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Friede auf Erden
ОглавлениеWeihnachten 1962
Bei hochsommerlicher Backofenhitze, der Sonne im Höchststand und den allabendlichen, heftigen Gewitterstürmen stellt sich bei uns Europäern nur schwer «echte» Weihnachtsstimmung ein.
Kalender hin oder her.
Zwar versuchten wir unseren Kindern mit Adventskranz, Kerzenschein und deutschen Weihnachtsliedern eine Ahnung christlicher Kultur zu vermitteln, aber weder die schmelzenden Kerzen noch das frierende Kindlein in der Krippe passten so recht in diese Umgebung und nicht einmal das beinharte Weihnachtsgebäck, das unser Boy frei improvisierend aus Manjokmehl hergestellt hatte, fand besonderen Anklang.
Einzig der zusammenklappbare, immergrüne Plastikweihnachtsbaum, der sich, ferngesteuert, mit blinkenden Lichtern langsam drehte und dabei «Jingle Bells» spielte, fand Zustimmung, allerdings nur, bis die technikinteressierten Leutchen hinter die Geheimnisse der Fernsteuerung gekommen waren, dann überliessen sie das Wunderding wieder seinem stolzen Besitzer, dem amerikanischen Missionar, Reverend Jackson.
Ein lieber Mensch, aber völlig weltfremd.
Von fanatischem altruistischem Helferwillen getrieben und schliesslich in Schwarzafrika als Strandgut angelandet, versuchte er das Beste aus der Situation herauszuholen.
Er war nicht der Einzige.
Ein letzter Versuch meinerseits, wenigstens etwas von den geistigen Inhalten dieses Festes zu retten, misslang ebenfalls, denn wie kann man einem Kind die Botschaft von Frieden auf Erden erklären, wenn sich drei Kilometer westlich des Hauses ein Minenfeld befindet, in dem schon einige Kinder unserer Schule ein Bein, einen Fuss, ein Auge oder gar ihr Leben verloren hatten, oder, wenn man nachts wegen des nahen Geschützdonners oder Maschinengewehrfeuers jenseits der Grenze nicht schlafen kann, und wenn man jeden Morgen die völlig ausgehungerten Gestalten der Vertriebenen auf der Strasse unten vorüberziehen sieht, die von gut genährten Polizisten begleitet, recht rüde und brutal ins nahe Flüchtlingslager getrieben werden...
Flüchtlingslager.
Das Wort «Lager» weckt düstere Erinnerungen in mir.
Wer hier ankommt, ist traumatisiert und hat eine verbrannte Heimat hinter sich.
Aber jeder hofft, es sei das Tor in eine neue Welt in ein neues Leben.
Fünf Jahre später merkt er, dass sein neues Leben «Lager» bedeutet.
Lagerleben kann Generationen dauern.
Friede auf Erden. Unser Missionspfarrer war jeden Morgen damit beschäftigt, den vor Hunger sterbenden Kindern und Müttern geistlich beizustehen, wie man das so schön nennt, aber sein geistliches Brot machte niemanden satt.
Unser Arzt, ein junger und noch unerfahrener Idealist aus Rumänien, kämpfte ziemlich vergeblich gegen den Tod, der in mannigfaltiger Form im Lager umging.
Der Sensenmann schien die Heilkunst zu verspotten.
Jeden Morgen bewegten sich bunte Züge auf der Hauptstrasse zum Kirchhügel. Eine Gruppe von Musikern und Gauklern ging dem bunten Zug voran und ihre grossen Trommeln und die schrillen Pfeifen verbreiteten eine Höllenmusik, die durch Mark und Bein ging. Die Gaukler und Akrobaten, alle weiss bepudert, sollten die Gesellschaft mit ihren derben Spässen zum Lachen bringen.
Eine Gruppe von Klageweibern umtanzte heulend, kreischend, schreiend und mit schrillen Youyou - Rufen die dunkel gekleideten Leichenträger, die mit der fest verpackten und verschnürten Leiche auf ihren Schultern würdevoll dahinschritten.
Schwarze Zylinderhüte, weiss bemalte Gesichter und dunkle Sonnenbrillen.
Allegorie des Todes oder absurdes Theater.
Dahinter kam die singende Trauergemeinde mit dem Priester in ihrer Mitte unter einem Baldachin, der ihn vor der sengenden Sonne schützte.
Den Schluss des Zuges bildeten zwei Soldaten mit geschulterten Gewehren.
Jeden Morgen, mehrmals, das gleiche Spektakel.
