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Die Ziege, der Wolf und die sieben Geißlein

Ein Märchen von der Liebe

Es war einmal ein neugieriger Wolf, den trieb es auf die alte Route, die von Polen bis nach Frankreich führt. Er folgte der Fährte bis ins Mecklenburgische, da wurde er von einem schrecklichen Unwetter überrascht. Die Bäume bogen sich im Orkan, die morschen Äste brachen und fielen krachend und splitternd zu Boden. Blitze schlugen in das Wasser des nahen Sees und schreckten Reiher und Enten auf, und in der Luft lag der Geruch von Schwefel. Der Sturm heulte so laut, dass er nicht von dem andauernden Donnern zu unterscheiden war. Der Regen fiel so dicht, dass sich die Erde unter den Pfoten verflüssigte und der alte Wolfspfad sich in einen Bach verwandelte. Kurzum, es war kein Reisewetter.

Also beschloss der neugierige Wolf, seine Wanderung zu unterbrechen und unter einer alten Eiche Schutz zu suchen, denn er teilte nicht den Aberglauben der Menschen und kannte deshalb auch nicht das Sprichwort von den Eichen, vor denen zu weichen wäre. Als er seinen Körper gegen den mächtigen Eichenstamm drückte, bemerkte er Bewegungen hinter und über sich. Er war nicht der Einzige, der hier Zuflucht gesucht hatte. In strömendem Regen kletterte eine Katze an der Eichenrinde nach oben und entschwand im dichten Laubwerk. Die Bewegung hinter ihm hatte eine junge Ziege verursacht, die jetzt allerdings keinen Mucks mehr von sich gab, sondern in Schreckstarre verharrte. Die Ziege hatte zwei schöne braune Flecken in ihrem Fell und sie roch trotz des Regens köstlich nach Klee und Gras. Er stupste sie mit seiner warmen feuchten Nase, über deren magische Kraft er im Lauf der Zeit ein schwaches Bewusstsein entwickelt hatte. Damit dieser wunderbare Nasenzauber auch recht zur Geltung gelangte, bemühte er sich, seine schönen weißen Zähne nicht blinken zu lassen, er hatte da so seine Erfahrungen. Und tatsächlich tat der Nasenzauber seine Wirkung. Die Ziege rührte sich wieder und sprach mit zitternden Flanken: „Friss mich nicht!“

Der Wolf, der vor Kurzem einen Hasen verspeist hatte, war nicht hungrig, sondern zunehmend von einer anderen Neigung beseelt, die als einzige in der Lage ist, die sonst undurchdringlichen Grenzen zwischen den Tierarten dahinschwinden zu lassen, genauso wie sie als einzige Kraft bei den Menschen die Barrieren zwischen den Kulturen durchlässig macht.

„Hallo Ziege“, flüsterte der Wolf zärtlich.

Doch die Ziege mochte dem Frieden nicht recht trauen. Immerhin hatte sie ihre Sprache wiedergefunden: „Wie sollen wir uns vertragen, dir knurrt doch gleich der Magen.“

Doch dem verzückten Wolf stand der Sinn nicht nach Fressen, die Kraft der Liebe zügelte seinen Appetit vollkommen, und als er ihre Ohren sanft leckte, verschwendete er keinerlei Gedanken daran, wie diese wohl schmecken würden. Er spürte ihr weiches samtiges Fell mit den Lippen und nahm es leicht zwischen die Zähne. Und da schlug auch bei der Ziege die Liebe ein wie ein Blitz, sie erdrückte fast den Wolf und hätte ihn vor Liebe fressen können. So warteten die beiden ab, bis das Gewitter hinweggezogen war, und wärmten sich gegenseitig.

Als es aufgehört hatte zu regnen und der Wind sich gelegt hatte, sprach die Ziege: „Gegen die Liebe ist kein Kraut gewachsen.“

Und der Wolf erwiderte mit wohltönender Stimme: „Der Liebe kann niemand entgehen.“ Und so gingen sie gemeinsam in das modern ausgestattete Walmdachhaus, in dem die alleinerziehende Geiß mit ihren sieben Kindern wohnte. Die Geißlein waren ganz aus dem Häuschen, dass ihre Mutter wieder einen Freund hatte, und sie schlugen Kapriolen und machten die wagemutigsten Bocksprünge.

So lebten sie glücklich für sieben Tage, zuerst von Luft und Liebe, dann sammelte der Wolf Gras und Löwenzahnblätter und hin und wieder ein paar Mäuschen, mit denen die Geißlein aber wenig anzufangen wussten. Der Wolf lernte schnell und er fand Gefallen am modernen Ziegenleben, er lernte mit dem Herd hantieren und die Musikanlage bedienen, selbst der Rechner blieb ihm nicht fremd. Allerdings sang der Wolf am dritten Tag unter der Dusche: „Die Liebe, die soll blühn, ich mag aber kein Grün!“

Die Ziege, die den Gesang zufällig gehört hatte, drehte ihm sofort das warme Wasser ab und war empört. „Wenn du mich liebst“, meckerte sie, „musst du dein Leben ändern.“ Und sie erhob reimend ihre Stimme: „Liebe geht auch durch den Magen, sonst wird sie nicht lange tragen.“

Und die kleinen Zicklein rappten den Refrain.

Das Wohlleben hatte den Wolf bequem und unaufmerksam gemacht, und er merkte gar nicht, dass ihm Familie Ziege ein Ultimatum gestellt hatte. Als der Wolf den dritten Tag nacheinander weder sein Zimmer aufgeräumt noch frisches Grünzeug organisiert hatte, warf die Ziege ihn kurzerhand hinaus. Der Wolf trollte sich und fraß versehentlich einen Dackel, der ihm in der Nähe eines Parkplatzes in die Quere kam. Er war todunglücklich und zog nicht weiter auf der alten Wolfsfährte nach Westen, sondern blieb in der Nähe des Hauses.

