Читать книгу Schauderwelsch - Jochen Stüsser-Simpson - Страница 37
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Im toten Winkel
Er blieb stehen und zog langsam an dem Reißverschluss seiner Hose. Ein paar Meter vor sich: der See, der Holzsteg. Aber das war nicht wichtig. Obwohl alle sechs Männer an einem Seeufer umgebracht worden waren. Zuerst dachte er, das hätte mit Wasser zu tun. Hatte es vielleicht, indirekt. Es gab zu viele Seen in der Gegend. Er hatte sich auch den Kopf darüber zerbrochen, dass alle Opfer Bauern waren. Doch hier lebte fast jeder von der Landwirtschaft, wenn er nicht gerade Handwerker war. Aus dieser Ecke war kein Motiv zu holen.
Hinter ihm fiel das Land ab zum See, wie bei vielen Seen der Region. Oben standen die Häuser mit den Terrassen und Gärten. Würde man über das Land und den See fliegen, dann sähen die Gärten von oben wie lange Handtücher aus, die nach unten ausfransten. Sie gingen über in Wiesen, die sich bis zu den Büschen und Weiden am Ufer erstreckten. Im Augenblick wurde oben gefeiert, gedämpfte Musik und fröhliche Stimmen waren zu hören. Hätte er sich jetzt umgedreht, hätte er von der Feier allerdings gar nichts gesehen, sondern nur die satte grüne aufsteigende Wiese. Er nestelte noch immer an seinem Reißverschluss. Er wollte ihn aufziehen, doch er hakte. Er wollte. Eigentlich gab er auf den menschlichen Willen und ähnlichen Firlefanz gar nichts. Die meisten Menschen wurden durch Gefühle und Triebe gesteuert, ob sie sich das nun zugestanden oder lieber sich etwas vormachten. Und die ließen sich berechnen. Je einfacher ein Trieb war, umso leichter war er kalkulierbar.
Seine Kollegen hatten die Tatorte an den Ufern genau untersucht, doch nichts Wesentliches gefunden – bis auf ein paar abgeknickte Äste und niedergetretenes Gras. Da es in diesem Sommer oft und stark regnete, ergaben sich keine verwertbaren Spuren. Der Abteilungsleiter, der sich selbst immer wieder als den großen Empiriker ausgab, stand erst einmal mit leeren Händen da. Dass drei der Seeuferopfer mit offenem Hosenstall gefunden worden waren, führte zunächst nicht weiter. Schnell war geklärt, dass Sex hier keinerlei Rolle gespielt hatte.
Während er zumindest ein wenig freies Spiel bei seinem Reißverschluss gewann, er zog ihn nun abwechselnd hoch und runter, überlegte er, ob er sich nicht auch als Empiriker bezeichnen könne. Schließlich spekulierte er nicht über Motivcocktails. Er hielt sich neben dem Tatort an die menschliche Natur. Die hatte sich bei der Begehung von zwei Tatorten bei ihm gemeldet: Er musste pinkeln. Am liebsten gleich am Tatort. Wie magisch zog dieser ihn an. Er musste sich zwingen, einige Schritte weiterzugehen. Dort war es ihm ein bisschen peinlich, dass er von oben zu sehen war. Und dabei fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Jeder pinkelt gerne da, wo ihn kein anderer sieht. Im toten Winkel. Spontan, ohne langes Nachdenken. Das war die Lösung. Der Mörder hatte auf die Scham, auf ein Gefühl der Peinlichkeit gesetzt. Keiner der Tatorte am See war von oben einsehbar. Alle Morde hatten sich ereignet, als oben gefeiert wurde: Schützen- oder Erntefeste, große Jubiläen, bei denen jeweils nicht nur die Dorfbewohner, sondern auch Gäste aus den Nachbardörfern und sogar Touristen aus der Stadt zu Besuch waren. Und bei allen Feiern hier auf dem Lande gab es eine hohe Gewissheit: Es wurde gerne und viel getrunken. Auf diese beiden Faktoren musste der Mörder gesetzt haben, Schamgefühl und natürlichen Drang. Auch wenn viele Menschen eine Feier besuchten, konnte er sicher voraussagen, an welchem Ort er seinen Mann im Laufe des Abends treffen würde, und zwar ganz alleine. Dass oben fast immer ein paar Toilettenhäuschen aufgestellt waren, tat nichts zur Sache. Die meisten Männer erledigten sie lieber unter freiem Himmel.
Endlich bekam er seinen Reißverschluss frei. Das leise knackende Geräusch der Waffe, die in den Büschen hinter ihm entsichert wurde, hörte er nicht. Doch er wusste, es musste da sein. Er drehte sich nicht um. Er machte sich nicht klein. Außerhalb des Schattens der Bäume stehend, musste er gut zu sehen sein. Er hielt inne und sagte laut und deutlich über die Schulter nach hinten: „Guten Abend!“
Eine tiefe Stimme antwortete ihm: „Nun begegnen wir uns endlich, Sie schnüffeln ja auf jedem Fest hinter mir her.“ Die Stimme kam ihm bekannt vor, ohne dass er sie gleich zuordnen konnte.
Er war kein Mann rhetorischer Umwege: „Wollen Sie mich umbringen?“
Er hörte, wie der Mann aus dem Gebüsch hervortrat und sich langsam näherte: „Persönlich finde ich Sie nicht unsympathisch. Sehen Sie, es ist eigentlich Ihr Pech, dass Sie ausgerechnet mir in die Quere kommen. Aber nun pischern Sie mal in aller Ruhe gegen die Sträucher, sehen Sie ruhig noch einmal auf den See – solange vertrete ich mir hier die Beine.“
Sich umzudrehen wagte er nicht. Er spürte seine Rückenmuskeln und bewegte leicht seine Schultern. Er sog den Holunderduft tief ein – und schloss die Augen. Ein Schuss zerriss die Stille, sein Echo rollte über den See. Für einen Augenblick stand er unbeweglich da. Dann drehte er sich sehr vorsichtig um. Zuerst nur mit dem Oberkörper. Dann auch mit den Beinen. Einige Meter entfernt sah er sein Gegenüber, einen großen stattlichen Mann mit verwischtem Gesicht und schwarzem Hut. Langsam begann der Hut sich vorwärts zu neigen. Der große Körper kippte wie in Zeitlupe vornüber und fiel ins Gras, genau aufs Gesicht. Als er sich zu ihm hinunterbeugte, drehte sich der Hut ein wenig zur Seite: „Aber Sie hatten doch keine Waffe!“
Von allen Seiten kamen nun Männer aus Büschen und Hecken, einige mit vermummten Gesichtern und mit Gewehren in den Händen. Der Abteilungsleiter trug einen modischen Trenchcoat. Ihm wendete er sich zu: „Sie haben mit Ihrem Zugriff ja lange gewartet. Unser Gespräch haben Sie doch über Mikro mitgehört, das Geständnis war gleich da. Mir wurde schon ganz mulmig.“
Der Abteilungsleiter holte einen Kaugummi aus der Tasche und grinste: „Sie sind zu emotional, lieber Kollege. Wir hatten ihn die ganze Zeit im Infrarot-Visier von drei Scharfschützen. Mit jeder Sekunde stieg für uns die Sicherheit.“
„Genau das Gefühl hatte ich aber nicht.“
„Sie sehen das falsch, mit jedem Moment wurde für uns sicherer, dass er der gesuchte Mörder ist.“