Читать книгу Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang - Johann Gottfried Herder, Christian Friedrich Hebbel - Страница 23

Zweiter Aufzug

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Inhaltsverzeichnis

Anselmo. (läuft zu Gaddo hin) Schläfst du? Daß der Wind mich nur nicht überhole! Hei, beim Sankt Stephan, ich bin flüchtiger, als ein junges Reh! (Läuft) Hi! hi! hi! o daß ich recht auslachen dürfte! Schläft er denn immer? (Läuft wieder zu Gaddo hin) O mir! wie es so wohltut! hüpfen möcht ich, ja hüpfen, wie ein Lamm der Herde! (Hüpft und läuft fort. Gaddo erwacht)

Gaddo. Wie ist mir? Ich bin gespeist und getränkt, und vergesse das Gratias! (Knieend) Dank sei dir, heilige Mutter Gottes, für Speise und Trank! Du hast wohl an mir getan, Madonna: denn deinem armen Knaben hungerte sehr. Laß dir das Gebet meiner Einfalt gefallen, und gib mir noch etwas drüber! Dank sei dir auch, heilige Jungfrau, für die Speisung meines lieben Vaters, und meines lieben Bruders Francesco, und meines lieben Bruders Anselmo. Ich danke dir. Du hast viel Gutes getan uns allen.

Anselmo. (Kömmt zurück) Der anmutige Knabe betet. Was mag er beten? Ich will ihn nicht stören.

Gaddo. Du störst mich nicht, Anselmo: ich hatte das Gratias vergessen.

Anselmo. So weißt du sie denn schon, die fröhliche Neuigkeit?

Gaddo. Wie sollt ich sie nicht wissen?

Anselmo. Du hast uns belauscht, Schalk. War's nicht ein köstlicher Anblick? eine bezaubernde Augenweide?

Gaddo. Eine bezaubernde Mundsweide!

Anselmo. Auch das, Gaddo. Eins folgt aus dem andern. Doch wünscht ich, daß du davon nicht zu viel erwähntest.

Gaddo. Wie das?

Anselmo. Unter uns gesagt, meine Eßbegierde ist nie unruhiger gewesen.

Gaddo. Ich konnt es merken. Du fielst grausam über die Schüsseln her.

Anselmo. Ich fiel nicht, Gaddo, sondern ich möchte fallen.

Gaddo. Dich hungert schon wieder? Eine seltsame Eßbegierde!

Anselmo. Das ist lustig!

Gaddo. Ungemein!

Anselmo. Ha, ha, ha!

Gaddo. Hi, hi, hi!

Anselmo. Immer lustiger. Du bist leichter zu sättigen, als ich, Gaddo.

Gaddo. Ich bin zufrieden, Anselmo; ich habe mein Teil genossen. (sich über den Mund streichelnd)

Anselmo. Wenn's aufs Genießen ankömmt, so ist eine gute Aussicht mir bei weitem nicht zureichend.

Gaddo. Ich denke, ich denke, Anselmo, du bliebst bei der guten Aussicht nicht stehen. Hi, hi, hi!

Anselmo. (ernsthaft) Ich blieb? Wovon redest du, Gaddo?

Gaddo. Nein, wenn du mir von Aussichten sprichst, Anselmo, als ob du nur ein Zuschauer gewesen wärst, da ich doch das Gegenteil weiß!

Anselmo. Wahrlich, Gaddo, nun versteh ich dich nicht.

Gaddo. Wie? du möchtest mich wohl überreden, du wärst so mäßig gewesen. –

Anselmo. Weil sie schlecht war, deine Mahlzeit: nicht so?

Gaddo. Ah, sie ging doch mit. Der Smerlen und des Geflügels viel! An Gebacknem kein Mangel! Zuckerbrot und Früchte von allerlei Art. Ich kann mich nicht rühmen, daß diese Augen je eine besser besetzte Tafel gesehn hätten.

