrigens die Buben. Sie waren gleichzeitig mit mir am Ufer, aber ich war als der Coach nur außer Konkurrenz mitgelaufen.
Als wir uns im November auf meiner Seehangwiese versammelt hatten und ich über die Gewichtsverlagerung beim Wedeln redete, fing es an zu schneien. Zuerst tanzten einige Flocken aus den tief hängenden grauen Wolken. Sie wurden immer dichter, bis die Luft von grauweißen Wirbeln erfüllt war. Es schien, als senkten sich die Wolken immer mehr herab und lösten sich über unserem Hang auf. Der See war nicht mehr zu sehen. Wir rückten einander näher, um uns nicht aus den Augen zu verlieren.
„Ein Traum wird Wirklichkeit“, sagte die Großmutter. Der Schnee dämpfte ihre Stimme.
„Jetzt fehlen nur noch richtige Ski“, sagten die Buben.
Ich stellte das Programm um auf Tiefschneefahren. In den kommenden Tagen fror der See tatsächlich zu, in der Weite war das Eis mit Schnee bedeckt, am Ufer war es blankgefegt, der Wind hatte ganze Arbeit geleistet – um jeden einzelnen Schilfhalm in Ufernähe bildeten sich kleine Schneeberge.
Als ich im Dezember über spiegelglatte Kopfsteinstraßen nach Hause fuhr, sah ich einen ungewöhnlichen Menschenauflauf vor meinem Haus. Eine Frau mit einer Pelzmütze schälte sich aus der Gruppe heraus und trat ein paar Schritte auf mich zu. Sie hatte rot geschminkte Lippen und graugrüne Augen. Sie lächelte ins Mikrofon: „Sie sind also der Skilehrer dieser Gruppe, der einzige Skilehrer in Mecklenburg. Die jungen Leute haben sich an unser Studio in Schwerin gewandt und wir drehen nun eine Reportage. Alle Teilnehmer haben wir bereits interviewt.“
Im Hintergrund wurde gelacht, die beiden Jungs machten Faxen. „Diese Reportage wird sich für Sie lohnen. Wir spendieren der gesamten Gruppe eine Skiausrüstung und einen vierzehntägigen Skiurlaub in Oberhof in Thüringen.“
Es wurde geklatscht.
Nur die alte Nachbarin sagte: „Da fahr ich nicht mit. Das ist mir zu weit. Wenn ich Ski laufe, dann nur in Mecklenburg.“
Alle lachten – und alles ward gut.