Читать книгу Dorfgeschichten aus Niederbayern - Johann Eckerl - Страница 8

„In der Früh‘, Vitus, da hab ich noch nicht einmal gewusst, dass ich die nicht kenn‘!“

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Es ist Montag Morgen. Einige Kinder haben sich mit großen Schultaschen auf dem Rücken unter dem Baum zusammengerottet und blicken respektvoll ins Geäst hinauf. Der Xaver hat sich gestern Abend noch recht akrobatisch aber erfolgreich in seine Hängematte hineingearbeitet und schaut jetzt von da drin halb aufgerichtet hinab auf die Kinder, die ihn auf dem Weg zur nahen Schule oben im Baum entdeckt haben. Die anfängliche Überraschung weicht immer mehr der Belustigung.

„He, was machst denn du da oben?“, ruft ein kleines Mädchen amüsiert und interessiert dem Xaver zu.

Und der Xaver hätte geantwortet, wenn er gedurft hätte.

„Ja, was soll denn das? Man glaubt‘s ja nicht! Schauen Sie nicht gleich, dass Sie von da oben verschwinden. Sie machen den Kindern Angst. Ja, wo sind wir denn? Ja, das gibt‘s ja nicht!“, peitscht es jäh in seinen Gehörgang und er muss sich erst auf die andere Seite umdrehen, damit er die Frau Lehrerin sieht.

Emilia Knoll, 59 Jahre, von Geburt an unverheiratet, ist eine willensstarke Lehrerin, wie man sie noch von früher kennt: fürsorglich streng mit ihren Schülern und eindringlich belehrend den Eltern gegenüber – denn zum Lernen ist es nie zu spät, meint sie immer. Und bei ihrer unendlichen Mission gegen Unwissen und Unschicklichkeit duldet sie keinen Widerspruch.

Der Xaver kennt das Fräulein Knoll ja nicht. Er ist ja eher selten in der Schule. Und mit fremden Leuten redet der Xaver nur, wenn‘s unbedingt sein muss. Und jetzt muss das nicht sein. Auch fühlt er sich nicht mobilisiert, der Anweisung des Fräulein Knoll zu folgen. So zieht er seinen Kopf wieder zurück in den Schutz der bauchigen Hängematte.

„Kinder! Ab in die Schule! Jetzt gleich! Aber sofort! Alle!“, schickt Fräulein Knoll die Kinder sanft und verständlich auf den rechten Weg, um sich und ihrer Missbilligung freies Feld zu verschaffen.

„Jetzt hören Sie mal, Sie alter Depp“, wendet sie sich nun wieder dem versteckten Xaver zu.

„Mir ist das völlig wurscht, wer Sie sind und gegen was Sie da oben protestieren oder welchem kranken Geist Sie sonst folgen, aber meine Kinder lasse ich mir nicht von Ihnen verängstigen“, sagt das kinderlose Fräulein Knoll mit erhobener Stimme und winkendem Zeigefinger.

„Und wenn Sie nicht sofort verschwinden, dann werde ich mich an den Bürgermeister wenden und die Polizei werde ich auch holen!“

Der Xaver hat auch dazu nichts zu sagen. Emilia Knoll sieht auf die Uhr und stellt fest, dass es jeden Moment zum Unterrichtsbeginn gongen wird. Eine Verspätung wäre keinesfalls in Ordnung. Deshalb verabschiedet sie sich jetzt vom Xaver:

„Bis zur großen Pause sind Sie weg! Spätestens! Oder Sie werden mich kennenlernen!“

Der Rest des Vormittags verlief ganz gut für den Xaver. Zur großen Pause um halb zehn Uhr waren weder die Kinder noch sonst irgendwer erschienen. Auch das Fräulein Knoll musste er nicht näher kennenlernen. Selbst nach Schulschluss waren keine Kinder oder Lehrerinnen zu sehen. Offenbar waren die Schüler zur Hintertür rausgebracht worden, damit sie sich nicht vor dem Xaver fürchten mussten. Und der Schulbus für die auswärtigen Kinder hält sowieso auf der anderen Seite des Dorfplatzes hinter dem Pfarrheim.

Pünktlich um halb Zwölf brachte ihm seine Hilde eine Gulaschsuppe mit Kartoffeln. Mit seinem Karabiner-Seil holte er den alten blechernen Wehrmachtsnapf zu sich hoch und winkte Hildes Frage unbeantwortet ab:

„Wann kommst denn wieder heim, Xaver?“

Gerade nachdem er seine Suppe gegessen hatte, kam der Fritz vorbei und legte ihm wohlwollend zwei Flaschen Bier in den heruntergelassenen Korb. Dies entlockte dem Xaver dann doch ein Wort, oder besser zwei Worte:

„Danke, Fritz!“

Woraufhin ihm der Fritz versicherte:

„Das passt schon, Xaver.“

Denn der Fritz war schon beeindruckt vom Xaver seinem Protest. Zwei Tage und zwei Nächte war er jetzt schon da oben auf der Eiche.

