Читать книгу Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang - Johann Gottfried Herder, Christian Friedrich Hebbel - Страница 22
Erster Aufzug
ОглавлениеAnselmo. Hilf dem armen Gaddo, mein Vater! Sein Anblick dringt mir ans Herz.
Ugolino. Guten Mut, mein wackrer Anselmo. – Armer Gaddo!
Gaddo. Ach, mein Vater!
Anselmo. Ich dachte nicht, daß es so böse Menschen auf der Welt geben könnte. Warum hat der Thurmwärter dem armen Gaddo nichts zu essen gebracht? Ein tückischer Mann, der Thurmwärter!
Ugolino. Er kann krank sein; es kann ihn ein Unglück betroffen haben. Er ist unschuldig an unserm Hunger.
Anselmo. Hungert dich denn auch, mein Vater?
Ugolino. Dich nicht, mein Lieber?
Anselmo. Mich dünkt, daß mich weniger hungern würde, wenn der arme Gaddo zu essen hätte. Ich kann sein eingefallnes bleiches Gesicht nicht ohne Schmerz ansehen. (umarmt Gaddo.)
Ugolino. Armer Gaddo!
Gaddo. Sei nicht traurig, mein Vater.
Anselmo. Sieh, mein Vater, ich bin nicht traurig. (Trocknet sich die Augen ab.) Ich bin nur müde.
Ugolino. Und müßt ihr meine Tröster sein? Ha! es ist bitter.
Anselmo. Du sagtest, dem Thurmwärter sei ein Unglück begegnet. Ist denn niemand, der ihm den Liebesdienst tun könne, statt seiner zu kommen? Es ist doch unbillig, daß Gaddo nicht essen soll. Kein Weib, keine Tochter, kein Blutsfreund?
Ugolino. Ich hoffe, mein Anselmo, daß jemand für ihn kommen werde.
Anselmo. Die Bedauernswürdigen haben unsrer vielleicht über dem Unglück des Mannes vergessen.
Ugolino. So ist's.
Anselmo. Ich bedaure sie von Herzen.
Ugolino. Gott wird dich wieder bedauern, mein Geliebter.
Anselmo. Und den kranken Gaddo.
Ugolino. Uns alle.
Anselmo. Dich? Und ein Gott müßt es nur sein, der dich bedauerte. Von der Welt braucht ein so großer Mann, wie du, nicht bedauert zu werden. Meine Mutter hat mir oft gesagt, daß du ein sehr großer Mann bist; jedermann sagt es. Wenn ich ein Mann wäre, ich will nicht träumen, ein großer Mann: denn was habe ich, ich Pflanze! getan, daß ich ein Mann sein könnte, wie du? aber wenn ich ein Mann wäre, niemand sollte mich bedauern.
Ugolino. Wie das?
Anselmo. Doch itzt besinne ich mich: ich müßte auch ein freier Mann sein; nicht im finstern Thurm eingesperrt sitzen; frei müßt ich sein; frei meine Hand (sie würde dann Nerve haben;) frei dieser Arm – ha!
Ugolino. Du schweigst? du glühst? Rede weiter, mein Sohn Anselmo.
Anselmo. Mein Vater! (seinen Arm um seinen Vater schlingend) Großer Mann! schäme dich meiner nicht, daß ich erröte! Ah, Gherardesca, nenne mich noch einmal deinen Sohn Anselmo!
Ugolino. Mein geliebter, mein edler Sohn Anselmo! Mein männlicher Sohn Anselmo!
Anselmo. (auf und ab gehend) Ich bin nur dreizehn Jahre alt: aber Ugolino Gherardesca hat mich seinen Sohn genannt. Männlicher Sohn ist zu viel: aber genug, Gherardesca hat mich seinen Sohn genannt! Zittre du, o du, den ich jetzt denke, zittre vor dem Sohne Gherardescas, wenn er ein Mann sein wird!
Ugolino. Welch großer Gedanke drängt sich, und keimt auf in deiner zarten Seele? Bewundernswürdig!
Anselmo. Ein Sprung vom Thurme, sagte Francesco, ist ein kühner Gedanke: allein ein kühner Gedanke, setzte er hinzu, ist ein angenehmer Gedanke. Es ist wahr; je höher ich mir den Thurm denke, desto höher erhebt sich meine Seele.
Ugolino. Nun?
Anselmo. Wie ärgert's mich, daß Francesco mir darin zuvorkommen mußte!
