Читать книгу Schauderwelsch - Jochen Stüsser-Simpson - Страница 15
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Kleiner Maulwurf auf Entdeckungsreise
Sanft fällt das Land ab zum See. Im Winter kann man mit dem Schlitten nach unten rodeln, allerdings nicht allzu schnell. Ein kleiner Teil des Landes wird durch Zäune abgetrennt. Das sind die Gärten der Menschen. Wenn man ein Seeadler oder ein Storch oder eine Gans wäre – oder ein kleiner Spatz – und hoch oben über das Land und den See fliegen würde, dann sähen die Gärten wie lange Handtücher aus, denn sie sind viel länger, als sie breit sind.
Es gibt vier solcher Streifen. Untereinander sind die Gärten noch einmal durch Hecken unterteilt. Auf der Erde merkt man, dass sie gar nicht schmal sind, sondern breit wie Fußballfelder. Oben auf dem höchsten Punkt stehen in einer Reihe drei Häuser aus rotem Backstein an einem Feldweg. In einem wohnt der etwas mürrische alte Mann mit der Pfeife, der in der Dämmerung immer auf dem Steg sitzt und angelt. Daneben wohnt die alte Katrin mit ihrer gelben Katze. Die gelbe Katze sieht man oft im Garten, die alte Katrin fast nie.
Der kleine neugierige Maulwurf hat die getigerte Katze natürlich noch nie gesehen, jedoch schon so schreckliche und unheimliche und gruselige Geschichten von ihr gehört, dass er am liebsten an sie gar nicht denken mag.
In dem letzten Haus wohnen Lisa und Max mit ihren Eltern. Auf der anderen Seite des Grundstücks hinter Hecke und Zaun steht kein weiteres Haus, sondern eine große alte Eiche, in der tagsüber regelmäßig die Schleiereule schläft. Und unter der Eiche in der Erde wohnt der kleine neugierige Maulwurf mit seinen drei Geschwistern und seinen Eltern, die ähnlich wie die Eltern von Lisa und Max ständig beschäftigt sind. Sie haben die Gänge so geschickt zwischen die Wurzeln der Eiche gegraben und dort ein gemütliches weiches Nest angelegt, dass sie alle gut geschützt sind und der alte rotbraune Fuchs schon zweimal verärgert seine Versuche aufgegeben hat, die Maulwürfe auszugraben. Die Maulwurfseltern haben die Kinder immer wieder gewarnt, nicht auf der Weide gegenüber zu spielen, ganz gleich, ob unter oder über der Erde. In jungen Jahren ist nämlich einer Maulwurfstante von einem großen Pferd aufs Auge getreten worden, obwohl sie eine schlaue und vorsichtige Maulwürfin ist und damals, in jungen Jahren, die Pferdeweide in einem stabilen Gang unterqueren wollte. Doch das Pferd war so schwer, dass es mit dem Huf eingebrochen ist. Seitdem ist das rechte Auge der Tante nicht mehr so schön wie das linke, sagt die Mutter.
Der kleine neugierige Maulwurf kann da eigentlich keinen Unterschied sehen, aber vielleicht hat er auch nicht so genau hingesehen. Und aus den Pferdeweiden und Menschengärten sollten kleine Maulwürfe auch ihre Nasen heraushalten! Man wisse nie, sagen die alten Maulwürfe.
Der kleine Maulwurf sagt überhaupt nichts und findet den Nachbargarten viel interessanter als die eigene Wiese. Von dort hört er die Stimmen der Kinder, wenn sie rufen und lachen und singen und schimpfen. Und von dort ziehen gelegentlich eigenartige und geheimnisvolle Gerüche über die Maulwurfswiese. Deren Ursprung würde der kleine Maulwurf gerne erkunden! Also gräbt er sich unter der Hecke durch und folgt den angenehmen Düften.
Als er den Kopf vorsichtig aus der Erde schiebt, sieht er sich von roten und blauen und gelben Blumen umgeben. Die duften gut, so gut: Der Schmetterlingsbaum riecht nach Honig, die roten und gelben Rosen nach Äpfeln und Orangen, die Iris nach reifen Pflaumen. Dabei hat der kleine Maulwurf noch nie in seinem Leben Pflaumen gegessen, denn die haben gerade erst die Blüte hinter sich und sehen noch klein und grün und langweilig aus. Kurzum: Er ist zu jung. Aber das weiß er nicht, also schließt er seine Augen und saugt die Luft genießerisch durch die Nase ein. Er grunzt glücklich und zufrieden.
Hier könnte er in dieser Stellung immer so bleiben, wenn ihn nicht das plötzliche und zornige Brummen einer großen dicken Hummel aufgeschreckt hätte, die ganz knapp an seinem Näschen vorbeibraust, als wollte sie es rammen. Der kleine erschreckte Maulwurf duckt sich und zieht sich, so schnell er kann, unter die Erde zurück. Na so was! Diese dumme Hummel, murmelt er: „Denkt sie, ich würde ihr den Honig wegsammeln?“
Und er machte sich auf, um eine andere Gegend zu erkunden. Seinen Weg findet der kleine Maulwurf mithilfe seiner Nase, in der er zuerst einen schwachen verführerischen Geruch spürt, der allmählich stärker wird und ihn anspornt, schneller zu graben und zu schaufeln. Inmitten der herrlich riechenden Himbeerhecke durchbricht unser kleiner Abenteurer die Erdkruste, direkt neben einer abgefallenen Himbeere, die schon ein bisschen reif ist. Er schnuppert vorsichtig, nimmt sie in sein Mäulchen, kostet sie auf der Zunge und schluckt sie sehr schnell. So etwas Leckeres hat er noch nie gegessen! Und schon liegt ihm ein neuer Duft in der Nase, er gräbt sich langsam zum Beet für Spargel und Schwarzwurzeln, das der Vater von Lisa und Max angelegt hat.