Eines Tages beobachtete der Wolf, wie es seine Art war, das Haus der geliebten Geiß. Er sah, dass sie die Tür hinter sich verschloss und verriegelte und ausging, wohl um Futter zu holen. Sie hatte also die Kinder alleine zurückgelassen. Und einige Zeit später bemerkte der Wolf Rauch über dem Dach des Hauses, der nicht aus dem Schornstein stammte. Obwohl das Haus sehr neu war, hatte es ein altes Reetdach und der Wolf wusste gut, wie lichterloh diese Dächer brennen können. Mit Feuer kannte sich der Wolf überhaupt gut aus, denn die Jäger hatten oftmals versucht, ihn mit Feuer aus Dickichten zu vertreiben, in denen er sich versteckt hatte oder ihn aus seinen Höhlen auszuräuchern.

Der Wolf dachte kurz und tief nach, und mit zu Schießscharten verengten Augen und mahlenden Kiefern presste er hervor: „Ich muss sie täuschen, wenn ich sie retten will. Denn ihre Mutter hat sicher nicht viel Gutes über mich erzählt.“

Er nahm seinen Rucksack, den er seit dem Aufenthalt im Hause Ziege besaß, und eilte zum Eingang des gefährdeten Hauses. Er drückte auf den Klingelknopf und hoffte, dass ihm nun kein Fehler unterliefe. Als eine Kennziffer verlangt wurde, tippte er das Geburtsdatum der Ziege ein, denn er wusste: Sie war eitel. Es klappte auf Anhieb. Als er von der scheppernden Stimme aufgefordert wurde, eine Erkennungsmelodie zu singen, dachte er nach, was Ziege meist gesungen hatte, im Bett, in der Badewanne, in der Küche. Ihm fiel ein Rocksong ein, er holte seinen I-Pod aus dem Rucksack und spielte den Originalsong in die Sprechanlage, den die geliebte Ziege immer gesummt hatte. Es funktionierte ebenfalls.

Als er aufgefordert wurde, seine Pfote auf den Scanner zu legen, wurde er ein wenig unsicher. Sein eigenes Fell war zu struppig, aber auch das der Ziege war an den Füßen nicht sehr schön. Ihm fiel wieder ihre Eitelkeit ein: Bestimmt hatte sie das feinere Fell eines anderen Tieres oder ein schönes Tuch zur Erkennung eingegeben. Auf gut Glück legte er ein Mäusefell auf die Photozelle, und die Tür sprang auf. Im Nu war er bei den sieben Geißlein, die im Zickzack durch das Treppenhaus liefen und sich in den Zimmern versteckten. Er musste sie nach draußen bringen, damit sie nicht verbrannten, und zwar alle auf einmal. Denn wenn er ein Zicklein nach dem anderen aus dem Haus brächte, würden ihn die restlichen Geißlein aussperren, denn sie waren muntere Gesellen. Sie würden die Schlossanlage verändern oder sich verbarrikadieren, sodass er nicht mehr hereinkäme.

Und da kam die Eingebung. Er hatte von Tieren gehört, die ihre Jungen zum Schutz in den Mund nahmen und sie wieder freiließen, wenn die Gefahr vorbei war. Sein Mund war so groß nicht, er musste sie vorsichtig herunterschlucken und anschließend wieder hochwürgen, als wäre er ein Wiederkäuer. Eine Zeit lang würden sie in seinem Bauch überleben können, dafür gab es Beispiele.

Gesagt, getan.

Er stöberte die Geißlein in ihren Verstecken auf und verschluckte sie, eins nach dem anderen, bis er das Gefühl hatte, er würde gleich platzen. Mit schweren Schritten torkelte er aus dem Haus und legte sich schwer atmend unter den nächsten Busch in einiger Entfernung von dem Ziegenhaus. Vor Anstrengung und Müdigkeit schwanden ihm die Sinne und bald schnarchte er in einem tiefen ohnmächtigen Schlaf.

Er hatte einen schweren Traum, in dem die Mutter Geiß zurückkam. Sie ging ins Haus und holte etwas, aber sie herzte und streichelte ihn nicht, sondern schnitt ihm mit einem Skalpell den Bauch auf, um alle ihre Kinder schnell wieder an die frische Luft zu holen. Und dann hantierte sie in seinem Bauch herum, ohne dass er sehen konnte, was sie da eigentlich machte. Und er wurde im Traum immer schwerer, und er hatte einen großen, großen Durst. Mühsam richtete er sich auf und bewegte sich zum nächsten Brunnen, um seinen Durst zu löschen. Als er sich aber über den Brunnenrand beugte, verlor er plötzlich das Gleichgewicht und eine mächtige Kraft zog ihn nach unten und er fiel und fiel, und während seines Falles hörte er von weit oben über sich Gesang und Geschrei, und es klang, als würde da gerufen: „Der Wolf ist tot! Der Wolf ist tot!“

Als der Wolf immer tiefer in seinen Albtraum fiel, kam ein kräftiger Regen auf, der das Feuer im Reetdach löschte. Als die Ziege nach Hause kam, hörte sie von dem Zicklein, das der Wolf vergessen hatte, die Geschichte. Und sie machte sich ihren eigenen Reim darauf. Sie ging zum Brunnen, zum Wolf, der im Schlaf stöhnte, schüttelte ihn sanft an den Schultern. Als er die Augen aufschlug, sagte sie zärtlich: „Wolf! Lieber Wolf! Ich werde dich nie wieder hinauswerfen! Und sie streichelte über seinen Bauch.“

Schauderwelsch

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