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Stille Nacht

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Weihnachten 1998

Gedankenverloren zerbröselte er das Brot in seinem Teller, schob die Krümel mit dem Finger zu kleinen Häufchen, zerstreute sie wieder, schob sie wieder zusammen, während sein Blick unstet an der gegenüberliegenden Wand den Rissen im Putz folgte, ohne auch nur etwas von dem was er sah, wirklich wahrzunehmen.

Manchmal gab es so etwas wie ein Erwachen, dann seufzte er, griff zur Bierflasche und nahm einen grossen Schluck.

Widerliches Gesöff.

Er blickte um sich, als ob er aus einem Traum erwachen würde, aber was ihn da umgab, diese armselige, vergammelte Behausung, diese kalte und leere Höhle, den Schimmel an den Wänden …braune Wasserflecken an der Decke…

… das wollte er nicht sehen.

Heute jedenfalls nicht.

Er wollte keine Fragen, keine Antworten, nichts. Er wollte abschalten, vergessen, denn jede Erinnerung, die in ihm aufstieg, war sehr schmerzhaft.

Manchmal packte ihn eine heilige Wut, in der er alles hätte kurz und klein schlagen können, aber er brachte keinerlei Kraft mehr auf, um seinem wilden Zorn Ausdruck zu geben. Was hätte es auch gebracht?

Dann überfiel ihn plötzlich eine tiefe Trauer, Selbstmitleid und schwarze Gedanken. Das Spiel war zu Ende und er hatte verspielt, jämmerlich versagt.

Man sollte Schluss machen, endgültig, aber er brachte nicht mehr so viel Mut auf. Er war am Boden, war hinterrücks umgeschmissen worden, ein Blitz hatte ihn, sozusagen aus heiterem Himmel getroffen, mitten in seine Ahnungslosigkeit hinein.

Man sollte vergessen können, alles vergessen, auch dass heute Weihnachtsabend war.

Zum ersten Mal in seinem Leben war er an diesem Abend allein und einsam.

Es war aber nicht nur das Alleinsein, das ihn schmerzte, er war ausgestossen worden.

Ob seine Familie, die nicht mehr die seinige war, wohl in der Wohnstube versammelt war, wie jedes Jahr? Lichterbaum, Geschenke, das festliche Weihnachtsmahl angerichtet.

Ohne ihn?

Er sah, wie seine beiden Söhne am Klavier musizierten, er sah Isabella...nein, das wollte er nicht sehen, das war vorbei, für immer.

Vielleicht wohnte Gerd, Isabellas Freund und Geliebter noch nicht bei ihnen, vielleicht...

Nein, er wusste ganz genau, dass der andere nun seine Stelle eingenommen hatte, endgültig.

Man musste vergessen, Zeit heile Wunden, sagt man.

Aber dass sich seine Söhne ohne zu Zögern für ihre Mutter entschieden hatten, das würgte ihn.

In seiner grossen Enttäuschung wollte er nun auch von seinem Besuchsrecht keinen Gebrauch machen.

Trotz und beleidigter Stolz bäumten sich in ihm auf.

Sie hatten sich entschieden, basta.

Sie waren gestorben, hatten nie existiert.

Vielleicht gelang es ihm, sich wieder aufzufangen, vielleicht auch nicht, was machte dies schon aus. Eine neue Familie zu gründen, lag finanziell nicht mehr drin, denn er musste weiterhin für das Wohlergehen seiner Familie, die nicht mehr die seinige war, aufkommen.

Es reizte ihn nicht mehr, mit irgendeinem anderen Menschen in Kontakt zu treten.

Wozu auch?

Er war weder je ein Kneipenhocker noch ein Vereinsmeier gewesen, jene Kreise widerten ihn an und zudem konnte er es sich als höherer Beamter gar nicht erlauben sich mit dem kleinen Volk gemein zu machen.