Anselmo. Vermutlich auch der süßen Weine nicht wenig?

Gaddo. Freilich nicht. Aber du weißt, daß ich keinen Wein genieße.

Anselmo. Ich hätte doch geglaubt. Wie, Gaddo, sollst du deinen ältern Bruder necken?

Gaddo. Was gibt's hier zu necken? als ob du es nicht wüßtest!

Anselmo. Du sprichst also im Ernst?

Gaddo. Man kann nicht ernsthafter.

Anselmo. Beim Himmel, so bist du der seltsamste Gaddo auf Erden.

Gaddo. Und du der Ungenügsamste unter den Anselmos. Eine solche Tafel schlecht zu nennen!

Anselmo. Und wo hast du diese köstliche Tafel ausgefunden?

Gaddo. Wie, im Hause unsers Vaters. Sind wir nicht im Hause unsers Vaters?

Anselmo. Du träumst, Gaddo. Sieh dich um. Ist dies ein Zimmer im Hause unsers Vaters?

Gaddo. Das ist sonderbar. Aber ich will sterben, wenn ich weiß, wie ich nun schon wieder hieher gekommen bin.

Anselmo. Du bist nicht vom Fleck gekommen, Gaddo. Du hast geschlafen. Besinne dich. Du hast geträumt.

Gaddo. Geträumt? Possen! Fühl ich's denn etwa nicht, daß ich satt bin? Und vor kurzem hungerte mich noch so sehr!

Anselmo. Recht so habe ich von Leuten gehört, die aus Hunger geträumt hatten, sie äßen, und beim Erwachen hungerte sie nicht. Ich wünsche dir Glück zu deinem Traum; auch zweifle ich keines weges an der guten Vorbedeutung. Wenn du nicht gegessen hast, Gaddo, so bist du doch auf dem Wege zu essen. Du weißt, daß es Francesco gelungen ist, uns vielleicht noch in dieser Nacht zu befreien.

Gaddo. Ich? ich weiß kein Wort davon.

Anselmo. Du sagtest mir eben itzt, daß du es wüßtest.

Gaddo. Sagte ich's? Ja, so ist's offenbar, daß ich nur geträumt habe. Ich dummer Gaddo! Fast möcht ich weinen.

Anselmo. Warum weinen? Hörst du denn nicht, kleiner Träumer, daß du noch in dieser Nacht essen sollst?

Gaddo. Ist der Thurmwärter wieder da? Der gute Thurmwärter! Wo ist er? Ich sehe ihn nicht.

Anselmo. Nicht der Thurmwärter, sondern Francesco, bringt Speise und Trank, und Freiheit und Freude.

Gaddo. Wenn's nur gebracht wird! Zwar von Francescos Hand wird es mir noch besser schmecken. Ich liebe Francesco sehr.

Anselmo. Du haftest noch überall an der Schüssel. Francesco bringt nicht bloß Speise, sondern Freiheit.

Gaddo. Was geht mich Freiheit an! Hab ich doch zu essen!

Anselmo. Welch ein Gedanke! Gehn dich die aromatischen Blumenfelder, geht dich die Villa Gherardesca, geht dich der neue Himmel, die neue Sonne, die neue Erde nichts an?

Gaddo. Nichts, Anselmo; ich esse.

Anselmo. Unersättlicher! du issest? – Nichts die luftige Grotte? Nichts die weißschäumende Zisterne? Nichts die kristallnen Forellbäche?

Gaddo. Ah! die Forellbäche!

Anselmo. Nichts der gesangvolle Park, der stillere See, die jähen Ufer, vom Getön der Gondeln hallend, das Scherzen der vorüberhüpfenden Rudel, der brausende Auerhahn, die zirpenden Weinvögel, Heidelerchen, und Ortolane, der Fasan, die Turteltaube vor dir her, und unter dir die leichte Sardelle, die Alose, der Goldfisch, die schmelzende Lamprete –

Gaddo. (hält ihm den Mund zu) Sprich nicht mehr davon, Anselmo; du hast mich ganz.

