Читать книгу Dichtung und Wahrheit - Johann Wolfgang von Goethe - Страница 10

Zweites Buch

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Al­les bis­her Vor­ge­tra­ge­ne deu­tet auf je­nen glück­li­chen und ge­mäch­li­chen Zu­stand, in wel­chem sich die Län­der wäh­rend ei­nes lan­gen Frie­dens be­fin­den. Nir­gends aber ge­nießt man eine sol­che schö­ne Zeit wohl mit grö­ße­rem Be­ha­gen als in Städ­ten, die nach ih­ren ei­ge­nen Ge­set­zen le­ben, die groß ge­nug sind, eine an­sehn­li­che Men­ge Bür­ger zu fas­sen, und wohl ge­le­gen, um sie durch Han­del und Wan­del zu be­rei­chern. Frem­de fin­den ih­ren Ge­winn, da aus- und ein­zu­zie­hen, und sind ge­nö­tigt, Vor­teil zu brin­gen, um Vor­teil zu er­lan­gen. Be­herr­schen sol­che Städ­te auch kein wei­tes Ge­biet, so kön­nen sie de­sto mehr im In­nern Wohl­hä­big­keit be­wir­ken, weil ihre Ver­hält­nis­se nach au­ßen sie nicht zu kost­spie­li­gen Un­ter­neh­mun­gen oder Teil­nah­men ver­pflich­ten.

Auf die­se Wei­se ver­floss den Frank­fur­tern wäh­rend mei­ner Kind­heit eine Rei­he glück­li­cher Jah­re. Aber kaum hat­te ich am 28s­ten Au­gust 1756 mein sie­ben­tes Jahr zu­rück­ge­legt, als gleich dar­auf je­ner welt­be­kann­te Krieg aus­brach, wel­cher auf die nächs­ten sie­ben Jah­re mei­nes Le­bens auch großen Ein­fluss ha­ben soll­te. Fried­rich der Zwei­te, Kö­nig von Preu­ßen, war mit 60 000 Mann in Sach­sen ein­ge­fal­len, und statt ei­ner vor­gän­gi­gen Kriegs­er­klä­rung folg­te ein Ma­ni­fest, wie man sag­te von ihm selbst ver­fasst, wel­ches die Ur­sa­chen ent­hielt, die ihn zu ei­nem sol­chen un­ge­heu­ren Schritt be­wo­gen und be­rech­tigt. Die Welt, die sich nicht nur als Zuschau­er, son­dern auch als Rich­ter auf­ge­for­dert fand, spal­te­te sich so­gleich in zwei Par­tei­en, und un­se­re Fa­mi­lie war ein Bild des großen Gan­zen.

Mein Groß­va­ter, der als Schöff von Frank­furt über Franz dem Ers­ten den Krö­nungs­him­mel ge­tra­gen und von der Kai­se­rin eine ge­wich­ti­ge gol­de­ne Ket­te mit ih­rem Bild­nis er­hal­ten hat­te, war mit ei­ni­gen Schwie­ger­söh­nen und Töch­tern auf östrei­chi­scher Sei­te. Mein Va­ter, von Karl dem Sie­ben­ten zum kai­ser­li­chen Rat er­nannt und an dem Schick­sa­le die­ses un­glück­li­chen Mon­ar­chen ge­müt­lich teil­neh­mend, neig­te sich mit der klei­nern Fa­mi­li­en­hälf­te ge­gen Preu­ßen. Gar bald wur­den un­se­re Zu­sam­men­künf­te, die man seit meh­rern Jah­ren Sonn­tags un­un­ter­bro­chen fort­ge­setzt hat­te, ge­stört. Die un­ter Ver­schwä­ger­ten ge­wöhn­li­chen Miss­hel­lig­kei­ten fan­den nun erst eine Form, in der sie sich aus­spre­chen konn­ten. Man stritt, man über­warf sich, man schwieg, man brach los. Der Groß­va­ter, sonst ein heit­rer, ru­hi­ger und be­que­mer Mann, ward un­ge­dul­dig. Die Frau­en such­ten ver­ge­bens das Feu­er zu tü­schen, und nach ei­ni­gen un­an­ge­neh­men Sze­nen blieb mein Va­ter zu­erst aus der Ge­sell­schaft. Nun freu­ten wir uns un­ge­stört zu Hau­se der preu­ßi­schen Sie­ge, wel­che ge­wöhn­lich durch jene lei­den­schaft­li­che Tan­te mit großem Ju­bel ver­kün­digt wur­den. Al­les an­de­re In­ter­es­se muss­te die­sem wei­chen, und wir brach­ten den Über­rest des Jah­res in be­stän­di­ger Agi­ta­ti­on zu. Die Be­sitz­nah­me von Dres­den, die an­fäng­li­che Mä­ßi­gung des Kö­nigs, die zwar lang­sa­men, aber si­che­ren Fort­schrit­te, der Sieg bei Lo­wo­sitz, die Ge­fan­gen­neh­mung der Sach­sen wa­ren für un­se­re Par­tei eben so vie­le Tri­um­phe. Al­les, was zum Vor­teil der Geg­ner an­ge­führt wer­den konn­te, wur­de ge­leug­net oder ver­fei­nert, und da die ent­ge­gen­ge­setz­ten Fa­mi­li­en­glie­der das Glei­che ta­ten, so konn­ten sie ein­an­der nicht auf der Stra­ße be­geg­nen, ohne dass es Hän­del setz­te, wie in »Ro­meo und Ju­lie«.