Ugolino. Was schwärmst du, Knabe? Worin zuvorkommen?
Anselmo. Das zu denken! ach! – In jedem entzückenden gefahrvollen Gedanken läßt er mich hinter sich. Du würdest mich nicht so mit der Miene Knabe nennen: würdest du? Es schmerzt mich, mein Vater!
Ugolino. Ruggieri, laß deinen Grimm diesen Weg nehmen! (auf sein Herz zeigend) Feind meiner Seele, laß ihn diesen Weg nehmen!
Anselmo. (erschrocken) Wen nanntest du? Ah, mein Vater!
Gaddo. Ruggieri? O sieh, sieh, mein Vater! (hält ihm seinen Nacken hin) so hat er mich geschlagen!
Ugolino. Traurig! jammervoll! wie sie in meiner Seele wütet! o diese Erinnerung!
Gaddo. Er schlug mich! So hob er seine Hand auf! – Dann schlug er mich. Weder mein Vater, noch meine Mutter haben mich geschlagen. Meine Mutter wollte mich in ihrem Busen verbergen; und der eiserne Erzbischof traf auch sie.
Ugolino. Und wo war ich bei dieser schändlichen grausamen Szene? Ah, Barbar! das ist es! das schmerzt! Daß deine Büttel mich unter der schwärzesten aller Nächte (verbannt sei sie auf ewig aus meinem Gedächtnisse!) niederdrücken mußten, daß ich nicht um mich her schauen, nicht in dem gerechten Zorne meiner Seele mich erheben, dich nicht zwischen meine ausgestreckten Hände fassen, dir nicht das verruchte Herz aus dem Leibe drücken konnte! Doch du tatst wohl, daß du den Bären aus seiner Höhle entferntest, und Dank sei deiner Weisheit! Beruhigt euch, meine Kinder! Wie ist's, Gaddo?
Gaddo. Sage mir, mein Vater, warum ward dieses Fenster so klein gemacht?
Anselmo. Daß man nicht durchschlüpfe, Gaddo.
Gaddo. Ein glücklicher Einfall! Man hat vorausgesehn, daß der Erzbischof versuchen würde, zu uns zu kommen, und darum hat man das Fenster so klein gemacht. Ein guter Einfall! Ich wunderte mich schon, daß er uns so lange in Ruhe gelassen hat.
Anselmo. Wollte Gott, er käme!
Gaddo. Pfui, Anselmo!
Anselmo. Ich sage noch einmal, wollte Gott, er käme.
Gaddo. Das Blut starrt mir in den Adern, du böser Anselmo.
Anselmo. Aber wohl zu verstehn, durch dies kleine Fenster: den Kopf voran, und die übrige Schlange strotzte draußen im Freien, und könnte sich nicht nachwinden! und ich stünde hinter ihm an der Wand! ungesehn! Hei, Gaddo! (umarmt Gaddo)
Gaddo. Mutwilliger! Er würde seine Büttel mit sich bringen.
Anselmo. Die möchten wieder heimkehren. Ich wünsche keinem Menschen Arges, als ihm.
Gaddo. Hat er dich auch geschlagen?
Anselmo. Was Schlimmers, Gaddo. Er hat mich gehöhnt.
Gaddo. Gehöhnt?
Anselmo. Er hob mich auf seine verhaßten Arme, als wäre ich ein Säugling, setzte mir sein Barett auf den Kopf, und nannte mich Prinz von Pisa.
Gaddo. Prinz von Pisa? Was ist das?
Anselmo. Merkst du denn nicht, daß er unsers großen Vaters spotten wollte?
Gaddo. So scheint's. Und du?
Anselmo. Ich zitterte. »Bischof!« stammelte ich, »Bischof! warum? wie? für was diese Krönung? Ich mache keine Ansprüche darauf, Bischof. Ich lege das Diadema – zu deinen Füßen.« – Weg flog das Barett.
Gaddo. Gut war's, daß du das Barett nicht behieltest. Wer weiß, es könnt ihn gereut haben; und so hätt er dich auch geschlagen.
Ugolino. Ihr Kinder macht mich lächeln. Wie, mein kleiner Freund, du warfst ihm das Barett vor die Füße? Was sagte der Mann da?
