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Komm Herr Jesus sei unser Gast

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In unserer Familie herrschte der eigenartige Brauch, dass man bei Tisch vor dem Essen immer ein überzähliges Gedeck hinlegte.

«Für den fremden Gast», oder auch «Für den Herrn Jesus», wie es hiess, was mich als Kind sehr beeindruckte, mir aber irgendwie keinen Sinn machte, obschon sich immer wieder Gäste einfanden, die von Mutters grossherzigen Gastfreundschaft wussten und sie ausnutzten.

Ich betrachtete sie nie als Jesusersatz, diese zerlumpte, verlauste Gesellschaft von Mitessern und ich missgönnte ihnen manchen Bissen, wenn ich nach dem Essen noch hungrig vom Tisch ging.

Meine Mutter erklärte es als ein Gedenken an all jene, die irgendwo auf der Welt Hunger litten und von denen gab es damals reichlich, es war ja Krieg, solange ich mich erinnern konnte. Aber ich fand dann, dass ein leerer Teller bei uns, niemanden in den Kriegsgebieten satt mache und unsere Parasiten liess ich nicht mit dem Herrn Jesu vergleichen.

Meine Tante Frieda, eine sehr weise und fromme alte Frau erzählte mir, dass Jesus manchmal auf Erden wandle, um zu schauen, ob alle Menschen hilfreich und gut seien.

So konnte es vorkommen, dass er als Bettler verkleidet um die Mittagszeit an die Türe klopfe und um ein Stück Brot bitte. Nun komme es drauf an, ob wir ihn hereinbäten und ihn am Ehrenplatz bewirteten, oder ob wir ihn wegschickten.

Im ersten Fall konnten wir mit einer Belohnung rechnen, im andern Fall mit einer Strafe.

Sie erzählte dann vom reichen Bauern, der den Herrn vom Hof gejagt hatte und kurze Zeit später sei sein Hof niedergebrannt.

Ich fand es sei ihm recht geschehen, aber wie wurden die Armen belohnt, die ihre Suppe mit ihm geteilt hatten?

Mit Friedas Antwort war ich nie zufrieden.

Es handelte sich um eine Art von Tribünenplatz im Jenseits und vielleicht noch ein zufriedenes Leben im Diesseits aber keinen schnöden Mammon, keine materiellen Güter.

Da wir zweifellos im Dorf zur ärmeren Schicht zählten, wäre es mir lieber gewesen, wir hätten einen schönen Bauernhof bekommen oder Mutter hätte bei der Landeslotterie das grosse Los gezogen, oder mein Vater wäre Arzt oder Lehrer gewesen, statt Bauarbeiter.

Dabei liess ich den leeren Teller nie aus den Augen.

Vielleicht irrte sich da die fromme Tante Frieda und Jesus war ein spendabler Gott.

Um es gleich zu sagen, Jesus war nie unser Gast, aber manche Hausierer wussten es so eizurichten, dass sie genau zur Mittagszeit an unsere Türe klopften und keiner wurde weggejagt, selbst wenn das Essen nur knapp für alle reichte.

In «gewissen Kreisen» wusste man offenbar Bescheid über unsern «Jesusteller».

Mit der Zeit gab es sogar so etwas wie Stammgäste (ich nannte sie «Mitesser»).

Die Frau Schnalke zum Beispiel, eine Hausiererin, die ass, (die frass) wie ein Ferkel.

Ein Stück ihrer Unterlippe war gelähmt und so kam von jedem Bissen, den sie gierig in den Mund stopfte, ein Teil wieder links unten raus.

Schlimm war es mit der Suppe.

Mich faszinierte die ganze Szene. Das war ein ekliges Schmatzen und Spritzen und wenn sie dann auch noch gleichzeitig reden wollte…

…aber in der Folge gab es nie mehr Suppe, wenn die gute Frau Schnalke den Jesus ersetzte.

Wir hatten auch sehr interessante Gäste, an die ich mich noch gut erinnern kann. Handwerksburschen auf der Walz, Vaganten, einen Flüchtling, der nachts über den Rhein geschwommen war, eine Frau, die mit ihren zwei Kindern vom Ehemann aus dem Haus geprügelt worden war und dann eben die periodisch wiederkehrenden Hausierer, jeder mit seinem Gebresten.

Holzbein, blind, schwerhörig, einarmig und der «Schoggi Bommer» in seinem Rollstuhl.

Jesus war nie unser Gast, vielleicht, weil es bei uns kein Tischgebet gab, aber Vater mochte das nicht. Er machte sich nicht viel aus Religion. Die Kirche gehörte zwar ins Dorf, wie er immer sagte, für all jene, die es «nötig hätten». Wer sich aber ehrlich durchs Leben schlage, niemand was zuleide täte und denen helfe, die Hilfe brauchten, der brauche kein jüngstes Gericht und weder Himmel noch Hölle.

Meine Mutter hatte ihren Katechismus brav auswendig gelernt, liess den Herrgott einen guten Mann sein, aber sie verfluchte seine Kirche und seine Pfaffen.