Anselmo. O Gaddo! mein Gaddo! mein geliebter Gaddo! stelle dir die Wonne, das Entzücken vor!

Gaddo. Ach! so lebhaft!

Anselmo. Wir baden unter dem blumigten Abhange im Silberquell; sieh! die langen Aale schweben im Schatten der Weinrebe; und nun schlüpfen sie dahin! schneller schlüpfen sie dahin, als der Schilfpfeil von der Darmsenne!

Gaddo. Laß mich! laß mich!

Anselmo. Was gibt's?

Gaddo. Ich will ihnen nachschwimmen. Ich will sie einholen.

Anselmo. Hab ich dich, Schalk? Gut! unsre Mutter kömmt. Die edle Mutter!

Gaddo. Die freundliche Mutter!

Anselmo. »Anselmo!« ruft sie. »Gaddo!« ruft sie. Halb zitternd.

Gaddo. Warum zittert sie?

Anselmo. In ebendiesem Bade zog unsern Bruder Francesco ein zuckender Krampf unters Wasser bis zur Tiefe. Sie warf ihm einen Kastanienast nach; sonst war er verloren.

Gaddo. Die gütige Mutter! Sie liebt uns auch, Anselmo.

Anselmo. Allerdings; eben darum zittert sie. Wir pflücken purpurne Waldblumen jenseits am Ufer, und binden ihr einen Kranz, von Zypressenlaub umwunden. Lächelnd nimmt sie den Kranz, und drückt ihn mir auf die Stirne.

Gaddo. Nein, mir.

Anselmo. Nicht doch, Gaddo; ich habe ihn ja geflochten.

Gaddo. Und ich die Blumen gesammelt.

Anselmo. Gut! wir wollen ihrer zwei machen. Aus Freude sing ich ihr ein Frühlingslied in die Laute.

Gaddo. Und ich zeichne ihr einen dritten bessern Kranz von Amaranthen, Anemonröschen, Tausendschön, und Stockrosen.

Anselmo. Weg mit den Stockrosen!

Gaddo. Weg mit den Stockrosen? Ich sage dir, es gehört Kunst dazu, eine Stockrose zu malen.

Anselmo. Und ich sage dir, weg mit den Stockrosen! Stockrosen in einen Kranz? Unser Vater macht sich unterdessen zum Herrn von Pisa. Er versteht sich aufs Herrschen.

Gaddo. Ja, und es ist süß, kann ich dir sagen, von unserm Vater beherrscht zu werden. »Geh nicht dorthin«, spricht er, »du fällst; tritt nicht gegen die Flamme, Gaddo, sie brennt.« Unter uns, man geht am sichersten, wenn man ihm gehorcht.

Anselmo. Da schenkt er uns dann irgendein Ländchen von einer nicht geringen Strecke in die Länge und in die Breite, um Federvieh und Kaninchen zu unterhalten.

Gaddo. Sind auch Wälder dabei?

Anselmo. Ohne Zweifel. Die aber behalt ich für mich, der Rehe wegen. Du weißt, daß ich ein Liebhaber von Rehen bin.

Gaddo. Und ich von Nestern. Ich eigne mir die Nester darin zu.

Anselmo. In meinem Holze?

Gaddo. Mein oder dein: im Holze.

Anselmo. Es ist wider die Ordnung, Gaddo. In mein Holz mußt du mir nicht kommen.

Gaddo. Ich nicht in dein Holz kommen?

Anselmo. Nein, Gaddo, keinen Fuß breit, außer wenn ich dir's erlaube.

Gaddo. Wer will mir's wehren? Ich gehe hinein.

Anselmo. Ich laß es einhegen.

Gaddo. Ich steige über.

Anselmo. Über mein Gehege?

Gaddo. Über dein Gehege.