Anselmo. Seine plumpen Augen schwollen ihm ganz dick im Kopf auf, recht so, wie ich's an der Kröte gesehen habe, die Francesco mit dem Wurf einer Orange traf. Er preßte mich fest an sich, kniff blaue Mäler in meinen Arm, biß die Lippen zusammen, und ließ sie dann hangen, sprach kein Wörtchen, nahm das Barett langsam vom Boden auf. Traun, er kam mir so hölzern vor, daß ich ihn im Bücken von mir stieß, und mit einem Schwünge seinen Armen entsprang.
Gaddo. Was für boshafte Menschen es gibt! Er kniff dich doch, ob du ihm gleich das Barett zurückgabst!
Anselmo. Nun fand er die Sprache. Er rief seinen Sbirren, mich den Buben (so schalt seine Wut) meinem Vater (ich verschweige den Namen seiner Vergiftung: was über seine Zunge geht, wird ein Greuel) –
Ugolino. Er hat keine andre Waffen.
Anselmo. – nachzuschleppen, mich aus dem Drachenneste hinweg in den Thurmkerker zu schleppen. »Ich danke dir«, antwortete ich mit einer Verbeugung, »ein Drachennest ward diese Wohnung erst, da du sie mit deiner Brut betratst.« Ich wollte mehr sagen: die Sklaven aber bebten, wie Totengeribbe, mit mir davon. Nun bin ich hier; drum sei nicht traurig, mein Vater.
Ugolino. Ach, Anselmo, du süßer Knabe, kannst du –
Anselmo. Du wendest deine teuren Augen von mir weg, mein Vater?
Ugolino. Kannst du – und du, mein sanfter Gaddo – könnt ihr mir vergeben, meine Kinder?
Anselmo. (zu Gaddo) Unser Vater ist wunderbar bewegt. Wie er mir die Hand drückt!
Ugolino. Nur dies noch. – Ihr Unschuldigen, vergebt mir!
Gaddo. Ach! er zürnt, unser Vater. Was mag er meinen?
Anselmo. Er riß sich mit Gewalt von uns los. Er wollte noch etwas sagen; ich sah's; er zwang die Sprache zurück in seine männliche Brust; eine hohle dumpfigte Sprache, wie eines Schluchzenden –
Gaddo. (weinend) Ah!
Anselmo. Fürchterlich!
Gaddo. Erblasse nicht so, Anselmo! Du erschreckst mich nur mehr.
Anselmo. Er wendet sich zu uns. Holdseliger Vater! wie er uns anlächelt!
Ugolino. (setzt sich) Komm her, mein Gaddo – wenn die Entkräftung dir noch so viel Schritte erlaubt – geliebtes Kind – (Hebt ihn auf seinen Schoß)
Gaddo. Ich? ich sollte entkräftet sein? (seines Vaters Hände küssend)
Anselmo. Nein, Vater, belebende Kraft geht von deinem Antlitze aus; das ist gewiß.
Ugolino. Wie alt bist du, Gaddo? weißt du's?
Gaddo. Zwölf Jahre, wo mir recht ist.
Anselmo. Einfältiger Gaddo! kaum sechs.
Ugolino. Laß ihn, Anselmo. Jammer und Elend haben seinen kleinen Lebenslauf schnell beflügelt. Er zählt besser als du glaubst.
Anselmo. Wie, mein Vater? Ich selbst bin wenig über zwölf Jahre alt. Ich müßte doch drum wissen.
Ugolino. Wahr ist's. Deine reifern Tage haben viel Freude gekannt. O du liebesvolle Genügsamkeit! Du hassest Ruggieri, sagst du? sprich nicht, daß du ihn hassest.
Anselmo. Ihn? Er ist mir ein Grauen! dir nicht, Gaddo? Hassest du ihn nicht? Sprich.
Gaddo. Ich fürcht ihn, Anselmo. Daß ich ihn hasse, kann ich nicht sagen. Ich weiß nicht, was das ist.
Ugolino. Gaddo liebt mich.
Anselmo. Nicht mehr, als ich dich liebe; nicht mehr als ich deinetwegen Ruggieri hasse!
Ugolino. Meinetwegen?
Anselmo. Deinetwegen: deiner zerstörten Glückseligkeit wegen, du Befreier von Pisa! laß mich dich dies erstemal mit diesem Namen nennen, großer Mann! Aber auch meiner Mutter wegen; ihrer vielen Tränen wegen! Aber auch Gaddos wegen! sollt ich den Feind deiner Ehre, den Urheber deines Verderbens nicht hassen? Mein Vater, so müßt ich mich selbst hassen; vergib mir.
