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Sie sitzt auf

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Ein Feenmärchen

Wie splitterndes Holz war die erste schöne Sommerwoche in die Brüche gegangen. Am Morgen war er zu einem Termin im Personalbüro eingeladen. Carlotta, die vor Kurzem an einer ganzen Mannschaft verdienter Mitarbeiter vorbei zur Personalchefin befördert worden war, blitzte ihn spitzbübisch an. Ob er sich in der letzten Zeit Gedanken über seine berufliche Zukunft gemacht habe, wollte sie wissen, während sie Latte Macchiato orderte. Vielleicht lächelte sie, vielleicht war dies ihre Mundform, jedenfalls hatte er das angenehme Gefühl, im selben Boot zu sitzen. Seit Längerem hoffte er, in die Abteilung versetzt zu werden, die die Gourmet-Zeitschriften betreute. Für den Sterne-Koch und die Essen und Feiern hatte er schon häufiger mit viel Vergnügen fotografiert und getextet. Immerhin hatte er vor ein paar Jahren im Interconti eine Lehre als Koch abgeschlossen. Er liebte gutes Essen.

Nachdem die Sekretärin den Kaffee gebracht hatte, ließ Carlotta ihre silbernen Ohrringe leise klirren und setzte das Gespräch fort, indem sie sich über die Entwicklung des Internets und den Rückgang der Print-Medien ausließ. Er hörte ihrer warmen Stimme gerne zu, auch wenn ihre Ausführungen erst einmal nicht viel Neues enthielten. Säße er jetzt dem Chef direkt gegenüber, wäre es weniger behaglich, es gäbe keinen Small-Talk, sondern Excel-Tabellen und Statistiken. Beim Chef war der Glamour-Faktor kaum vorhanden, er betonte, dass er rechnen könne.

Die Internet-Werbung, unterstrich Carlotta mit freundlichen Armbewegungen, würde weiterentwickelt und die Etats für die Print-Medien halbiert. „Und hier, lieber John“, – in der Firma war es hierarchieübergreifend üblich, sich zu duzen – „ kommst du ins Spiel.“ Anders als er hatte sie sich durchaus über seine berufliche Zukunft Gedanken gemacht, mit dem Ergebnis – „da wollen wir nichts beschönigen oder verklären“ – ihn zu kündigen. Erst einmal. Mit einem kleinen Scherz hatte sie versucht, ihn über den Moment seiner Sprachlosigkeit zu bringen und hinzugefügt, „als Freelancer würden wir deine Dienste aber gerne weiter in Anspruch nehmen.“ Da sein anarchischer Geist in solchen Situationen zu Entgleisungen und Geschmacklosigkeiten neigte, hatte er sich zur Ruhe gezwungen und schafsgeduldig zurückgelächelt.

Es gibt Tage im Leben, an denen so viel schiefläuft, dass sie einen surrealen Charakter annehmen. Nach seinem ersten Scheitern am Vormittag folgte sein zweites am Abend, beim Italiener. Zum Dessert trieb ihm seine Freundin einen Eiszapfen durchs Herz. Sie erklärte ihre Beziehung für beendet. Er wäre mit dem Job verheiratet usw.. Er fühlte sich wie im Auge eines Orkans – und verzichtete auf den Grappa. Er benötigte jetzt eine wirklich rauschhafte Auszeit, fand er.

Am nächsten Morgen nahm er sich frei und die BMW aus der Garage. Auf der Autobahn Richtung Berlin fuhr er, nun ja, zügig. Obwohl er die Maschine auf 200 Kilometer beschleunigte, sah er überall Carlottas blonde Locken oder die Züge seiner trennungsfreudigen Freundin in den tieffliegenden Wolken und wogenden Feldern und später noch im Nebel, der sanft aus dem Schweriner See aufstieg. Und dann stand sie irgendwo hinter Schwerin an der langen Straße, die mitten durch den See führt, neben einer großen Birke; hell gekleidet, mit rosafarbener Bluse und hellblauen Hot Pants, ihr Schal und die Sandaletten waren weiß. Fast hätte er sie übersehen, doch dann bremste er, ohne zu zögern, und hatte schon genickt, ehe sie ihre Frage überhaupt formulierte. Ein pudriger Geruch lag in der Luft, er sah ihre seidig schimmernden Beine, als sie auf den Sozius aufstieg. Ja, er könne sie nach Hause fahren zu einem See, dessen Namen er noch nie gehört hatte.

