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ОглавлениеIm Hause Zimmermann
Ahnungslos stiefle ich an einem trägen Julitag 2012 durch das Leonhardsviertel und die Weltgeschichte, bis ich den Wirt Heinrich Huth vor seiner Kneipe treffe. Heinrich, 49, ist ein stattlicher Mann mit Zopf und Bauch. Seit zwölf Jahren führt er die Jakobstube. Er nennt sie ein »unverfälschtes Stück Altstadt«. Der Schwulen-, Damen- und Barhockertreff in der Jakobstraße 6 ist gut für einen Absacker, ob am Tag oder in der Nacht spielt keine Rolle.
Eine Milieukneipe für zwei Dutzend Gäste, raumgreifend die Theke, auffälligste Dekoration zwei Spielautomaten. Früher war in den Räumen des Lokals eine Wäscherei. Die Chefin war Frau Kötzle, sie kümmerte sich um die Garderobe der Altstadt-Jungs und gab im Notfall Kredit. Neuerdings dürfen die Gäste der Jakobstube auch vor der Tür Platz nehmen. Zehn Jahre lang habe er bei den Ämtern für die Straßenbestuhlung gekämpft, sagt Heinrich. Er hat nicht aufgehört zu kämpfen. Bis heute hat er den Traum, die Altstadt könnte eines Tages ein buntes, lebenswertes Quartier werden. Zufall, dass wir an diesem heißen Sommertag vor der Jakobstube plaudern. Es gibt immer viel zu diskutieren im Rotlicht, und Heinrich kennt sich aus. Er weiß, wer die übelsten Häuser in der Nachbarschaft besitzt, welcher politischen Partei die Herrschaften angehören, und er hat nachgeforscht, was es mit dem Gebäude der Jakobstube auf sich hat.
In dem Haus in der kleinen Fußgängerzone zwischen Leonhardsplatz und Weberstraße wurde am 2. Januar 1807 Balthasar Friedrich Wilhelm Zimmermann geboren. Keine Tafel, nichts erinnert an ihn. Vielleicht, sagt Heinrich, habe man den Mann bewusst vergessen, weil er ein radikaler Demokrat gewesen sei. Wilhelm Zimmermann war ein schwäbischer Dichter und Historiker, protestantischer Theologe, Doktor der Philosophie. Er schrieb Dramen, Novellen, Gedichte und veröffentlichte die berühmte »Allgemeine Geschichte des großen Bauernkrieges«. In Stuttgart besuchte er – zusammen mit seinem Freund Eduard Mörike – das Gymnasium Illustre, heute Eberhard-Ludwigs-Gymnasium. Während der Revolution von 1848/49 wurde er im Wahlkreis Schwäbisch Hall als Abgeordneter in die Frankfurter Nationalversammlung der Paulskirche gewählt; er zählte zur aufrechten Linken. Kurz darauf zog er mit großer Mehrheit für den Wahlkreis Schwäbisch Hall in die verfassungsgebende württembergische Landesversammlung ein.
Auf diese Dinge kommt der Spaziergänger in der Altstadt, bei einem Plausch mit Heinrich, geboren und aufgewachsen in Heidelberg. Es gibt in Stuttgart seit 1907 auch eine Zimmermannstraße, zwischen Olga- und Alexanderstraße. Um etwas über den Namensgeber zu erfahren, braucht der Flaneur eine detektivische Ader. Gegen ein Schild mit der Aufschrift »Wilhelm-Zimmermann-Straße« hat entweder die Stuttgarter Schildervorschrift oder die knappe Kasse gesprochen, so dass wir auf diesem Weg nicht über den Dichter stolpern.
Wilhelm Zimmermanns Geburtsstätte in der Jakobstraße 6 wurde zwischen 1700 und 1750 erbaut, als Barockhaus ist es ein Kulturdenkmal ersten Ranges. Vielleicht reicht ja die Stuttgarter Schilderverordnung aus, dem Dichter (er starb 1878) eine Erinnerungstafel zu widmen. Das würde nicht nur Heinrich freuen. Sollte das zu viel verlangt sein, bleibt uns ein Ausflug zur Wilhelm-Zimmermann-Gedenkstätte in Dettingen an der Erms.
Vielleicht aber wird auch das Stuttgarter Haus des toten Dichters eines Tages an einen großen Sohn der Stadt erinnern. In den guten Zeiten der Altstadt war es üblich, Kollekten zu organisieren, wenn einer der Jungs aus dem Viertel hinter Knastmauern wanderte. Heinrich hat beschlossen, etwas Kohle für den Freiheitskämpfer Wilhelm Zimmermann zu sammeln. Ein Erinnerungsschild an dessen Geburtshaus wäre ein kleines Zeichen gegen die Betonköpfe im Rathaus.