Ugolino. Nicht weiter! nicht weiter grausamer junger Mensch. Du bis schwerer zu ertragen, als ein unruhiges Gewissen.
Anselmo. Mein Vater!
Ugolino. Geh!
Anselmo. Den Urheber –
Ugolino. Geh, sag ich, entfleuch!
Anselmo. Vergib mir. Den Störer deiner Ruhe –
Ugolino. Verstumme! Zittre!
Anselmo. Den Herrschsüchtigen –
Ugolino. Zittre; du hassest mich! Der Urheber eures Verderbens, der Störer eurer Ruhe, der Herrschsüchtige, der Verräter, der bin ich! Genug, Schmerzenssohn! Du hast nicht verdient, was du für mich leiden mußt.
Anselmo. (Zu Gaddo) Neue Wolken gehn in unsers Vaters Augen auf. Ich für ihn leiden? Ach, mit Wonne! mit Wonne! wenn nur er dann nicht litte! Nicht wahr, Gaddo, du wolltest auch für unsern Vater leiden? wolltest du?
Gaddo. O ja! viel lieber, als ihn so traurig sehn.
Anselmo. Und worüber so traurig? sind wir nicht hier bei dem besten Manne? Du auf seinem Schoße, ich in seinen Arm gelehnt? Wenn jemand sich zu beklagen hat, so ist's unsre Mutter –
Gaddo. Der der Mann mit dem traurigen Namen so unfreundlich begegnete –
Anselmo. Recht, daß er sie allein im Palaste zurückließ. Hier hätt er sie herschicken sollen; und wir wären eine Welt der Freude füreinander gewesen. Dies einzige ist's, glaube mir, Gaddo, denn was könnt es sonst sein? was unsern Vater so traurig macht. Husch! da kömmt Francesco. (Läuft ihm entgegen) O mein anmutiger Bruder! immer so heiter! so emporwallend! Dein Kommen ist mir erwünschter, als der jugendliche Morgen. Aber unser Vater ist traurig.
Francesco. (Leise zu Anselmo) Freue dich Anselmo: der Entwurf ist reif; und er soll ausgeführt werden.
Anselmo. Ist irgendein Beinbruch oder Armbruch oder so was damit verbunden?
Francesco. Nein, das ist eben das Schlimme, daß die Sache so gar leicht ist. Nicht die mindeste Gefahr, auf mein Wort.
Anselmo. Erkläre dich.
Francesco. Du hast die Öffnung gesehn –
Anselmo. Was? die Öffnung in der Spitze des Thurms? Du schwärmst Francesco!
Francesco. Haha! schwindelt dir so früh?
Anselmo. Die Öffnung, sagst du, oben an der Spitze des Thurms! Geh doch! geh! dieser Gedanke ist so erhaben, daß ich ihn dir nicht nachdenken kann: um desto mehr aber bewundre ich ihn.
Francesco. Schmeichler!
Anselmo. Ganz wider meine Absicht. Überdem getraut ich mir kaum, ein Bein hindurchzubringen.
Francesco. Nicht gestritten! Ich sage dir Bübchen, die Öffnung ist so groß, daß sie beide durchschlüpfen, Kopf und Arme hintendrein.
Anselmo. Und wie hast du das gemacht?
Francesco. Wie macht man's? Erst hab ich einen Stein gelöst, dann wieder einen, dann noch einen, und abermals einen gelöst: genug, Schwätzer, wenn du mir nicht glaubst, komm und sieh.
Anselmo. Dann springst du von oben mit einem Sprunge aufs Pflaster herunter! Patsch! war's nicht so?
Francesco. Nicht völlig so. Mit Absätzen spring ich, wie das Eichhörnchen vom Ahornbaum. Du hast's ja wohl gesehen.
Anselmo. Ich springe doch mit, Lieber? Nun du mir davon sprichst, wird's mir ja ganz warm im Kopfe. Nicht? ich springe doch mit, Francesco?
Francesco. Nicht doch! Du schreitest mit aller Gemächlichkeit zur Thurmtüre hinaus. Was ist begreiflicher, als daß ich die Thurmtüre öffne, wenn ich unten bin? Doch dies muß seine Zeit haben. Soviel verspreche ich, ehe der Morgen kömmt, seid ihr frei, frei, wie euch Gott erschaffen hat; oder ich heiße nicht Francesco.
Gaddo. (Horchend) Ach lieber Gott! dann wird gegessen werden!