Unter dem hochgeklappten Visier rief er über die Schulter nach hinten: „In Ordnung, Nadja, ich heiße John. Und was machst du beruflich?“

„Fee“, rief sie mit klarer und wohlklingender Stimme zurück.

„Natürlich“, lachte er und schrie gegen den Fahrtwind: „Ich liebe Feen!“ Dann gab er Gas und schaltete hoch. Sie presste sich mit aller Kraft an seinen Rücken und rief etwas Unverständliches. Ihre Hände spürte er auf Bauch und Rippen, zwischen den Schulterblättern ihr Gesicht oder ihre Wangen. Und als er vor der Kurvenstrecke in Richtung Güstrow herunterbremste, drückten ihre Brüste sanft auf seinen Rücken. Seine Vorstellung einer Fee war bisher durch die feingliedrig geflügelten Feen-Skulpturen des Wieland-Denkmals am Entenmarkt bestimmt, wo er einmal gearbeitet hatte. Ihr Gesicht? Hatte er eigentlich noch gar nicht richtig gesehen. Ihren Mund schon, allerdings zu kurz, um ihn beschreiben zu können, aber schon zu lang, um ihm nicht zu verfallen. Von diesen verlockenden Lippen konnte nur Gutes kommen.

Rechts und links der Landstraße leuchteten jetzt riesige Rapsfelder gelb in der durchbrechenden Sonne, am Himmel waren Greifvögel und Störche. Er spürte, wie sich die schwarze Blase irgendwo in seinem Inneren auflöste, die Wut auf Carlotta und seine Trennungsfreundin war wie weggeblasen. Die Fee auf dem Sozius hatte so einiges bei ihm durcheinandergebracht, seine Gedanken, seine Gefühle. Obwohl er sie durch den Motorenlärm nicht verstehen konnte, dirigierte sie ihn klar und deutlich zu ihrem Ort. Über Körperberührungen, Gedankenübertragung?

Er hatte das Gefühl, durch die Lederhose hindurch ihre Hüften zu spüren, die seltsam hager wirkten. Ihm fiel ein, dass er ihr Gesicht noch nicht wirklich gesehen hatte. Jedenfalls bogen sie in einen Feldweg ab, der durch weite Getreide- und weitere Rapsfelder führte. Der Rapsgeruch wurde zunehmend durch den des überall blühenden Holunders überlagert, er spürte die Sonne auf dem Kinn, links blitzte der See, der sich hinter Hügeln verlor. Sie fuhren gemächlich durch eine Häuseransammlung, die auf einem Ortsschild angekündigt worden war. Ihre Stimme war wieder zu verstehen, doch sie klang krächzend, der Kopfsteinweg war so uneben, dass er sogar mit seiner BMW langsamer fahren musste. Hohe und labyrinthische Hecken verstellten den Blick auf die wenigen Häuser, an einer Stelle blickte ein Bullenkopf hindurch, gegenüber auf der anderen Seite des Weges ging der Blick auf Weiden, die sich hügelabwärts zum See erstreckten. Auf ihnen standen schwere schwarze Pferde.

Vor einem roten Backsteinhäuschen winkte hinter einer niedrigeren Ligusterhecke gleich an der Straße eine alte Frau mit einer Sichel in der Hand. Offensichtlich kannte sie seine schöne Beifahrerin, er fuhr noch langsamer und glaubte, seine Fee lachen zu hören, sehr heiser, doch das musste die alte Frau im Garten gewesen sein. Er öffnete das Visier, im Schritttempo rollten sie langsam bergab, der Motor tuckerte, vorbei an einigen kleinen Bungalows direkt am See, die wohl als Ferienhäuser dienten und augenblicklich nicht bewohnt waren. Der Weg führte über eine Rasenfläche durch einige Weidenhecken und Knicks hindurch auf einen schmalen Damm, der sich in eine dichte Schilflandschaft zu weiten schien. Wo hier das Land endete und das Wasser begann, war nicht zu erkennen. Zwei Weiden waren zu einer Pergola zusammengebunden, an ihr hing eine Girlande aus getrocknete Blumen und Kräutern. Vor einer weiteren Weide stand so etwas wie ein Kaninchenstall, eine eigenartige Holzkonstruktion. Hinter ihm lachte es krächzend. Er hielt an und blickte über die Schulter: auf eine überdimensionierte Sonnenbrille, die in einem uralten Gesicht saß. Die Stirn war verrunzelt, die Wangen eingefallen, die schmalen Lippen unter der knöchernen Nase farblos. Die Gestalt der schönen Beifahrerin war wie geschrumpft. Als wäre sie ein kleines Kind, reichte der Kopf nicht bis zu seinen Schultern. Ihn schwindelte. Mit letzter Kraft stellte er das Motorrad ab und sank daneben zu Boden. Er verlor das Bewusstsein.