Nun, sein Höhenflug würde ja demnächst einen argen Knick bekommen, denn man munkelte schon seit Monaten von Stellenabbau und Rationalisierung. Da würde seine Arbeitsstelle bestimmt davon betroffen. Aber das war ihm im Augenblick völlig egal. Sollten sie. Man würde ihm ein anderes Arbeitsfeld zuweisen. Oder auch nicht.

Seine Alkoholprobleme hatten sich mittlerweile im ganzen Betrieb herumgesprochen.

Ein Arbeitsloser mehr oder weniger, darauf kam es nun auch nicht mehr an.

Und wenn er nun den Bettel einfach so hinschmiss?

Einfach so, ist gar nicht so einfach.

Und dann mit dem Ersparten verschwinden. Nach Brasilien vielleicht, oder nach Tahiti? Und wenn das Geld alle war, dann konnte man immer noch zurückkommen und vom Sozialamt leben.

Er war kein Robinson, er hatte schon immer Abenteuer vermieden, wenn möglich…

Wenn er sich in der Wohnung umschaute, so schien es ihm, er sei bereits auf die Stufe des hilflosen Sozialhilfeempfängers herabgesunken. Aber so in der Eile hatte er nichts Besseres finden können als diese etwas heruntergekommene Einzimmerwohnung. Einen jahrelangen Hotelaufenthalt konnte er sich nicht leisten. Ausserdem kannte niemand diesen seinen jetzigen Aufenthaltsort.

War auch gut so.

Vor allem seine Familie nicht. „Seine“ Familie! Er würde sich nicht so rasch daran gewöhnen, dass er keine Familie mehr hatte.

Komisch.

Noch vor kurzer Zeit schien es ihm, als ob die Welt völlig in Ordnung sei und dann kam plötzlich diese abrupte Wende, die alles umgeschmissen hatte.

Gut, Isabella hatte ihm kein Theater vorgespielt, hätte sie auch nicht gekonnt, es wäre zum billigen Schmierenstück herabgesunken, aber so frei und offen, so direkt ihm ins Gesicht zu sagen, dass die Zeit der Gemeinsamkeit vorbei sei, dass da ein anderer...

..und ausgerechnet Gerd, sein ehemaliger Studienkollege, den er nie hatte riechen können

...und jetzt, ja, jetzt war Heiligabend...

Seine Finger kneteten Brotkügelchen, im Treppenhaus stritten sich zwei Kinder, der lärmende Verkehr auf der Strasse beruhigte sich allmählich, die Brotkügelchen wurden an den Tellerrand gepresst, zu einer Kugel geformt und dann wieder zerbröselt.

Er musste unbedingt etwas unternehmen, um aus seiner Depression herauszukommen.

Sich besaufen gehen?

War nicht besonders verlockend, wenn man schon im Säuferelend steckte.

Zur Weihnachtsmesse?

Er musste unwillkürlich lachen. Ausgerechnet er! Der engagierte 68-er, der damals gegen Kirche, Staat und Familie ins Feld gezogen war. Nein, das war auch nichts, die konnten es nun wohl auch ohne ihn machen.

Ins Kino?

Würde auch nicht viel bringen, denn es war ihm unmöglich, sich auf irgend etwas zu konzentrieren, das nichts mit seiner gegenwärtigen Lage zu tun hatte.

Aber er konnte und wollte nicht den ganzen Abend heulend seinen trüben Gedanken nachhängen, er durfte nicht länger in seinen vier Wänden versauern, sonst würde er noch durchdrehen.

Er nahm abwechselnd einen Schluck Bier und dann einen tüchtigen Schluck Grappa.

Das wärmte die Seele.

Doch was kann man an so einem verschissenen Abend überhaupt unternehmen? Kinos, Kneipen und Theater sind sicher geschlossen.

Es ist zum Verrücktwerden.

Er ging ans Fenster.

Am oberen Ende der Strasse flimmerte der riesige Weihnachtsbaum vor dem Kaufhaus. Nur wenige Leute waren unterwegs. Aus vielen Fenstern der gegenüberliegenden Häusern drang rötlichgelber Kerzenschein. Jetzt wurde gegessen, gesungen, musiziert und beschert.