Sie mochte ihre Gründe gehabt haben.

Bei ihrer Heirat trat sie zu den Reformierten über, um, wie sie sagte, ihre Kinder «vor dem Bösen zu bewahren.»

Eine besondere Abneigung hegte sie auch gegen die vielen «Stündeler» in der Verwandtschaft, die sie verächtlich «Heilandshausierer» nannte.

Die Kurzfassung ihrer Religion war: «Wenn du deine Sache recht machst, hast du nichts und niemanden zu fürchten,»

Sie plädierte für «Angewandtes Christentum» und der Jesusteller war der Ausdruck ihres Glaubens.

Als ich sie mal wegen des Tellers zur Rede stellte und wissen wollte, ob sie dafür eine göttliche Belohnung erwarte, meinte sie nur, wenn man aus Eigennutz handle, wäre das nur ein billiger Kuhhandel.

Nein, sie war tatsächlich daran interessiert den armen Teufeln eine Suppe zu spendieren, weil sie ihr leidtaten.

Wenn ich denke, dass bei uns kein Überfluss herrschte, es war eher so, dass der «Schmalhans unser Küchenmeister war»

Damit wir über die Runden kamen, verdingte sie sich als Wasch- und Putzfrau.

Für mich, als Kind, war alles in Ordnung, so wie es war. Ich wusste nichts anderes, aber ich muss gestehen, dass ich im Geheimen immer auf den Herrn Jesus gewartet hatte oder vielleicht auf einen verkleideten Prinzen, der uns zum Dank für die Gerstensuppe mit Wohltaten überhäufte.

Neue wasserdichte Winterschuhe, ein neues Fahrrad für meinen Vater, schöne Bücher … ja, ich hätte schon Wünsche gehabt.

Dann kam aus heiterem Himmel die Nachricht herein, dass der Onkel Alois aus Amerika zurückgekehrt sei.

Ich hatte gar nichts vom reichen Onkel in Amerika gewusst, man hatte diesen Namen bisher nie erwähnt, aber ich fand, dass mein Vater endlich ein Motorrad verdient hätte und dass Mutters Traum vom Staubsauger in Erfüllung gehen könnte und meine Traum-Winterschuhe waren nun schon innen mit Pelz ausgefüttert …

Alois war ein grosser Bruder meiner Mutter und sie war zugleich noch sein Patenkind gewesen, aber sie konnte sich nur schwach an ihn erinnern.

Sie mochte etwa acht Jahre alt gewesen sein als er nach Amerika ausgewandert war.

Sie wusste nur noch, dass er bei der Abreise ihr Sparschwein geklaut hatte …

ebenso das monatliche Haushaltungsgelt der Oma … sowie die Geldtasche des Polizisten, der ihn zum Zug nach Hamburg gebracht hatte.

Die Überfahrt hatte die Gemeinde bezahlt. Ein beliebtes Mittel damals, um unbeliebte Mitbürger abzuschieben, verbunden mit der guten Absicht, ihnen eine Chance zu geben, sich im fernen Amerika zu bessern.

Vor seiner Abreise hatte Mutter ihren Paten fast nie gesehen, weil er all die Jahre im Bezirksgefängnis Tüten geklebt hatte, als Lohn für zwei jämmerlich missglückte Raubüberfälle.

Auch Dummheit ist strafbar.

Nun war er also wieder zurückgekehrt als alter Mann, und wie man gerüchtweise vernahm, als stinkreicher Amerikaner mit Taschen voller Goldmünzen.

Vor seinem Tod wollte er alle seine Verwandten in der Schweiz und im Schwabenland besuchen und sie um Verzeihung bitten.

Hiess es.

Mutter meinte dazu trocken: «Der Alois geht der lateinischen Zehrung nach»

Bei uns war er für die Weihnachtszeit angekündigt.

Zum Weihnachtsessen am 25. Dezember.

Ich sah ihn vor meinen geistigen Augen am Tisch sitzen am «Jesusplatz» natürlich. Ein grossgewachsener Amerikaner, so wie die Soldaten der Besatzungsmacht in Deutschland, aber er trug ein buntes Hemd und in seinen schwarzen Haaren sah man so etwas wie einen Heiligenschein…

… meine überbordende Fantasie schürte aber auch noch den Neid meiner Klassenkameraden und ich merkte bald, dass sich alle von mir abwandten…

…ach der mit seinem reichen Onkel …

Er kam mit dem Zug am Nachmittag des 24. Dezember in Effretikon an. Ganz vorne am Zug, bei der ersten Klasse stieg nur eine dicke Frau mit Pudel aus dem Wagen.

Kein Onkel Alois aus Amerika.

Aber meine Mutter hatte ihn schon gesichtet, ganz hinten bei der dritten Klasse stand ein kleiner, gekrümmter alter Mann in grünem Lodenmantel und winkte ungeduldig mit seinem Gehstock.

