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Regenbogenrutsche

Es war nicht in der alten Zeit, als die Menschen arm und sehr oft hungrig waren. Als viele Kinder obdachlos und verwaist ihres Weges zogen. Dennoch war das kleine Mädchen traurig und unglücklich. Mutter hatte ihre Koffer gepackt und war ausgezogen. Vater würde ihr im Haus alles alleine überlassen und nie staubsaugen, sagte die Mutter. Vom Wäschewaschen und Rasenmähen war auch die Rede. Mutter, mit der sie so viele Bilderbücher gelesen hatte und von der sie so viele Märchen kannte, hatte die Koffer gepackt. Mutter, die so oft mit ihr gekuschelt hatte, war weg. Ohne ihr einen Kuss zu geben oder einen Ton zu sagen. Und Papa sagte gar nichts. Er tat auch nichts. Bis auf etwas Unsinniges: Er goss sich ein rotbraunes Getränk ins Glas und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Dabei hatte er schon vor zwei Jahren aufgehört zu rauchen.

Das kleine Mädchen hatte keine Lust auf eine böse Stiefmutter, die jetzt bestimmt bald einziehen würde. Es schnappte sein Bündel wie eine Müllersburschin und ging in den nächsten Park, der den Namen Stadtpark hatte. Ein leichter Wind kam auf, und aus dem wolkenverhangenen Himmel begann es zu regnen. Das Mädchen stellte sich in den Schutz einer mächtigen Eiche und fühlte sich elternlos und ausgesetzt, obwohl es ja von alleine in den Stadtpark gekommen war. Weil es sich aber so unglücklich fühlte, weinte es bitterlich auf seiner alten Parkbank, obwohl es in Wirklichkeit noch Eltern besaß und auch nicht obdachlos war.

Der anhaltende Wind wurde noch stärker und schob an einigen Stellen die Wolken beiseite, sodass die Sonnenstrahlen einen Teil der großen Parkwiese hell beleuchtete. Obwohl es über ihr noch regnete, kam die Sonne immer mehr hervor und es entstand ein Regenbogen, der von der einen Seite des Parks bis zu der anderen reichte. Das Mädchen betrachtete die stärker werdenden Farben und staunte: „So ein schöner Rogenbegen!“ Es merkte aber sogleich, dass das irgendwie falsch war, und dann fiel ihm ein, dass der Rogenbegen eigentlich Regenbogen heißt. Um seinen Fehler möglichst schnell wiedergutzumachen, rief es ganz laut noch einmal: „So ein schöner Regenbogen!“ Es wollte auch verhindern, dass der Regenbogen gleich wieder verschwand, man wusste ja nie. Und dann sah es sich in Ruhe die leuchtenden Farben an, das Rot und das Gelb! Und das Grün und das Blau! So schön! Das Mädchen überlegte, ob die Farbe unter dem Blau Violett oder Lila hieß. Es war da sehr unsicher. Hätte ihre Mutter ein Kleid in dieser Farbe gehabt, hätte sie es bestimmt gewusst.

An der höchsten Stelle des Regenbogens nahm sie irgendetwas Zappelndes wahr, so als ob eine Fliege im Spinnennetz gefangen wäre. Es wischte sich kurz die Augen, vielleicht waren da noch Tränen. Der kleine dunkle Punkt bewegte sich langsam auf dem Regenbogen nach unten. Dann sah es so aus, als würde der Regenbogen genau da, wo er gerade war, ein bisschen kräftiger, er hatte eine Verdickung, die wie ein Knoten aussah, der sich bewegte, vielleicht, weil er noch zugezogen wurde. Der Knoten wurde jedoch nicht kleiner, sondern immer größer und immer schneller. Die Knotenverdickung war ein Männlein, das wie auf einer Rutsche nach unten glitt und im letzten Augenblick schwungvoll aus dem Rutschstrahl absprang. Mit grünen Augen und noch bebendem roten Bart stand es vor dem kleinen Mädchen, machte ein besorgtes Gesicht und runzelte die Stirn.

„Wo drückt dich der Schuh, du schönes Kind?“, fragte das Männchen in den blaugelbgrünen Kleidern. Und das Mädchen erzählte ihm, dass seine Mutter es gerade zur Waise machen würde, zumindest zur Halbwaise. Da nahm das Männchen, das ein bisschen wie ein bunter Prinz aussah, das Mädchen an der Hand und ging mit ihm bis zum Ende der Stadtparkwiese, wo der Regenbogen den Boden berührte. Mit seinem Zeigefinger machte das Männlein einen raffiniert angedrehten Doppelschlag in den Regenbogen, dass die Funken sprühten. Und dann sprach es: „Gehe an den Rand des Stadtparks zur großen Bushaltestelle. Dort steht der blaue Koffer, auf dem deine Mutter sitzt. Du kannst beide abholen und nach Hause gehen. Wahrscheinlich will deine Mutter den Koffer nicht schon wieder alleine tragen.“

Das Mädchen tat genau das, und alles klappte wunderbar. Es war nicht zur Waise geworden, sondern lebte glücklich und zufrieden in seiner Familie. Der Vater hatte übrigens wieder mit dem Rauchen aufgehört.