„Und wennst mal auf‘s Klo musst, dann kommst einfach rüber, gell?“

Eigentlich hat der Xaver ja schon mit dem Besuch vom Bürgermeister gerechnet, wie ihm das Fräulein Knoll versprochen hat.

„Aber“, so denkt sich der Xaver, „der wird sich wohl noch ein paar Schimpfwörter ausdenken müssen. Das g‘wamperte Würschtl, das g‘wamperte!“

Was soviel meint, dass der Bürgermeister so etwas wie ein kleines Würstchen mit ausladendem Bauch sei. Das kann man sich jetzt schlecht vorstellen, darum stellen sie sich einfach einen kleinen dicken Mann mit Glatze vor – weil so eine Wursthaut hat ja auch keine Haare.

Auch an diesem Tag zeigt sich der Sommer von seiner sonnigen Seite. Der Xaver sitzt im Schatten des Laubes auf seinem Ast. Er ist ganz froh um das Kissen, das ihm seine Hilde mitgegeben hatte und drapiert es auf den Ast, um etwas weicher zu sitzen. Zwischendurch war er schon mal ein Stück höher geklettert. Nur der Bewegung wegen und um zu sehen, wie weit es da runter geht. Denn irgendwie wird er langsam ein wenig steif in den Gelenken und mancher Knochen schmerzt an ungewohnten Druckstellen.

Es ist halb sechs Uhr abends, als der Xaver so dasitzt und überlegt, ob er die gähnende Leere um die Eiche herum dazu nutzen sollte, ein wenig Wasser zu lassen. Da sieht er plötzlich eine Gruppe Menschen die Straße heraufkommen. Schnurstracks fluten dreißig, vierzig Leute den Dorfplatz und nähern sich strammen Fußes der Eiche und dem Xaver. Einige von ihnen tragen Schilder, die sie in die Höhe halten.

„DER BAUM MUSS BLEIBEN!“, steht in großen handschriftlichen Buchstaben auf einer Tafel, „DIE EICHEN DÜRFEN NICHT WEICHEN!“ auf einer anderen. Es steht zwar nur eine einzige Eiche da, aber das hätte sich nicht so schön gereimt. Am besten gefällt Xaver das Schild mit der Aufschrift: „LIEBER WEG MIT DEM BÜRGERMEISTER, STATT WEG MIT DER EICHE!“

Die Leute breiten Decken aus und stellen Stühle auf – auch der Vitus ist wieder mit seinem Klappstuhl da. Andere schleppen riesige Kühlboxen und Körbe an. Ein junges Paar breitet ein großes Leintuch auf dem Pflaster vor der Eiche aus, auf dem steht: „WEIL UNS DAS GEFÄLLT, WIRD HIER NICHTS GEFÄLLT!“

Und es kommen noch mehr. Die meisten davon setzen sich zu den anderen unter die Eiche. Andere wiederum filmen oder fotografieren die Szenerie im Herumgehen. Auch der Fritz ist mit seinem Handwagen voller Bier und Wurstsemmeln wieder da und der Fischer Albert fotografiert und notiert auch wieder. Es werden an die hundert Leute sein, die sich hier unter dem Xaver versammelt haben. Die Schilderträger wandern in einer Reihe unermüdlich um den Baum und intonieren ein unendliches und ebenso monotones:

„Der Baum muss bleiben der Baum muss bleiben der Baum muss bleiben …“

Dem Xaver ist das alles gar nicht recht.

Da steht der Vitus von seinem Klappstuhl auf, den er diesmal nicht so nah am Stamm aufgestellt hat, und winkt dem Xaver mit einer Zeitung zu:

„He Xaver, du stehst in der Zeitung!“

Der Xaver lässt den Korb hinunter und der Vitus versteht sogleich, dass er die Zeitung in den Korb legen solle.

„EINSAME PROTESTAKTION IN AUGSEE“, steht auf der Titelseite des Tagblatts.

„XAVER SAUMBERGER BESETZT ALTE EICHE, UM FÄLLUNG ZU VERHINDERN“, heißt es im Untertitel, gefolgt von einem großen farbigen Foto von der Eiche und dem Xaver seinem Hintern in der Astgabel. Dem Xaver ist das alles gar nicht mehr recht.

Dorfgeschichten aus Niederbayern

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