Jedenfalls dort, wo Kinder waren.

Kinder.

Dass die beiden Jungen ihn als Vater abgelehnt hatten, dass sie zu ihrer Mutter hielten, gegen ihn, das hatte ihn am schwersten getroffen.

Am unmittelbarsten.

Was war denn geschehen? Warum hatte er nicht gemerkt, dass man sich entfremdet hatte?

Gut, er war vielleicht etwas streng mit ihnen gewesen, oder eben nicht? Hatte er nicht alles getan, damit sie eine glückliche Kindheit erleben durften?

Er hatte sie nie geschlagen, alle Probleme wurden mit Vernunft und Einsicht gelöst.

Gemeinsame Wanderungen an den Sonntagen, gemeinsamer Skiurlaub im Winter, sommers en famille am Meer oder in den Bergen, viel wurde auch für die Bildung getan, er kontrollierte die Hausaufgaben, sie bekamen Musikunterricht, Nachhilfestunden in Latein...ach was!

Manche Dinge lassen sich nun mal nicht erklären.

Mangelnde Vaterliebe?

Er hatte sie tatsächlich geliebt, seine beiden Söhne, keine Affenliebe, nein, er hatte auch versucht, zu ihnen ein kameradschaftliches Verhältnis aufzubauen als sie grösser geworden waren...aber was soll das Ganze?

Es war unerklärlich.

Er konnte sich nicht vorstellen, wie es zu diesem plötzlichen Bruch gekommen war, es gab da kein Ereignis, das die Haltung seiner Söhne erklärbar gemacht hätte.

Dass ihn seine Arbeit zeitweise aufgefressen hatte, da konnte er nichts dagegen tun, er brauchte das Geld der vielen Überstunden für die immer teurer werdenden Wünsche der Familie.

Die Brotkrümel wurden zu länglichen Würstchen geformt, draussen wehte der Wind, Regen klatschte an die Scheiben. Regen.

Kein weihnächtliches Schneegestöber, hier fällt Dreck vom Himmel.

Er stand auf und goss den Rest des Bieres in den Ausguss. Dieses fade Gesöff widerte ihn an.

Oder schmeckte es ihm nicht, weil er schlecht gelaunt war? Was hiess da schon schlecht gelaunt? Seine Stimmung hatte nichts mehr mit Laune zu tun, das war die Apokalypse, sein höchst persönlicher Weltuntergang. Sollte er nun deswegen herumtoben und brüllen?

Das hatte er nie gekonnt, er fand solches Benehmen seiner selbst nicht würdig.

Scheisswürde!

Hätte er doch mal gebrüllt, auf den Tisch gehauen und seine Meinung gesagt, statt immer nur alles still in sich hineinzufressen.

Damals zum Beispiel, als die erste Krise ausgebrochen war.

Hätte er vielleicht den Gang der Dinge ändern können, wenn er damals Isabellas Freundinnen, diese verdammten Klatschbasen, hinausgeschmissen hätte.

Ja, damals hatte es eigentlich begonnen, als jene verrückten Hühner mit ihren emanzipatorischen Spleens im Haus aus und ein gingen. Sie hatten seiner Frau völlig den Kopf verdreht und er, er liess alles geschehen.

Er schwieg, er zeigte sich grosszügig, tolerant und aufgeschlossen.

Selbstverwirklichung.

Er kaufte ihr das Auto, er war einverstanden, dass sie von nun an getrennt in den Urlaub fuhren, er half ihr ihre Boutique einzurichten, er bezahlte die chronischen Defizite ihres Unternehmens, er machte am Feierabend die Hausarbeit, sogar das Geschirrspülen musste er seinen zwei Söhnen abnehmen, da sie nun eine höhere Schule besuchten, er machte alles, ohne zu murren, da es scheinbar heute so gemacht wird.

Er tat noch vieles dem Frieden zuliebe.

Allzu vieles.

Er stürzte sich in seine Arbeit, machte noch mehr Überstunden, kam spät nach Hause, todmüde, und versagte im Bett.

Er begann zu saufen, heimlich.

