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Hirsch da Lupo

Zwischen den Jahren sind die Rhythmusstörungen in der Stadt zu spüren. Nur wenige Obst- und Gemüsehändler haben es am Morgen auf den Marktplatz vor dem Rathaus geschafft. Die aufgekitschten Bretterbuden des Weihnachtsmarkts sind verschwunden, der Platz liegt da wie ein geräumtes Camp. Auf den Pflastersteinen Tannenzweige, als hätte man im Nahkampf Christbäume wie Gänse gerupft, und aus den Freiluftboxen bei Breuninger dröhnt »Kling, Glöckchen, klingelingeling«. Der Kaufhaus-DJ bemerkt das falsche Timing, er schaltet um auf Hotelbar-Jazz.

Die Jazzmusik in Deutschland, habe ich am Morgen in der Zeitung gelesen, schwächelte im alten Jahr bedrohlich. Um nicht frühzeitig selbst dem Jazz zu folgen, kaufe ich mir auf dem Markt ein Glas Hägenmark. Ein Löffel Hägenmark am Morgen macht stark, wenn die Dinge zu Ende gehen. Bevor Weihnachten zu Ende gegangen war, fuhr ich zum ersten Mal mit der neuen Stadtbahn-Linie 15 nach Stammheim. Straßenbahnfahren in unerforschten Gegenden ist an harten Tagen weniger depressiv, als zu Fuß zu gehen.

Die wenigen Leute in der Bahn sprechen Italienisch oder Türkisch, und sie klingen, als hätten sie Gründe, fröhlich zu sein. Ich schaue zum Fenster hinaus, lese die Werbung und versuche mir einen Reim auf die Plakate von Marlboro zu machen: »Don’t be a Maybe«.

Meine Übersetzungskünste sind eher landläufiger Natur. Ich notiere: »Sei kein Vielleicht-Typ«, »keine Mal-so-mal-so-Memme«, »kein Eventuell-Trottel«.

Leider rauche ich seit Jahren nicht mehr, und meine Maybe-Übersetzung zündet auch nicht. Dann kommt es mir. Das englische Maybe als Hauptwort bedeutet zu Deutsch: der Womögliche. Jeder weiß, was ein Womöglicher ist: ein Grünen-Politiker, einer wie Cem Özdemir. Heute so, morgen so, und übermorgen klingelingeling. Cem Maybemir. Der Vielleichtgewichtler aus Bad Urach.

Nordbahnhof, Pragsattel, Feuerbach, Zuffenhausen. Die Kneipen linker Hand heißen – als hätte es die Globalisierung nie gegeben – Linde und Wallenstein, Löwen und Sonne. Die Sonne – man kann es weithin lesen – offeriert Übernachtungen ab 23 Euro. Ein fairer Preis zum Probeliegen, wenn man bedenkt, was eine Ruhestätte auf dem Pragfriedhof kostet.

Die Bahn fährt zügig, wir lassen die Sonne und viele Zockerbuden hinter uns, und bald erreichen wir Stammheim. Durchs Fenster sehe ich das Straßenschild Tuchbleiche. Früher wurde an diesem Ort handgewobenes Leinen auf den Wiesen der Sonne zum Bleichen ausgelegt. Heute ignoriert man die alten Flurnamen in der Stadt.

Wer an der Endstation Stammheim aussteigt, landet zwischen dem Fachwerkhaus mit der Gaststätte Rössle und dem etwas schäbigeren Altbau mit dem Asperg-Stüble. In beiden Kneipen ist das Bier günstig, keine Orte für zögerliche Maybes.

An der Haltestelle sehe ich ein Plakat: »Flittchen im Kittchen«, die Ankündigung für ein Stück im Renitenztheater, man hat es »SingSingSpiel« genannt. Sing Sing war hierzulande mal ein anderes Wort für Gefängnis, Kittchen oder (wie in Stuttgart) Containamo, meist in deutschen Film- und Fernsehklamotten Mitte des vorigen Jahrhunderts. Sing Sing heißt bis heute der berüchtigte Hochsicherheitsknast im US-Bundesstaat New York, der Name ist abgeleitet von dem Indianerwort »Sint Sinks«, zu deutsch: Stein für Stein. Stein für Stein mussten die Gefangenen ihren Knast Sing Sing im 19. Jahrhundert selbst bauen. Die moderne Marktwirtschaft kennt diese Produktionsweise als Synergie-Effekt.

Von der Endhaltestelle aus ist das Stuttgarter Sing Sing zu sehen, weltweit berühmt als Stammheim. Ein Gefangener kann sich, sofern des Deutschen mächtig, keinen zynischeren Namen für einen Knast vorstellen als Stamm-Heim. Vor dem Gefängnis sehe ich am Besucher-Eingang den Hinweis: »Tür öffnet und schließt selbsttätig.« Ich beschließe, draußen zu bleiben.

Imposant ist die Umgebung der Justizvollzugsanstalt Stuttgart. In der Nachbarschaft haben kluge Politiker den Treff Sieben Morgen untergebracht, das soziale Stamm-Heim der freien Kinder und Halbwüchsigen im hohen Norden. Vor dem Jugendhaus ließen sie Schutzschilde aus Stahl und Holz aufstellen, wohl mit der pädagogischen Weitsicht, den Insassen den Blick auf ihre Zukunft zu verbauen.

Den entscheidenden Beweis für eine erfolgreiche Integrationspolitik in Stammheim finde ich auch außerhalb der Knast-Gegend. Als ich an einer Pizzeria vorbei komme und ihren Namen lese, geht er mir runter wie zwei Löffel Hägenmark. Die Kneipe nennt sich: Hirsch – da Lupo.

Ein Hoch auf Lupo, den guten Wolf von Stammheim. Er hat dem alten Hirsch die Haut gerettet.

Im Kessel brummt der Bürger King

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