Anselmo. (erhitzt) Was? über mein Gehege wolltest du steigen?

Gaddo. Ohne Umstände.

Anselmo. Eher will ich unter Heiden und Sarazenen wohnen, als diese Ungerechtigkeit dulden.

Gaddo. (bewegt) Anselmo!

Anselmo. Reize mich nicht. Ich bin zornig.

Gaddo. Anselmo!

Anselmo. Laß mich.

Gaddo. Nimm die Nester denn nur: ich mag sie nicht.

Anselmo. Wie? die Nester?

Gaddo. Nein, Anselmo, es tut mir leid, daß du die Wälder bloß meinetwegen einhegen sollst. Ich bin ein Liebhaber von Nestern: aber ich liebe dich mehr, Anselmo.

Anselmo. Großmütiger Gaddo! Wie du mich rührst, Gaddo! Du schenktest mir die Nester; ich aber verbot dir, in mein Holz zu kommen. Nein, Gaddo, behalt die Nester, nimm die Rehe dazu, nimm die Wälder –

Gaddo. Du beschämst mich, Anselmo! Ferne sei es von mir –

Anselmo. Ich bitte, ich flehe, ich beschwöre dich!

Gaddo. Niemals, niemals –

Anselmo. O du brüderliche Zärtlichkeit! (Fällt ihm um den Hals und weint. Sie weinen beide)

Ugolino. (tritt auf) Ja wohl brüderliche Zärtlichkeit! Welch ein holder Anblick! O ihr teuren Zartfühlenden beide! ihr weint?

Gaddo. Lauter Freude!

Ugolino. Du warst doch vorher nicht eben freudig.

Gaddo. Aber itzt bin ich's, mein Vater: denn nun Francesco entsprungen ist, haben wir ja Essen die Fülle. Haben wir nicht?

Anselmo. Pisch!

Ugolino. Francesco entsprungen! Was sagst du, Gaddo?

Anselmo. (zupft Gaddo, und droht ihm) Hm!

Ugolino. Unmöglich! Wo ist Francesco?

Gaddo. Mum!

Ugolino. Antworte du mir Anselmo. Wo ist Francesco?

Anselmo. Um Vergebung, mein Vater – ich will gleich wieder hier sein.

Ugolino. Rufe mir Francesco augenblicklich her. Du zögerst?

Anselmo. Mein Vater, Francesco – ist vom Thurm gesprungen.

Ugolino. Was? was? vom Thurm gesprungen? vom Thurm wäre er gesprungen? Unglücklicher! er ist zerschmettert! er ist Staub!

Anselmo. Dafür ist gesorgt. Ich bin mehr Staub als er: laß mich dir das sagen, mein Vater er lebt, wie unsereiner, und besser. Er gab mir das Zeichen mit den drei Steinwürfen. Ich höre sie noch von den Dachziegeln rollen. Ein so musikalisches Rollen als ich eins in meinem Leben gehört habe. Ich will dir's auf der Laute machen. O mein Vater, deine Söhne sind klüger, als sich zu zerschmettern.

Gaddo. Mach's nur nicht auf der Laute. Mich dünkt, ich höre das Rollen schon so.

Ugolino. Ich hatt es dem Ungehorsamen verboten –

Anselmo. Daran zu denken, mein Vater: darum tat er es rasch.

Ugolino. Du mißfällst mir. Du bist zu kühn.

Anselmo. (kleinlaut) Ach nein! nein! mein Vater! Francesco ist kühner. Mit diesem Worte hast du alle meine Aufwallungen versenkt. Ich kühn?

Ugolino. Was soll ich sagen? Erstaunen und Bewunderung! Aber wie konnt er? Von dieser Höhe, sagst du? Es war unsinnig! Und doch scheint's mir edel! Nicht wahr, Anselmo, du halfst deinem Bruder?

Anselmo. Erst küsse mich, mein Vater, daß ich Herz fasse, dir's zu sagen.