Anselmo. (traurig) Und ich soll unten wie ein armseliger Tropf, zur Thurmtüre hinausschreiten? was sag ich schreiten? schleichen! Eher soll man mich bei den Haaren hinausschleppen! Merke dir's, Stolzer, ich springe!
Francesco. Tor, wird unser Vater nicht auch hinausschreiten?
Gaddo. (der seines Vaters Schoß verläßt, und Anselmo am Rock zupft) Sprich, daß du schreiten willst! Was ist daran gelegen? Geht's doch hinauswärts!
Ugolino. (auffahrend) Was habt ihr Kinder?
Francesco. Mein Vater, es findet sich im Thurm eine Öffnung – eine Öffnung – von der ich dein Urteil wissen möchte.
Ugolino. Der heftige SThurm, der über uns im Gewölke kracht, und die Spitze schüttelt, hat vermutlich die Mauer zerrissen. Ist der Riß so tief, daß man auf die Gasse sehen kann? Es würde mir ein neuer schöner Anblick sein, auch außer diesen Wänden Menschen, das Bild Gottes, zu erblicken; sowenig die in Pisa es um mich verdient haben.
Francesco. O Himmel! einen Riß nennst du's, mein Vater? Komm, komm, du sollst Wunder sehn.
Ugolino. Ha! ist's mehr, als ein bloßer Riß?
Francesco. Einen Schlund nenn es, mein Vater; wofern man das einen Schlund nennen kann, was den Leib eines Menschen durchläßt –
Ugolino. Was sagst du, Jüngling? Du treibst mir das Herz an den Hals hinauf! Ha! geschwind laß mich sehn.
Francesco. (winkt Anselmo) Gib acht, Bübchen, unser Vater wird's nicht nur verstatten: er wird mich drum bitten.
Ugolino. Hurtig! hurtig! (geht mit Francesco ab)
Anselmo. Bemerktest du den Übermut unsers Bruders? O Gaddo, es ist ein unerträglicher Gedanke!
Gaddo. Ein unerträglich süßer Gedanke! Nun kann ich's kaum abwarten.
Anselmo. Er der Erretter des Gherardesca? Wie wird's des Übermütigen Herz aufschwellen, wenn unsere Mutter mit dem Finger hinzeigt, sprechend: »Seht, dies ist mein Erstgeborner, der seinen Vater, und seine beiden Brüder befreite!« Von uns aber sagt man kein Wörtchen!
Gaddo. Wenn unsere Mutter das spricht, so wird mir's so lieb sein, als spräche sie es von mir: warum? es gebührt ihm so!
Anselmo. Allerdings. Aber hätt ich nicht machen können, daß es mir auch so gebührte?
Gaddo. Schäme dich, Anselmo. Du liebst Francesco nicht, wenn du ihn nicht loben hören magst.
Anselmo. O Gaddo, ich lieb ihn gewiß mehr, als du: denn ich möcht ihm gleich sein. (Ugolino und Francesco kommen zurück.)
Ugolino. (schnell auf und ab gehend) Wenn diese Öffnung so tief unten wäre, als sie hoch oben ist! –
Francesco. Glaube nicht, mein Vater, daß sie zu hoch oben ist. Du wirst die Zinnen draußen an der Mauer bemerkt haben.
Ugolino. Gram und Alter haben mich schwerfällig gemacht. O Ruggieri! Verworfner! nur einmal dich so unter meiner Hand zu wissen! so dein Schlangenhaar zu ergreifen! so dein Leben an die Spitze meines Fußes zu heften! so dir die höllische Seele aus dem Leibe zu treten!
Francesco. Königlicher Anblick! was wollt ich drum geben!
Anselmo. Der Zorn schwellt ihm die Lippen!
Ugolino. Gib mir Geduld! Gott im Himmel! Gib mir Geduld! Wartet hier, meine Kinder. Ich komme gleich zu euch. (geht ab)
Francesco. Er wird die Öffnung näher untersuchen wollen. Wenn er sich nur nicht im edlen Grimm seines Herzens auf das Ungeheuer herabstürzt, gleich dem erhabnen Vogel, der sich ins Steintal wirft, wo er einen Drachen erblickte.
Anselmo. Fürchte das nicht, Francesco. So aufgebracht unser Vater wider Ruggieri ist, so ist er's doch noch mehr wider sich selbst. Mir zwar ein Rätsel.