Er wurde der hörige Sklave seiner Frau.

Der Eunuch.

Er hatte sich wie ein Trottel benommen. Er hatte sich zum Waschlappen gemacht.

Aber diese späte Einsicht brachte auch nicht mehr viel.

Es war nun zu spät.

Auch zum Brüllen und Toben. Er war nicht der Typ des Amokläufers, aber auch so richtig heulen konnte er nicht, nur dahocken und grübeln konnte er und dabei versauern.

Das Leben ging weiter, er musste wieder auf den Zug aufspringen, sonst geriet er leicht unter die Räder.

Aber wozu?

Das falsche Spiel von Liebe und Treue und Familie und den lieben Kinderchen, Arbeiten, Schuften bis zum Gehtnichtmehr und was weiss der Teufel was, das alles nochmals durchspielen? Es wäre auch diesmal wieder ein völlig sinnloses Unterfangen geworden.

Er hatte jämmerlich versagt und würde es auch ein weiteres Mal tun. Immer wieder, denn Versager sind Serientäter.

Er lachte bitter, schmiss die Grappaflasche an die Wand und ging wieder zum Fenster.

Es hatte aufgehört zu regnen, dafür wogte jetzt ein dicker Nebel durch die Strassenschlucht.

Nebel. Das passte ihm in seiner neblig trüben Stimmung. Er würde ausgehen. Eine lange Wanderung durch die Nebelnacht machen, bis ans Ende der Welt, bis ans Ende seiner Tage gehen, immer weiter gehen.

Bis zu den ersten Villen der noblen Vorstadt war ihm kein Mensch begegnet. Es war, als ob die Menschheit auf diesem Planeten nicht mehr existieren würde.

Wäre auch nicht schade, fand er. Aber hier war es plötzlich mit der grossen Stille vorbei, denn hinter jedem Gartenzaun lauerte ein böse bellender Hund. In diesem Viertel regiert die Angst. Die Angst, es könnte einer kommen um etwas vom Überfluss, der hier herrschte, wegzutragen.

Da er zu Fuss unterwegs war und nicht in einem Auto, war er den Wachthunden besonders verdächtig. Vielleicht rochen sie auch schon, dass er nicht mehr zur Klasse derer gehörte, die hier wohnen. Hunde haben eine feine Nase.

Schliesslich hatte er die Stadt hinter sich gebracht.

Er wollte aber nicht der grossen Landstrasse folgen und bog daher in den ersten Feldweg ein, den er im Dunkel erkennen konnte. Aber im dicken Nebel und in der totalen Dunkelheit kam er bald vom Weg ab und irrte nun ziellos über nasses Wiesengelände, stolperte über Steine, fiel in kleine Gräben, rappelte sich wieder auf, geriet in ein Gebüsch, das ihm Gesicht und Hände zerkratzte, schlug sich die Stirn blutig an einem Baumstamm und stürzte schliesslich über eine steile Böschung hinunter. Steine, die er im Fallen losgerissen hatte, plumpsten weiter unten ins Wasser. Vielleicht war da ein Baggersee.

Ihm war alles egal.

Er blieb erschöpft liegen.

Tief atmete er die kühle Luft ein.

Wie wohl das tat.

Er genoss die totale Stille, die ihn hier umgab. Kein noch so ferner Laut drang an sein Ohr.

Stille, absolute Stille herrschte hier.

Man konnte sie förmlich spüren.

Er wusste nicht, wo er hingeraten war, wollte es auch nicht wissen.

Es war plötzlich ruhig, aussen und innen, vor allem hatte der grosse Leerlauf in seinem Hirn aufgehört sich zu drehen. Er fühlte sich plötzlich frei, leicht wie Luft.

Ach, wie schön war das!

Er spürte weder die zunehmende Kälte der Nacht noch die Nässe seiner Kleider, er spürte nur den grossen Frieden, der sein Innerstes erfüllte.

Ach ja, richtig, es war ja Heiligabend.

Stille Nacht, heilige Nacht...


Stille Nacht

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