Ugolino. Aber verschweige mir nichts.

Anselmo. Bei diesem Kuß! es war ein edler Sprung! Freilich! ich war dabei; ich behielt das Nachsehn. Zwar wenn ich neidisch wäre, so gäbe ich vor, der SThurm habe das Beste dabei getan. Es ist wahr, fast schien es, als ob der Wirbelwind die Thurmspitze ganz seinetwegen so tief gegen die Erde neigte. Oder vielmehr, damit ich ihm nicht Unrecht tue, Francesco schien den Orkan, wie der Autor es von der Gelegenheit sagt, an der Stirn zu fassen, und die Thurmspitze hinter sich zu spornen, und auf dem Rücken des Windes davonzureiten.

Gaddo. O Geschwätz!

Anselmo. Kurz, mein Vater, um dich nicht zu lange aufzuhalten, Francesco umarmte mich, und empfahl sich Gott –

Ugolino. Nach Art aller Unbesonnenen, die erst der Vorsehung trotzen, dann ihren Beistand auffordern.

Anselmo. Ein schwachdämmerndes Licht aus einem der nächsten Häuser half ihm die erste, dann die zweite, dann die letzte Zinne, dann den anstoßenden Giebel erreichen –

Gaddo. Dröhnt's mir doch bis in die Fußsohlen hinunter!

Anselmo. Und da ich ihn bald darauf ins Finstre verlor, klirrten Sterne dreimal vom Dach. Ich wiederhol es mein Vater, ich kenne keine lieblichere Melodie, als die mir diese drei Steine machten.

Gaddo. Sie klirrten! Ein gutes lebhaftes Wort das! Ich weiß kaum, ob ich's dem Rollen nicht vorziehe.

Ugolino. Wann geschah dies alles?

Anselmo. Gleich, da du ihm das Denken untersagtest. Wer weiß, ist er nicht gar schon an der Thurmtüre! O ich muß geschwind hinabgucken. (geht hurtig ab)

Ugolino. (indem er sich die Hände reibt) Ein großer Schritt! Welch ein Jüngling! Hat der Brief an mein Weib gewirkt, und fangen den allzu kühnen jungen Menschen die schleichenden Hunde nur nicht auf, so läßt sich was hoffen, Gherardesca! Ha, Ruggieri! zwei Tage lang ließest du diese Unschuldigen hungern! Ungeheur, das die Hölle von sich ausgespieen hat! Komm's über dein Haupt, Verruchter! Diese zwei Tage sollst du mit einer Ewigkeit büßen!

Gaddo. Küsse mich auch, mein Vater!

Ugolino. (ihn küssend) Frisch, mein Gaddo! Du bist ein starker Knabe!

Gaddo. Kein Wunder! ich träumte einen so nahrhaften Traum! Ach! daß ich ihn wieder träumen könnte! Itzt hungert mich mehr als zuvor!

Anselmo. (keuchend) Sind sie noch nicht da? ich glaubte sie hier zu finden. (Will wieder abgehen)

Ugolino. Was ist's?

Anselmo. Lang sah ich, mit langgestrecktem Halse, durch die Öffnung. Mir war! ich kann dir nicht sagen, mein Vater, wie mir war! Ich dachte, Francesco riefe mir, und ich müßte ihm nach. Da kam's mir plötzlich vor, als säh ich den jungen Antonio Cerrettieri, nebst vielen andern, mit Axten und Hebebäumen längs der Gasse heraufkommen, immer näher, immer näher. Da bückte ich mich mit halbem Leibe vorüber, sah aber immer weniger, immer weniger; und zuletzt sah ich gar nichts mehr. Da hofft ich, sie wären im Thurm, und glaubte, sie hier zu finden. Unten müssen sie doch schon sein. (will abgehen)

Ugolino. Wohin?

Anselmo. Gehst du mit, Gaddo? Wir müssen den jungen Antonio an der Tür empfangen.