Doch vorsichtig, kleiner Maulwurf! Sperr deine Ohren auf, dann könntest du hören, dass Vater gerade in der einen Ecke des Gartens mit dem Spaten arbeitet. Und so ein Spaten kann zu einer ähnlich großen Gefahr wie ein Pferdehuf werden. Im Augenblick ist der kleine Maulwurf jedoch viel zu gierig. Mit aller Kraft drängt er vorwärts und durchpflügt die sandige Erde. Er stößt durch die angehäufelte Erde hindurch – und sieht sich Auge in Auge dem Vater gegenüber.
„O du Maulwurf“, sagt der Vater, und es klingt überhaupt nicht freundlich. Gott sei Dank ist der kleine Maulwurf nicht dumm. Er erkennt die Tonlage und zieht sofort den Kopf ein, um in seinem Gang zu verschwinden. „Wenn ich dich erwische ...“, hört er den Vater schimpfen.
Und als er schon tief unter den Wurzeln der Tomaten ist, hört er Lisas helle Stimme: „Papa, jetzt sei mal nicht so unfreundlich!“
Obwohl der kleine Maulwurf weiß, dass die Kinder auf seiner Seite stehen, beschließt er trotz aller Verlockungen, diese Gegend des Gartens zu verlassen und bergab in Richtung See zu wandern. Den wohlriechenden Komposthaufen lässt er links liegen, frisst allerdings zum Trost einige fette Maden, die ihm in die Quere kommen. Seine unterirdische Reise zum See unterbricht er nur einmal, als er dem Duft der Veilchen nicht widerstehen kann, die irgendwo über seinem Gang wachsen.
Als die Erde feuchter und manchmal ein bisschen schlammig wird, als es modrig nach Moosen und Hölzern riecht, steckt er behutsam seinen Kopf heraus. Er hört leise das Wasser plätschern und das Schilf rauschen, er sieht Blumen, die mächtigen Stämme alter Kopfweiden und einen braunen Frosch, der ihn freundlich begrüßt. Der kleine Maulwurf freut sich zuerst, dann wundert er sich und fragt: „Weshalb hast du so lange Beine?“
Der Frosch weiß es nicht recht und denkt nach. Und während er noch überlegt, huscht ein dunkler Schatten über Frosch und Maulwurf. „Das ist der Bussard“, quakt der Frosch und springt mit einem großen Sprung in den See. Es spritzt ein bisschen – und er ist verschwunden. Jetzt weiß der neugierige Maulwurf, warum der Frosch so lange Beine hat. Als er sich in seinen Gang zurückziehen will, sieht er die Bescherung: Das geht gar nicht mehr, denn der Gang ist inzwischen mit Wasser vollgelaufen. Als der Schatten zum zweiten Mal, und nun schon viel größer, über ihn hinwegsaust, fängt der kleine Maulwurf gar nicht erst an, sich Gedanken zu machen, ob er nun schwimmen kann oder nicht. Er hoppelt und läuft zum Wasser, lässt sich hineinfallen – und ist begeistert. So gut kann er schwimmen. Das hätte er nicht gedacht. Und es ist ihm ein Leichtes, die Luft anzuhalten, so wie manchmal in eingestürzten Gängen.
Gemächlich taucht er zum Grund und macht mit seiner Schnauze eine kleine Schlammwolke, die vom Ufer in die Tiefe des Sees wegzieht. Er will gerade eine Muschel ausbaggern, als ihm das Herz fast stehen bleibt. Er klammert sich mit einer Schaufel an der weißen Süßwassermuschel fest und rührt sich nicht mehr. Ganz langsam schiebt sich ein riesiges Maul auf ihn zu. Es ist voller Zähne. Sie sind spitz und nach hinten gebogen.
„Das war’s“, denkt der neugierige kleine Maulwurf. „Gleich werde ich gefressen, hoffentlich schmerzt es nicht zu sehr.“
Und während er das noch denkt, gleitet der gelblich braune Hecht langsam, sehr langsam an ihm vorbei. Der Maulwurf sieht in das schwarze unbewegliche Hechtauge, das vorbeiwandert. Er hat nicht den Eindruck, dass er sich mit dem Hecht so freundlich unterhalten kann, wie vorhin mit dem Frosch. Der kleine Maulwurf fühlt sich unendlich erleichtert, als der Hecht vorbeigezogen ist.
Als er wieder Luft zum Atmen und Überlegen hat, beschließt der neugierige kleine Maulwurf, kein Wassertier zu sein. An Land macht er sich sogleich auf den Heimweg zu der Maulwurfswiese, denn im Garten der Menschen hat er nun genug erlebt, zumindest für heute.