Als er aufwachte, hatte er einen aromatischen Duft in der Nase. Eine Teetasse wurde an seine Lippen gedrückt, er nahm vorsichtig einen Schluck und öffnete die Augen. Neben ihm saß die alte Frau, die noch immer ihre Augen hinter einer Sonnenbrille unter Verschluss hielt.

„Ich verstehe deinen Schrecken“, flüsterte sie, „leider habe ich nicht genügend Kraft, um meine wahre Gestalt während des ganzen Tages aufrecht zu erhalten. Wie bei einem Handy, dessen Akku leer ist, setzt nach einigen Stunden die Wandlung zur alten Frau ein. Um neue Energien zu sammeln, brauche ich anschließend eine ganze Nacht. Ja, ich verstehe deinen fragenden Blick, doch ich bin eine echte Fee, aber auf mir liegt ein Bann. Ja, das ist eine lange Geschichte.“ Sie reichte ihm erneut die Tasse, die er austrank.

Sein Kreislauf belebte sich, die Alte hob an: „Es ereignete sich vor langer Zeit auf einem Mondscheinfest hier am See. Nicht nur die freundlichen Feen waren geladen. Und so erschien auch Fanferlüsch. Sie hielt einen Kröterich an der Leine, den sie zur allseitigen Belustigung über ein Stöckchen springen ließ und der auf Kommando ein wenig quakte. Um sich mit einigen Elfen plantschend am Ufer zu vergnügen, ließ ihn Fanferlüsch zurück. Meine Zwillingsschwester Melusine und ich kümmerten uns um den Kröterich und wandten beim Spielen verschiedene leichtere Zauber auf ihn an. Und wie der Zufall es wollte, zeigten diese überraschend Wirkung. Das ist so ähnlich, als stießest du beim Computerspielen plötzlich auf ein Kennwort und könntest dich einloggen. Zuerst nahmen wir die Schwachstellen an seinem Kopf unter Zauber, im Weiteren bezauberten wir ein bisschen seinen Unterkörper, und siehe da, der Kröterich wandelte sich zu einem jungen Mann, der hübsch anzuschauen war, wenn er auch etwas einfältig daherredete. Wir spielten Fangen und bespritzten ihn mit Wasser. Alles war ganz harmlos wie auf einer Pyjama-Party. Melusine ließ sich von ihm gerade ihren Rücken massieren, als Fanferlüsch zurückkehrte – und überreagierte. „Warum lasst ihr nicht die Finger von meinem Frosch!“ Uns ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen. „Ich will euer doppelzüngiges Gerede nicht hören“, schrie sie, „ich werde euch in einen Zustand bringen, der euer Privileg der Unsterblichkeit in sein Gegenteil verkehren wird, und dich, Melusine, werde ich mit einem besonderen Bann belegen.“ Und dann wurde es finster, schreckliche Wirbelwinde peitschten das Wasser, und als das Unwetter vorüber war, fanden wir uns als missgestaltete Greisinnen wieder. Meine Schwester war noch mehr geschrumpft als ich, auf ihr lastet der Fluch der Verzwergung. Darüber hinaus hatten wir fast alle Zauberkompetenzen verloren, sogar die einfachsten Hauszauber-Formeln funktionierten nicht mehr. Und nachdem Fanferlüsch so ausgerastet war und uns dergestalt sah, beruhigte sie sich ein wenig und sie wollte wissen, was wir mit ihrem Frosch genau gemacht hätten. Wir berichteten aufrichtig von unseren Spielen am Ufer, und da wurde sie ganz still und sagte, sie habe wohl vorschnell gehandelt und jetzt Mitleid mit uns. Es sei aber nicht mehr in ihrer Gewalt, den Bann insgesamt rückgängig zu machen, sie könne ihn nur abmildern. Und dann sprach sie wörtlich: „Sobald ihr einen jungen Mann unter dreißig Jahren gefunden habt, der euch liebt, sollt ihr zurück in eure ursprüngliche Gestalt verwandelt werden. Seitdem haben wir Fanferlüsch nicht mehr aus der Nähe gesehen. Sie hat wohl ein schlechtes Gewissen – zurecht. Mit unseren verbliebenen Kräften und Fähigkeiten vermögen wir den Bann nicht aufzuheben. Und die paar Stunden, die ich täglich meine wahre Gestalt annehmen kann, waren zu wenig, um einen wirklichen Retter zu finden.“