Gaddo. Wäre nur die Menge von Stufen nicht! Überdem bin ich eben itzt einigermaßen kraftlos.

Ugolino. Bleibt hier, ihr Kinder. Ich will selbst gehn. (geht ab)

Anselmo. (hebt Gaddo in die Höhe) Heida, Gaddo! ich bin trunken von übermäßiger Freude! Du auch?

Gaddo. Heida! Wenn ich nur erst zu essen hätte!

Anselmo. Es will nicht recht fort mit dir. Wie nun? Du hängst mir wie Blei am Arme!

Gaddo. (mit schwacher Stimme) Heida! Mir wird sehr übel!

Anselmo. Soll ich dich hinlegen?

Gaddo. Tu es.

Anselmo. Du bist kränker, als du gestehn willst.

Gaddo. O mein Herz! (Heftig) Mein Herz!

Ugolino. (tritt auf) Du hast dich geirrt. Ich höre nichts, als das Geheul der Winde und das Geklatsch des Regens.

Anselmo. (traurig) Ach! warum mußt ich mich irren! Sie werden doch nun bald kommen? Werden sie nicht, mein Vater? Sieh, Gaddo ist kränker.

Ugolino. (mit einem Seufzer) Ich denke, mir ist nicht viel besser! (Sieht schüchtern nach Gaddo hin) Anselmo, singe mir das Lied in die Laute, das deine Mutter dich jüngst an ihrem letzten Geburtstage lehrte.

Anselmo. (singt)

Stillen Geists will ich dir flehen!

Weisheit, blick aus deinen Höhen,

Blicke sanft auf mich herab!

Leite mich im finstern Tale,

Quell des Lichts! mit deinem Strahle!

Sende mir dein Licht herab!

Um und um von Nacht umflossen,

Ach! von Schauern übergossen,

Wall ich bebend an mein Grab!

Leite mich im finstern Tale,

Quell des Lichts! mit deinem Strahle!

Blicke mild auf mich herab!

Ugolino. Ich danke dir, mein Sohn. Ich wollte dich bitten, es noch einmal zu singen: aber ich bin diesmal zu weich. Geht auf einige Augenblicke heraus, meine Kinder. (Er weint heftig) Doch nein, bleibt. Diese Silbertropfen waren willkommen, ihr Geliebten. Es gibt Augenblicke, da die Natur in einer Art von tauber Fühllosigkeit hinsinkt: es ist nicht Erkrankung; es ist nicht Schmerz: sonst empfände sie; Beklemmung ist Traurigkeit, und ich wollte nicht, daß ihr mich für traurig hieltet. »Schwere« ist das Wort, ihr Kinder: ein mittler Zustand zwischen Freude ohne Namen, und – Ernst ohne Namen. Wie nun? Die Wolke ist noch einmal reif. (Weint wieder) Weint nicht, ihr sanften mitfühlenden Herzen, weint nicht! Die Natur bedarf einer Erquickung. Weint nicht! Ich hoffe dieser herabrollende Tau ist der Bote eines goldnen Morgens. Die Natur bedarf einer Erquickung. Sie scheint einen süßen Schlaf einzuladen; er ist mir willkommen.

Gaddo. Segne mich, mein Vater! Schon wird mir bänger.

Ugolino. Gott der Allmächtige segne dich! Gott der Allmächtige segne euch beide! Harrt nicht des Menschen Hülfe, ihr Lieben; vertraut Gott: sein heiliger Wille geschehe! (Im Abgehen) Noch einmal, ihr Unschuldigen, vergebt mir! (Geht ab)

Anselmo. Du schweigst, Gaddo?

Gaddo. Was kann ich sagen? Bete für mich. Ich entschlummre.

Anselmo. Ich will zur Thurmspitze hinaufgehen, wo Francesco sich Gott empfohl, und da für dich beten! (Küßt Gaddo und geht langsam ab)

Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang

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