Neben dem Hunger wüteten schlimme Krankheiten und Seuchen aller Art unter den Flüchtlingen und als ob das nicht genügen würde, kamen jeden Morgen schwer verletzte, zum Teil arg verstümmelte oder verbrannte Freischärler über die Grenze. Helden, von denen in wenigen Tagen oder Stunden nur noch ein einfaches Kreuz mit Erkennungsnummer auf einem kleinen Erdhügel übrigbleiben wird, Helden, von denen schon bald niemand mehr redet.
Friede auf Erden. Man sprach wieder einmal von Frieden im Nachbarland.
Die grossen Hetzer und die scharfen Bluthunde trafen sich kurz vor Weihnachten auf neutralem Gebiet mit Staatsmännern aus der ersten, aus unserer Welt. Regierungschefs und andere Politiker, die für die bevorstehenden Wahlen in ihren Ländern Pluspunkte sammelten. (oder Schmiergelder?)
Dazu eignen sich Friedensgespräche in der Vorweihnachtszeit besonders gut. Hände werden geschüttelt (und gewaschen) vor laufender Kamera und jeder setzt sein wohlgefälligstes Lächeln auf. Lächelnd die Zähne zeigen, grinsen, wie die vielen gebleichten Totenschädel die dort drüben, jenseits des Grenzflusses überall herumliegen. Denen ist das Lachen endgültig vergangen.
Nicht so der rührigen Verhandlungsdelegation, die sich lächelnd und händereibend in unserem Lager mit dem Rebellenchef traf. Geheim natürlich, denn es ging um weitere Waffenlieferungen. Modernstes Kriegsgut, leichte und weniger leichte Waffen aller Art.
Dazu, so gewissermassen als Weihnachtsgeschenk für die lieben Kleinen, die neusten Tretminen.
Liefertermin: in sieben Tagen, am 24. Dezember.
Tag der Bescherung.
Schöne Bescherung!
Die Friedensverhandlungen sollen ins Stocken geraten sein, hörten wir am Radio.
Der UNO Sicherheitsrat verabschiedete eine Resolution.
Immerhin soll, als Geste des guten Willens, ein siebentägiger Waffenstillstand eingehalten werden. Die Truppen brauchten eine Atempause, um sich neu zu gruppieren.
Beginn der Waffenruhe: am Heiligabend um 18 Uhr Lokalzeit.
Ein kleiner Lichtschein im allgemeinen Zynismus. Waffenruhe tönt doch immerhin besser als Kampf für den Frieden, Heiliger Krieg, Krieg gegen den Terrorismus, Kreuzzug, Befreiungskrieg oder wie wir Mord und Totschlag an Unschuldigen zu entschuldigen pflegen.
Man spricht von Frieden und Freiheit, denkt aber nur an die reichen Bodenschätze dieses Landes: Öl, Erdgas, Gold, Diamanten, Kupfer, Kobalt und Bauxit.
Und an allem klebt Blut.
Ein Kollege übte mit den Schülern ein Krippenspiel ein.
Jeder Schüler möchte gern den Josef spielen und jedes Mädchen träumte von der Rolle der Madonna.
Eine blonde Barbiepuppe meiner Tochter durfte die eigentliche Hauptrolle übernehmen, ein blauer Plastikeimer, mit Stroh beklebt, diente als Krippe.
Und nicht zuletzt waren da die andern Hauptdarsteller «Maria und Josef».
Nomen est omen.
Josef aus der Sechsten spielte die Rolle seines Namenspatrons und Maria Ndola, Schülerin der fünften Klasse, durfte die Puppe wiegen und bei der Flucht auf dem Rücken tragen.
Herodes, in seiner Uniform glich sehr stark dem Herrscher des Nachbarlandes…
Mit dem Schülerchor des Gymnasiums sollte ich die musikalische Umrahmung des Abends bestreiten. Wir würden ein paar frisch eingeübte Spirituals singen.
Mit den Bässen aus der Maturaklasse verstärkt, bekamen die Gesänge die nötige Wucht und Feierlichkeit. Meine Sänger schienen sich aufs Fest zu freuen. Zu den Proben kamen sie immer vollzählig und pünktlich, was mir wie ein kleines Wunder erschien.
Ich war auch erstaunt, ja sogar erschüttert, mit welcher Hingabe die Schüler in den Theaterproben spielten. Nein, das war kein Spiel für sie, das war Leben, das war Wirklichkeit, das waren keine Rollen, die sie rezitierten: sie verkörperten die zu spielenden Personen, wurden eins mit ihnen und als Zuschauer wurde man von dieser Echtheit sofort gepackt und mitgerissen.