Sie schwieg, und er ergriff ihre Hand. Nach einer Pause fragte er: „Weshalb denn wirklicher Retter?“ Sie hatte, hörte er dann, schon einmal einen Verehrer, einen Angler, der sie wohl aufrichtig liebte, aber ohne jedes Ergebnis. Daraufhin stellte sich heraus – sie blieb hier etwas allgemein – dass der Angler bei seinem Alter gemogelt hatte, denn er war schon 32. John griff nach ihrer Hand. Er merkte, dass er immer noch seine Bikerhandschuhe trug und zog sie aus. „Und wo ist deine Schwester?“ Er folgte ihrem Blick in Richtung des Kaninchenstalls.

„Melusine lebt in der Kiste.“ Die alte Frau hielt seine Hand und drückte sie leicht. Ansonsten geschah nichts. „Du musst mich lieben“, hauchte sie. John fühlte ihre raue und schrumpelige Haut und blickte auf ihre weißen dünnen Haare. So konnte das nichts werden! Hier musste die Fantasie über die schlechte Wirklichkeit siegen. Er konzentrierte sich auf die Erinnerung, und stellte sich den Augenblick vor, als sie zu ihm auf das Motorrad gestiegen war, wie hatte sie da ausgesehen? Zugleich küsste er die alte Frau auf die Stirn und bemerkte etwas wie eine Bewegung in ihrer Hand. Er sah genauer hin: Die Hand schien größer zu werden, fülliger, die Haut straffte sich und hellte auf, dunkle Flecken verschwanden und die herausgetretenen Adern waren nicht mehr zu sehen, die ganze alte Frau vollzog in Windeseile eine Verwandlung, sie wurde jünger und jünger, ihr Oberkörper richtete sich auf, sie wuchs, ihre weißen Haare erblondeten, John blickte auf spektakuläre Beine. Als sie ihn anlächelte, hätte er um ein Haar erneut das Bewusstsein verloren. So schön war sie.

Sie lachte und forderte ihn auf, zu warten, sie wolle ihren Rucksack ablegen. Ihre Augen hinter der spiegelnden Sonnenbrille stellte er sich bernsteinfarben vor. Bald würde er ihr ganzes Gesicht zu sehen bekommen, und zwar unverdeckt.

Sie war zwischen dichten Feuerdorn- und Sanddornsträuchern verschwunden. Ihn wunderte, dass nirgends ein Haus zu sehen war, denn er befand sich in einem wunderschönen, aber zugleich fremdartigen Garten. Auf der Rasenfläche vor sich sah er eine Sonnenuhr, davor lud eine Buchsbaumbank täuschend zum Sitzen ein. Von dem untersten Ast eines Walnussbaumes hingen gebundene Sträuße von Kräutern zum Trocknen an der Luft. Er setzte sich vor ein Beet, das mit Lavendel eingefasst war, der leicht duftete. Als guter Koch erkannte er in dem Beet sogleich Oregano, Salbei und Bohnenkraut. Nach einigen Augenblicken wurde das frische Zitronenaroma in seiner Nase durch einen bekannten, würzigen Geruch unterlegt – dies musste eine besonderer Thymian sein. In der linken Hälfte des Beetes sah er purpurrote und die übliche Pfefferminze, als er sich leicht vorneigte, spürte er den typischen Pfefferminzduft. Sein Interesse war geweckt, er richtete sich wieder auf, schloss die Lider und folgte seiner Nase in die überraschenden Geruchslandschaften. In den Nachbarbeeten erkannte er Koriander, Knoblauch, Fenchel, Basilikum, Estragon und Dill. Jetzt müsste er in der Küche stehen: Er würde einen unabwendbaren Liebesbeweis komponieren. Sie würde ja bald wiederkommen.

