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Der Apotheker

Mit meinem Klapprechner, den ich zur Freude mancher Leser auch Fink nenne, stiefelte ich durch die Stadt und suchte einen Platz zum Aufwärmen. Die Stadt im frühen März war so kalt, dass ich bald die Hoffnung aufgab, irgendwo drinnen könnte es wärmer sein als draußen. Und weil ich in einem Alter bin, wo man die Apotheken Umschau neben den Rolling Stone legt, ging ich in eine Apotheke. Das war weit im Westen der Stadt. Ich verlangte Aspirin Complex, Schnupfenspray mit 24-Stunden-Wirkung sowie 1000 Jodtabletten.

Ich plauderte ein wenig mit dem Apotheker, ich hatte ihn nie zuvor gesehen. Er hatte weiße Haare, wache Augen und vermutlich schon einige Jahre vor mir die Apotheken Umschau neben den Rolling Stone gelegt. Wir sprachen über die Machenschaften der Pharmaindustrie, und er erzählte, wie er neulich Geld für Medikamente an einen US-Konzern überweisen musste, obwohl er für die gleichen Pillen noch wenige Tage zuvor bei einer deutschen Firma bezahlt hatte. »Der große Tiger frisst alles«, sagte er und führte seine Hände zum Mund. »Ja«, sagte ich, »alles gehört heute denselben Banditen.« »Da haben Sie recht«, sagte der Apotheker, »überall das gleiche Lumpenpack. Ich sage Ihnen: Die stecken alle unter einer Decke.« Der Mann war mir auf Anhieb sympathisch, auch weil ich den Ausdruck Lumpenpack seit Jahren nicht gehört hatte. Das Wort klingt betörend, wie der heute leider vergessene Scherenschleifer, der Halbdackel oder Kuttenbrunzer.

Nachdem wir drei Minuten lang das organisierte Verbrechen von China bis Kalifornien beleuchtet hatten, gab mir der Apotheker den Kassenbon. Es machte 29 Euro fünf. Ich legte 30 Euro auf den Tisch, und der Apotheker gab mir zwei zurück. Als ich ihn verwundert anschaute, sagte er: »Wir runden ab auf 28 Euro. Endlich habe ich mal einen gefunden, der die gleiche Gesinnung hat wie ich.«

Ich bedankte mich überschwänglich, griff die neue Apotheken Umschau und ging herzerwärmt hinaus in die Kälte. Nie zuvor hatte ich von einem Gesinnungsbonus im Pharmageschäft gehört.

Ich stieg in eine Bahn Richtung Stadtmitte, kaute auf einer Ladung Jodtabletten und blätterte müde in der brandneuen Apotheken Umschau – bis ich auf einen Bericht stieß, der besser aufputschte als Aspirin Complex. Der Text handelte von den Orientierungsproblemen des Menschen.

Seit ich lebe, habe ich enorme Schwierigkeiten, mich in der Welt zurechtzufinden. Die Ursache des Problems, erfuhr ich aus dem Artikel, ist die Tatsache, »dass der regelmäßige Gebrauch von Navigationsgeräten den Orientierungssinn verkümmern lässt«.

Diese Nachricht war ein Schock. Wenige Tage zuvor war es mir nur mithilfe meines Taschentelefons gelungen, Namen und Standort eines Frankfurter Cafés zu ermitteln, in dem ich gerade Kartoffelsuppe mit Wiener Würstchen zu mir nahm. Seit jeher leide ich an katastrophaler Orientierungslosigkeit. Allein deshalb habe ich Stuttgart nie verlassen. Noch heute kommt es vor, dass ich mich in meiner Nachbarschaft verlaufe. Es gab Zeiten, da habe ich tage- und nächtelang nicht nach Hause gefunden. Nicht einmal mit dem Taxi.

Der Artikel in der Apotheken Umschau hieß »Kompass im Kopf« und förderte wichtige psychologische Erkenntnisse zu Tage. Zitat: »Da das Auge eine herausragende Rolle spielt, tun sich blinde Menschen grundsätzlich mit der Orientierung schwer.«

So präzise hatte das noch nie einer gesagt. Jetzt erst wurde mir mein wahres Handicap bewusst. Als ich ausstieg, begriff ich, warum etwas nicht stimmt mit meinem Kompass im Kopf. Gott hat vergessen, die Nadel einzubauen. Kaum aus der U-Ebene aufgetaucht, sah ich in der Eberhardstraße einen Computerladen, und ich war mir sicher, dass an dieser Stelle noch kurz zuvor ein Waffengeschäft für Luftgewehre, Schmetterlingsmesser und Pfefferspray geöffnet hatte. Könnte sein, dass ich vor dem Geschäft eine Wahrnehmungsstörung erlitten hatte. Als härteste und blutigste Waffe gilt inzwischen der Computer, weit wirkungsvoller als jede Kalaschnikow. Die Amerikaner behaupten bis heute, der Klapprechner sei dem Kriegsbeil überlegen. Vietnam, Afghanistan und Avatar in 3 D jedoch haben uns etwas anderes gelehrt.

Sobald mein Schnupfen auskuriert ist, werde ich mir eine neue Krankheit zulegen und erneut den weisen Apotheker aufsuchen. Bis dahin müssten Berlusconi und Gaddafi, Mubarak und Kretschmann vom Schirm sein. Und der Apotheker und ich würden so viel und so lange über die Rest-Mafia zu reden haben, bis sich meine Medikamentenrechnung bei null einpendeln dürfte.

Allerdings gibt es inzwischen ein Problem: Ich habe keine Ahnung, wie ich meine Apotheke wiederfinden könnte. Sie war verdammt tief im Westen, ich kann mich nicht an die Adresse erinnern, auch nicht an ihren Namen. Mir wird nichts anderes übrigbleiben, als wildfremde Leute in den Straßen zu fragen, ob jemand den weisen Apotheker vom Westen kennt. Ich muss ihn finden, er ist der letzte Mann mit einem Kompass im Kopf. Helfen Sie mir, werde ich den Leuten zurufen: Ich suche den Mann, der weiß, wo das verfluchte Lumpenpack unter einer Decke steckt.

PS: Anfang 2012, ein Jahr, nachdem dieser Text erschienen war, erhielt ich anonym eine Nachricht, mein Apotheker sei gestorben.

Im Kessel brummt der Bürger King

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