Francesco. O es ist ein großer, ein wunderbar großer Geist, der in diesem Manne, unserm Vater, wohnt! Er schmälert seine Verdienste, um sein Schicksal zu rechtfertigen.
Anselmo. Sie schmälern, die kein Sterblicher zu schmälern wagt? Sie selbst schmälern? Wie kann er's?
Francesco. Pisa seufzte unter dem Joche eines Tyrannen. Gherardesca stand auf, und rächte die Seufzende.
Anselmo. War es nicht edel? war es nicht göttlich?
Francesco. Was war es nicht! Aber nun blies ihm Ruggieri, schon lange sein heimlicher Neider, nun blies ihm der Gesandte des Abgrundes, der, um sichrer zu verschlingen, im priesterlichen Mantel der Religion umherschleicht, der blies ihm den Gedanken ein, Pisas Wohl erfordre einen Beherrscher, niemand habe ein höheres Recht auf Pisas Diadema, als Gherardesca. Gherardesca wagte den kühnen Schritt, den er sich nie verzeihen wird; und Gherardesca ward unglücklich.
Anselmo. Wußte der Heimtückische ihn so zu verwickeln. Ist das die Welt? Nun, bei der heiligen Mutter Gottes, ich verabscheue sie!
Francesco. Die Gualandi, die Sismondi, die Lanfranchi, die Buondelmonti, die Cavicciulli, alle seine Freunde und Bewundrer, sie alle verließen ihn. Noch mehr: sie schwuren seinen Fall. So fiel Gherardesca.
Anselmo. Durch seine Freunde! O es ist unerhört! es ist unerhört! Francesco, wir sind Gherardescas Söhne!
Francesco. Und ehe der Morgen kömmt, Gherardescas freie Söhne!
Anselmo. Gib mir deine Hand, Francesco! Bei dieser brüderlichen Hand! gehüllt ins Dunkel dieser schauernden Mitternachtstunde! schwör ich! und so möge lautes Hohngelächter mir auf der Ferse folgen, wenn ich vergebens schwöre! ich will den Namen Gherardesca rächen! rächen! rächen!
Francesco. Gaddo weint? warum weint mein Gaddo?
Gaddo. Ja wohl, eine schauernde Mitternachtstunde! Muß ich so was von meinem Bruder Anselmo hören! Geht weg von mir; ihr macht mich fürchten.
Ugolino. (tritt an die Szene) Ich wollte dir nur sagen, Francesco, daß du nicht weiter daran denkst. Gherardesca soll nicht flüchten, als wär er ein Bandit. Überdem ist der Sprung unmöglich; und unten lauern Kundschafter. (geht ab)
Francesco. (bestürzt) Eine Donnerstimme!
Anselmo. Glück zu. Dir verbot es unser Vater: aber ich darf den Sprung wagen, und ich will. Lebe wohl, guter Francesco. Denke du der Donnerstimme nach: unterdes steh ich draußen an der Thurmtüre.
Francesco. Kundschafter in dieser Totenstunde? In diesem SThurme, der die Erde aus ihren Angeln zu reißen droht? »Wozu Kundschafter?
Anselmo. Sie sind nicht dumm!
Francesco. Nein, mein Vater, flüchten soll Gherardesca nicht, als wär er ein Bandit! Noch haben wir Freunde! Dank sei es der Vorsicht! Die Häuser der Ruccellai, der Cerrettieri, und der Cavalcanti sind noch alle auf unsrer Seite. Hast du nicht selbst vor zwei Tagen, in dem Briefe an meine Mutter, den der Thurmwärter zu bestellen übernahm, diese mächtigen Häuser aufgeboten? Und soll der Befreier von Pisa hier im abscheulichen Thurmkerker umkommen? Nein, nein, mein Vater, meine Gegenwart ist unentbehrlich, und Francesco soll dich retten. Nenn ihn ungehorsam, vermessen, wie du willst; Francesco soll dich retten!
Anselmo. Gib dir keine Mühe: er hat der Söhne mehr.
Francesco. Komm, Anselmo, du magst mich zurechtweisen, wenn ich an der Mauer herabklimme.
Anselmo. Und ich soll das Nachsehn behalten? soll ich?
Francesco. Du bist ein Geck. Die Sache ist zu ernsthaft, um ein Wortspiel daraus zu machen. Erinnere du dich deines Schwurs, mir überlasse den Sprung: so sind wir beide Gherardesca! (gehen ab. Gaddo legt sich auf den Boden nieder)