Wenn sie hier lebte, musste es eine Unterkunft geben, und keine Wohnung ohne Küche! Ihn irritierte, dass in einem anderen Beet Bärlauch und Maiglöckchen durcheinander standen, wie in der Giftecke eines botanischen Gartens. Doch da legte sich schon ihre zarte Hand auf seine Schulter, sie lächelte – noch immer mit Sonnenbrille: „Und jetzt meine Schwester!“ Zuerst war ihm unklar, was sie wollte, er fragte nach, ob Melusine nicht einen eigenen Liebhaber bräuchte. „Fanferlüsch ist nicht nur launenhaft, sie ist auch ungenau und schlampig. Ob wir zwei junge Männer benötigen oder ob einer reicht, ist unklar. Wir sollten es auf jeden Fall versuchen, wenn du dir das liebesmäßig zutraust.“

John holte tief Luft und ging in sich, um langsam, aber voller Überzeugung zu sagen: „Ich glaube, ich kann euch beide lieben, ich bin sehr liebesstark.“

Nadja streichelte über seine Wange, dass ihm ein Schauer über den Rücken lief: „Wahre Liebe ist grenzenlos und nicht beschränkt auf eine Person.“ Sie gingen zu dem Holzverschlag und sahen durch einen Spalt Melusine in grauen Kleidern in einem Sessel sitzen, wie in einer Puppenstube. Als sie sich beobachtet fühlte, grüßte sie, erhob sich und kam zu dem Spalt zwischen den Brettern. Sie erschien genau so uralt wie ihre Schwester noch vor wenigen Augenblicken. Offensichtlich war sie über die Ereignisse im Bilde und hatte bereits ihre erlöste Schwester gesehen. Sie sprach direkt John an: „Du kannst mir einen Finger durch den Spalt stecken, damit ich ihn berühre.“

Übermütig antwortete dieser: „Das ist ja wie bei Hänsel und Gretel – und dabei spielen wir doch in einem Feen-Märchen.“

„Feen haben nichts gegen Volksmärchen“, wandte Nadja ein, „sie finden sie nur nicht immer lustig. Und gegen die schlechten sind sie gefeit. Doch wir sollten Melusine aus ihrer Kiste holen, dann wird alles einfacher werden.“ Sie öffnete eine Klappe und holte ihre winzige Schwester aus dem Verschlag.

John überlegte sich, wie er es am besten anstellen sollte; er musste nur auf die faszinierende Nadja sehen und sich einen ähnlichen Wandlungsprozess für Melusine vorstellen, vielleicht reichte das. Er wurde durch Nadja in seinen Gedanken unterbrochen: „Bei Melusine solltest du dir besondere Mühe geben, denn sie muss nicht nur verjüngt, sondern auch entzwergt werden. Die Sache steht also etwas komplizierter als bei mir.“

Er kniff die Augen zusammen und versuchte eine starke Vorstellung von Liebe herzustellen. Vom See her spürte er einen kalten Windhauch, das Schilf und der See verschwammen, als wären sie eingenebelt. Der Garten um ihn herum schien sich zu dehnen. Auf Melusine blickend stellte er fest, dass sie sich mit hoher Geschwindigkeit verjüngte und verschönerte – und immer größer wurde. Gleichzeitig schien sich indes mit seinem Körper auch etwas zu verändern. Er blickte Nadja an, um genau zu sein, er sah an ihr hoch, an ihren Beinen, die jetzt ins Unermessliche verlängert schienen. Mit der Verjüngung hatte es geklappt, nicht aber mit der Entzwergung.