Ich freute mich auf die Aufführung. Es versprach ein denkwürdiger Abend zu werden.
Auch meine Choristen übertrafen sich selbst.
Diese Vorfreude schien ansteckend zu sein. Plötzlich war überall Weihnachtsstimmung.
Meine Kinder bastelten mit Eifer Strohsterne aus Elefantengras und im Wohnzimmer wurde mit Lehmfiguren, Zweigen und Ästen die Szene von Bethlehem nachgestellt.
Am 24. war schulfrei, damit wir in der Kirche noch die letzten Vorbereitungen treffen konnten für das abendliche Ereignis.
Den ganzen Morgen über rollten schwere LKWs vom Hafen ins Flüchtlingslager hinüber. Waffen aller Art, diesmal als Weihnachtsgeschenke irgendeiner barmherzigen Gesellschaft deklariert.
Feuerpause.
Beim Mittagessen gab es natürlich nur ein einziges Gesprächsthema: unser Krippenspiel.
In den Mittagsnachrichten wurde nochmals erwähnt, dass im Nachbarland ab 18 Uhr ein siebentägiger Waffenstillstand in Kraft trete, der auch für unser Gebiet Gültigkeit habe, dann erschallte feierliche Kirchenmusik, dem Tag entsprechend.
Ich machte eine ausgedehnte Siesta, denn der Abend würde lange werden.
Etwa um fünf Uhr nachmittags sass ich in meinem Arbeitszimmer, als ich plötzlich Flugzeuggedröhne und anschliessendes schweres Donnern hörte.
Der Boden zitterte wie bei einem Erdbeben. Ich eilte ans Fenster und sah, wie im Hafen unten mächtige, schwarze Rauchwolken zum Himmel aufstiegen.
Das durfte doch nicht wahr sein!
Eine Stunde vor Beginn des Waffenstillstandes wurde unser Hafen bombardiert!
Einen Augenblick später hörte ich zwei oder drei weitere dumpfe, starke Explosionen, diesmal aber viel näher.
Maschinengewehrfeuer.
Das musste aus der Gegend der Flüchtlingslager kommen.
Dann hörte man, wie sich die Flugzeuge entfernten und nun breitete sich über der Gegend eine tiefe Stille aus,
Totenstille.
Ich schaltete sofort das Radio ein.
Militärmusik.
Um halb sechs wurde eine Rede des Staatspräsidenten angekündigt.
Er tobte sich aus. Verbrecherischer Akt, der schwere Folgen haben werde und so weiter.
Man werde Vergeltung üben in noch nie dagewesener Form.
Ich stellte am Radio auf einen andern Sender um.
Das Nachbarland war schon mit billigen und faden Entschuldigungen da.
Das mit dem Hafen sei ein Versehen gewesen. Es hätte einem illegalen Waffentransport gegolten.
Die zwei verantwortlichen Piloten würden zur Rechenschaft gezogen.
Der Angriff auf den Unterschlupf der Rebellen hingegen war ihre Sache, ein rein militärisches Ziel, eine gerechtfertigte Aktion.
«Der geheime Unterschlupf» war ein offizielles Flüchtlingslager der UNHCR…
Aber in der Weltpolitik zählt ein Menschenleben nichts.
Die verkohlten Leichen im Flüchtlingslager sind sogenannte Kollateralschäden.
Die Wogen glätteten sich rasch, schliesslich war ja Weihnachten, das grosse Fest der Liebe, des Friedens und der Bescherungen.
Um sechs Uhr stiegen im Hafengebiet immer noch schwarze Rauchwolken auf. Die Palmölzisternen brannten lichterloh. Der stinkende Rauch zog wie Nebelschwaden durch die Unterstadt.
Unser Boy meldete uns, dass es im Flüchtlingslager unzählige Tote und Verletzte gegeben habe. Viele mit schweren Verbrennungen.
Napalm.
Mit sehr eigenartigen Gefühlen machten wir uns für den Kirchgang bereit.
Irgendwie war jegliche Weihnachtsstimmung verflogen, es war uns allen mehr ums Heulen als ums Feiern.
Als wir vors Haus traten, kam eine Gruppe Jugendlicher auf uns zu. Es waren Schüler aus meiner Klasse. Sie waren gänzlich verstört und ich brauchte lange, bis ich begriffen hatte, dass unsere Maria, die Maria Ndola beim Bombenangriff umgekommen war.