Читать книгу Schauderwelsch - Jochen Stüsser-Simpson - Страница 22
Оглавление*
Fliehen und Flüchten
Oder: Wie ängstlich sind die Tiere?
„Jetzt kommt schon raus“, ruft Jannick. Er steht auf dem großen Platz zwischen Stall und Bauernhof. Die Ferien haben angefangen. Für eine Woche ist Jannick mit seinen Schwestern und mit Mama und Papa auf dem Bauernhof am See. Jannick ist schon in der zweiten Klasse, er spielt gerne Fußball und kann freihändig Fahrrad fahren. Seinen Namen schreibt er vorne mit J. Das ist ihm wichtig, weil die Lehrer das oft falsch machen.
Nele ist das egal, denn sie kann noch nicht schreiben. Auch noch nicht schwimmen. Das will sie aber in diesen Ferien lernen. Sie geht in die Kita und kann sehr schön singen. Eigentlich heißt sie nach ihrer Großmutter Cornelia, aber das ist zu lang und kompliziert. Jedenfalls kommt sie jetzt aus der Tür gestürmt „Was wollen wir denn machen?“, fragt sie ihren Bruder.
„Ich habe ein neues Spiel erfunden“, sagt Jannick, „wie mutig sind die Tiere. Wir gehen einfach auf sie zu und finden heraus, wann sie weglaufen oder wegfliegen. Manche Tiere sind mutig – wie hier die kleine Katze auf der Bank, sie bleibt schön sitzen und schnurrt sogar, wenn ich sie streichele.“ Auch Nele streicht der Katze über das Fell, schön weich. Als sie ihren Schwanz anfasst, dreht sich die Katze auf den Rücken und schlägt mit der Pfote nach Nele. Ganz schnell zieht Nele ihre Hand weg. Ja, die ist wirklich mutig!
„Sieh mal hier.“ Jannick macht ein paar schnelle Schritte auf zwei Hühner zu und bremst kurz vor ihnen ab. Sie flattern mit den Flügeln und rennen gackernd davon. Ja, die Hühner haben weniger Mut als die Katze.
Inzwischen ist auch Anna herausgekommen. Sie ist schon in der Vorschule und liebt Pferde und Fußball. „Was macht ihr denn mit den armen Hühnern?“, fragt sie. Sie erklären Anna das neue Spiel, sie sagt: „Klar, die Hühner haben mehr Angst als die Katze. Wir essen ja auch ihre Eier und manchmal sogar Hühnchenfleisch. Aber niemals Katzenfleisch.“
Nele verzieht den Mund: „Igitt. Sollten wir das Spiel vielleicht das Angst-Spiel nennen?“
„Mir doch egal“, murrt Jannick, „wir können es auch das Flüchten-Spiel nennen, oder einfach Flieh-Spiel. Ich möchte doch nur wissen, wie nah wir an die Tiere kommen können.“
Anna ist nicht zufrieden: „Ich würde es lieber das Spiel vom Weggehen oder Weglaufen nennen.“
Jannick beendet das Gespräch: „Ok, dann heißt es Weglauf-Spiel!“ Weil der Bauer von den Rehen auf den Wiesen hinter dem Stall erzählt hat, gehen die Kinder um die Ecke – und siehe da – in einiger Entfernung stehen tatsächlich drei Rehe. „Die grasen“, meint Nele.
Anna macht ein kluges Gesicht. „Die Kühe grasen, aber die Rehe äsen.“
„Hört auf damit, ist doch ganz egal.“ Jannick runzelt die Stirn und die Rehe heben die Köpfe in Richtung der Kinder und laufen langsam in den Wald.
Die Kinder gehen den Hang hinunter zum See. Im Gras sitzt eine Amsel und fliegt weg, als sich die Kinder nähern. „Die Tauben bei uns in der Einkaufsstraße fliegen nie weg, sogar dann nicht, wenn ich in die Hände klatsche“, erzählt Nele.
Anna lacht: „Dann müssen die Tauben ja sehr mutig sein.“
„Irgendwann fliegen sie immer weg“, bemerkt Jannick und Anna fügt hinzu: „Man kann auch ohne Angst wegfliegen, wenn es langweilig wird zum Beispiel.“ Auf der Wiese glänzt zwischen zwei Brennnesseln Spinngewebe. Jannick wedelt mit den Händen darüber, eine große Kreuzspinne krabbelt an den Rand des Netzes und duckt sich auf ein Blatt. Ist sie jetzt mutig, weil sie hier sitzen bleibt?
„Vielleicht läuft sie aus Angst nicht weg“, meint Anna.
„Aber dann ist Angst ja das Gleiche wie Mut“, denkt Nele und fragt: „Ist Angst eigentlich schlecht und Mut gut?“
Jannick richtet sich auf: „Wenn ich ein Angsthase bin, ist das doch nicht gut!“
„Aber“, Anna hebt den Finger, „wenn die Hasen vor dem Fuchs nicht weghoppeln, werden sie gefressen. Also ist Angst nicht so schlecht.“
Als sie ans Ufer kommen, macht es Platsch und Platsch und Platsch. Drei Frösche hüpfen ins Wasser und schwimmen mit kräftigen Stößen auf den Grund unter der Wasseroberfläche. Dort bleiben sie unbeweglich sitzen. Eine blau schillernde Libelle steigt vom Steg auf, bleibt einen Augenblick mit einem knisternden Geräusch in der Luft stehen und fliegt ins Schilf. Die Kinder betreten den Steg und bemerken auf dem Wasser davor eine Bewegung. Eine Schwanenfamilie gleitet langsam vorüber, zwei große weiße Schwäne und zwischen ihnen drei kleine braune Schwanenkinder. Plötzlich dreht sich der eine große Schwan zur Seite und schwimmt genau auf den Steg zu. Gleichzeitig beginnt er sehr laut zu zischen. Anna und Lena laufen ganz schnell zurück zum Ufer, nur Jannick macht ein paar Schritte zurück, bleibt aber am Anfang des Steges stehen. Hier kann ihn der Schwan mit seinem langen Hals und dem zischenden Schnabel nicht erreichen.
Auf dem festen Land sagt Lena: „Ich habe noch nie so viel Angst gehabt, mir gefällt das Weglauf-Spiel nicht mehr. Warum ist der Schwan so böse, ich will ihm doch nichts tun, ich finde ihn sehr schön.“
Inzwischen ist auch Jannick zurückgekommen: „Ich hatte auch Angst, aber bin trotzdem nicht weggelaufen. Das ist Mut.“
Anna blinzelt mit einem Auge: „Das ist Angeberei. Du kannst doch ruhig weglaufen!“