„Leider ist das in Teilen danebengegangen“, hörte er Nadja von weit oben, „wir versuchen es noch einmal, indem wir uns an den Händen halten. “ Sie ging in die Knie und sie hielten sich zu dritt ihre Hände. Dem sprachlosen John fiel auch nichts Besseres ein, er schloss die Augen und versuchte kraft seines Willens erneut einen Liebesstrahl herzustellen. Er dachte an die tausendschöne große Nadja und an die wunderschöne kleine Melusine. Es wurde ihm schwarz vor Augen, um sie herum schien die Erde zu beben, als er die Augen öffnete, schaukelte der See und die Bäume wurden riesig groß. Nadja und Melusine standen vor ihm, gleich groß, ein entzückendes Paar, zum Verwechseln ähnlich. Ebenso gut hätte sich Nadja einfach verdoppeln können. Er wusste auf Anhieb nicht, wer nun Nadja und wer Melusine war, und musste sich erinnern, wo noch vor wenigen Augenblicken jede gestanden hatte. Dann irritierte ihn im Augenwinkel der Baum zu seiner Linken. Beim genauen Hinschauen war es gar kein Baum, vielmehr ein riesiger Lavendel-Stängel. Der Schreck fuhr ihm in alle Glieder. Sie waren zwar gleich groß, aber alle verzwergt.

Nadja – oder war es Melusine? – hatte es auch bemerkt: „So ein Pech, es hat wieder nicht geklappt.“ Dann sah sie ihm aufmerksam ins Gesicht: „Wie siehst du denn aus?“

Wenn sich seine Gefühle in seinem Gesicht spiegelten, musste sie das blanke Entsetzen wahrnehmen. Sie näherte langsam ihre roten Lippen seinem Gesicht und gab ihm einen Kuss. Einen Kuss. Der ging ihm so durch und durch, dass Lavendel und Garten und Schilf und See und Himmel verschwanden und alles wurde leicht.

In diese Leichtigkeit hinein hörte er die Stimme von Melusine oder Nadja: „Uns ist wahrscheinlich ein Fehler unterlaufen. Wir müssen uns nicht nur an den Händen halten, sondern sollten uns zugleich mit den Knien berühren.“ Und schon fühlte er sich bei beiden Händen gefasst und in die Hocke gezogen. Als er die Knie der beiden Feen berührte, ging es durch ihn wie ein elektrischer Schlag. Ja, er konnte, er schaffte es. Er liebte beide zugleich, und der Gedanke war kaum gedacht, als er ein schmatzendes Geräusch und dann ein Krachen vernahm, der Garten verfinsterte sich und er hatte das Gefühl, auf Pudding zu stehen. Als dann die Welt zurückkehrte, merkte er sogleich an dem Lavendel, dass alles war, wie es gehörte. Die Formate stimmten und Nadja und Melusine stimmten in ein glockenhelles Gelächter ein.

Melusine nahm seine Hand und führte ihn durch den Garten hindurch zum Ufer des Sees, vorbei an Schafgarbe und Aloe Vera, an Lupinen und großen Fingerhüten, an Rittersporn und Eisenhut. In fleischigem Blattwerk, das er nicht kannte, torkelten Insekten und platzten volle Knospen. Sie setzten sich am Ufer nieder, sahen auf Wasserschierling und Seerosen, er war benommen von einem berauschenden fremden Duft.

„Lass uns schwimmen“, sagte Melusine – oder war es doch Nadja – und begann langsam sich zu entkleiden. Er wollte gerade sein Hemd ausziehen, als er hinter sich eine Bewegung spürte: Vor dem Rosenbusch stand Nadja und winkte ihm lächelnd zu. John wollte aufstehen und zu ihr gehen, konnte sich aber nicht dazu aufraffen, als er im Wasser Melusines oder Nadjas Spiegelbild sah. Sie war nackt, lächelte und sprang – oder besser: Sie warf ihren Körper ins Wasser. Fast ohne Spritzer tauchte sie in Johns Spiegelbild, das für einen Moment zerriss. Er vermochte nicht, ihr zu folgen, und er stand nicht auf. Es war, als würde er sich selbst zuschauen, wie er handlungsunfähig und verzückt zwischen zwei so schönen Frauen am Seeufer saß. Eine sanfte Müdigkeit kam über ihn, er sank zurück und fiel in einen tiefen Schlaf, träumend von einem wunderschönen paradiesischen Garten, in dem die beiden Feen umhergingen. Sie sammelten Kräuter.

Schauderwelsch

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