Eine armselige verhutzelte Gestalt mit einem kleinen

Rattan Koffer neben sich, stand etwas verloren auf dem Perron und Mutter meinte gleich, das müsse «Götti» Alois sein.

Meine Enttäuschung war abgrundtief und ich hoffte fest, dass dieser Wurzelzwerg wieder in den Zug einsteige, bevor die Türen geschlossen wurden.

Aber er blieb.

Mein Onkel Alois aus Amerika.

Aus seinem verrunzeltem Gesicht blickten zwei listige Äuglein und sein kleiner Mund war immer in Bewegung. Heute wäre es ein Kaugummi, Onkel Alois kaute Tabak mit seinen wenigen schwarzgelben Zahnstummeln, die ihm noch geblieben waren.

Er verbreitete einen säuerlichen Geruch, das musste der Tabak sein der Rest war der Gestank von altem ungepflegtem Mann.

Mir war gleich klar, dass der gute Onkel Alois kein Nabob war, der kam aus keiner Villa in Miami, der war kein Besitzer eines Amischlittens, der war sein Leben lang Fussgänger gewesen.

Der kam per Schub nach Hause.

Wenn er atmete, kam immer ein Pfeifen und Rasseln aus seiner Kehle und wenn er redete, war er kaum zu verstehen.

Da war mal sein «Schigg» (Pfriem) im Mund, das Gerassel aus seiner Kehle und dann war seine Sprache so komisch, dass ich vorerst glaubte, das wäre nun Amerikanisch.

Es war ein Gemisch von Deutsch, Amerikanisch und Entlebuchisch ohne R und W, diese kamen als Quaktöne und Gurgellaute aus seinem Mund.

Ich konnte ihn rasch gut nachahmen und hatte mit meinem Amerikanisch grossen Lacherfolg in der Schule.

Da ihm das Sprechen offensichtlich Mühe bereitete, schwieg er und ich erfuhr nur ganz wenig von seinem Leben.

Wir erfuhren lediglich von ihm, dass er in die Schweiz zurückgekehrt war zum Sterben. Er wollte noch einmal seine Geschwister sehen, die er dort drüben vermisst hätte. Das Heimweh habe ihn immer geplagt.

Beim Weihnachtsmal sass der Onkel Alois natürlich am Ehrenplatz des «Herrn Jesu».

Es war irgendwie eine Zumutung für unsere Nasen. Diese Stinkmorchel.

Sogar der Braten schien nach Alois zu duften, der Knoblauch, die Zwiebel und alle Gewürze kapitulierten.

Aber trotzdem faszinierte mich dieser seltsame Gast.

Sein lederbraunes Gesicht sah aus wie eine zerknitterte Landkarte.

An der linken Schläfe war ein rundes Mal, das von einer Verbrennung herrührte, als ihn ein Tropfen flüssiges Eisen erwischt hatte, am linken Ohr fehlte das Ohrläppchen und die Narbe, die bis zum Hemdkragen reichte, hatte ihm einst ein Mitgefangener im Gefängnis zugefügt.

Mit einem Büchsendeckel einer Konservendose.

Ich löcherte nun den Onkel mit meinen Fragen.

Indianer, ja, hatte er in der Giesserei einen gekannt, die Niagarafälle, nie gesehen, den wilden Westen kannte er aus dem Kino …

… er hatte immer hart gearbeitet, war nie weit aus Chicago hinausgekommen…

…er hätte es zu nichts gebracht ausser zu seiner Staublunge und seiner schweren Arthrose. Darüber hinaus sei ihm nichts geblieben…

Er verbrachte seine letzten Tage in einem Hospiz, das von frommen Schwestern geleitet wurde, irgendwo in der Innerschweiz.

Nach Weihnachten musste ich natürlich in der Schule von meinem Onkel erzählen.

Er tat mir ja so leid mit seiner Lebensgeschichte.

Da wird einer nach Amerika abgeschoben und verbringt dann sein ganzes Leben in einer Giesserei, macht sich dabei seine Lunge kaputt und seine einzige ruhige Zeit verbringt er in einem Gefängnis …

Dabei hätte er der Freund des Indianers «Sitting Bull» sein können, hätte als Cowboy über die Prärie reiten können. Als Goldsucher in Alaska wäre er reich geworden aber auch als Börsianer an der Wall Street.

All diese grosse Ehre widerfuhr ihm nun bei meinen Erzählungen in der Schule und ich sonnte mich nicht wenig in seinem Glanz.

Ich bat dann meine Eltern, den Onkel Alois auch zum nächsten Weihnachtsessen einzuladen, weil mir der verhutzelte Alte wirklich leid tat…

Kurz vor Ostern kam die Todesanzeige und mit ihr das Gerücht, er hätte dem Kloster ein Riesenvermögen vermacht.

Dass sogar die amerikanische Botschaft in Bern einen Kranz geschickt hatte, passte irgendwie auch nicht so richtig in seine Biografie.

Jedes Jahr erinnere ich mich an Weihnachten an den seltsamen Gast, der damals den «Jesusplatz» am Tisch eingenommen hatte.


Stille Nacht

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