Das Glücklich- und Zufrieden-Sein dauerte so lange, bis es von der Grundschule in eine weiterführende Schule kam. Denn es war nicht die alte Zeit, in der die Kinder noch nicht schulpflichtig waren und frisch in die Welt hinausziehen konnten, um dort Prinzen kennenzulernen oder anderweitig ihr Glück zu machen. Als sie die neue Klasse betrat, sah sie, dass sich dort niemand von ihren netten Mitschülerinnen aus der Grundschule befand. Stattdessen stand da eine Gruppe kichernder Mädchen, die sagten zu ihr, sie sei pummelig. Die Mädchen selbst waren so dünn, dass sie einzeln vielleicht gar nicht zu erkennen gewesen wären. Doch weil die Magermädchen nicht aufhörten zu kichern, taten sie ihm doch nicht mehr so leid, wie das kleine Mädchen sich selbst leidtat. Und als einige Jungen ihr „Guten Morgen“ wünschten, war es sich auch nicht sicher, wie diese das meinten.

Das kleine Mädchen hatte also Grund, unglücklich zu sein. Als ihr Unglück am größten war, fiel ihm das bunte Regenbogen-Männchen wieder ein, und es lief aus der Schule zum nächsten Park. Dort flogen nur ein paar Tauben im Himmel, der noch blau und leer war. Drei Tage musste es warten, bis endlich Wolken aufzogen und es zu regnen begann. Und weil es Sommer und die Sonne stark war, gab es wieder einen Regenbogen. Es drückte die Daumen ganz fest und sagte: „So ein schöner Regenbogen!“ Dabei dachte es ganz stark an das Regenbogenmännchen von früher. Und während es so dachte und wünschte und hoffte, nahm es eine Bewegung auf dem Regenbogen wahr, die größer und immer schneller wurde. Und schon sprang das Männlein mit dem roten Bart von seiner Regenbogenrutsche ab. Als es in seinem bunten Wams vor ihm stand, erzählte es ihm von der neuen Klasse mit den Stabheuschrecken und seinem großen Unglück. Das blaugelbgrüne Männlein mit dem violetten Hut furchte die Stirn, ließ den Daumen so schnell kreisen, dass er kaum mehr zu sehen war, hielt ihn in den Regenbogen und versprach im Funkenflug, ihm zu helfen.

In der zweiten Stunde am nächsten Morgen klopfte es an der Klassentür und der Schulleiter bat das Mädchen heraus. Er sah ein bisschen wie ein Köhler aus und sprach sehr freundlich. Er entschuldigte sich und erklärte, dass es durch einen Fehler im Sekretariat in die falsche Klassenliste gerutscht sei. Es hätte eigentlich von Anfang an mit seinen alten Grundschulfreundinnen in die Parallelklasse gehen sollen. Der Fehler war im Computer schon verbessert, und nun wollte der Direktor es noch in seine neue Klasse bringen. Als sie dort angeklopft hatten, sah das Mädchen, dass in der Klasse noch ein einziger Platz frei war – genau neben seiner besten Freundin aus der Grundschule.

Ohne sich sonderlich anzustrengen, wuchs das kleine Mädchen zu einem jungen Mädchen heran. Das klingt, als wäre sie jünger geworden, aber das Gegenteil war natürlich der Fall. Wie so manche Dinge um es herum, waren manchmal auch die Wörter wie verzaubert. Da es nicht nur zum jungen, sondern zum hübschen jungen Mädchen herangewachsen war, mit lustigen braunen Augen, langen blonden Rapunzel-Haaren und vielen Sommersprossen um die Nase, hatte es auch nur wenige Probleme, sondern war meist glücklich und zufrieden. Und wenn es doch einmal in Schwierigkeiten war, sah es einfach auf seine Fingernägel und schöpfte sofort wieder neuen Mut. Die Fingernägel nämlich hatte das junge hübsche Mädchen aus Dankbarkeit in den Regenbogenfarben lackiert. Und anders als viele andere Menschen war es immer guter Laune, wenn Regenwolken aufzogen.

Schauderwelsch

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