Und so war ich denn auch preu­ßisch oder, um rich­ti­ger zu re­den, Frit­zisch ge­sinnt: denn was ging uns Preu­ßen an? Es war die Per­sön­lich­keit des großen Kö­nigs, die auf alle Ge­mü­ter wirk­te. Ich freu­te mich mit dem Va­ter un­se­rer Sie­ge, schrieb sehr gern die Sie­ges­lie­der ab und fast noch lie­ber die Spott­lie­der auf die Ge­gen­par­tei, so platt die Rei­me auch sein moch­ten.

Als äl­tes­ter En­kel und Pate hat­te ich seit mei­ner Kind­heit je­den Sonn­tag bei den Gro­ß­el­tern ge­speist: es wa­ren mei­ne ver­gnüg­tes­ten Stun­den der gan­zen Wo­che. Aber nun woll­te mir kein Bis­sen mehr schme­cken: denn ich muss­te mei­nen Hel­den aufs gräu­lichs­te ver­leum­den hö­ren. Hier weh­te ein an­de­rer Wind, hier klang ein an­de­rer Ton als zu Hau­se. Die Nei­gung, ja die Ver­eh­rung für mei­ne Gro­ß­el­tern nahm ab. Bei den El­tern durf­te ich nichts da­von er­wäh­nen; ich un­ter­ließ es aus ei­ge­nem Ge­fühl und auch, weil die Mut­ter mich ge­warnt hat­te. Da­durch war ich auf mich selbst zu­rück­ge­wie­sen, und wie mir in mei­nem sechs­ten Jah­re, nach dem Erd­be­ben von Lissa­bon, die Güte Got­tes ei­ni­ger­ma­ßen ver­däch­tig ge­wor­den war, so fing ich nun, we­gen Fried­richs Zwei­ten, die Ge­rech­tig­keit des Pub­li­kums zu be­zwei­feln an. Mein Ge­müt war von Na­tur zur Ehr­er­bie­tung ge­neigt, und es ge­hör­te eine große Er­schüt­te­rung dazu, um mei­nen Glau­ben an ir­gend ein Ehr­wür­di­ges wan­ken zu ma­chen. Lei­der hat­te man uns die gu­ten Sit­ten, ein an­stän­di­ges Be­tra­gen, nicht um ih­rer selbst, son­dern um der Leu­te wil­len an­emp­foh­len; was die Leu­te sa­gen wür­den, hieß es im­mer, und ich dach­te, die Leu­te müss­ten auch rech­te Leu­te sein, wür­den auch al­les und je­des zu schät­zen wis­sen. Nun aber er­fuhr ich das Ge­gen­teil. Die größ­ten und au­gen­fäl­ligs­ten Ver­diens­te wur­den ge­schmäht und an­ge­fein­det, die höchs­ten Ta­ten, wo nicht ge­leug­net, doch we­nigs­tens ent­stellt und ver­klei­nert; und so schnö­des An­recht ge­sch­ah dem ein­zi­gen, of­fen­bar über alle sei­ne Zeit­ge­nos­sen er­ha­be­nen Man­ne, der täg­lich be­wies und dar­tat, was er ver­mö­ge; und dies nicht etwa vom Pö­bel, son­dern von vor­züg­li­chen Män­nern, wo­für ich doch mei­nen Groß­va­ter und mei­ne Ohei­me zu hal­ten hat­te. Dass es Par­tei­en ge­ben kön­ne, ja dass er selbst zu ei­ner Par­tei ge­hör­te, da­von hat­te der Kna­be kei­nen Be­griff. Er glaub­te umso viel mehr Recht zu ha­ben und sei­ne Ge­sin­nung für die bes­se­re er­klä­ren zu dür­fen, da er und die Gleich­ge­sinn­ten Ma­ri­en The­re­si­en, ihre Schön­heit und üb­ri­gen gu­ten Ei­gen­schaf­ten ja gel­ten lie­ßen und dem Kai­ser Franz sei­ne Ju­we­len- und Geld­lieb­ha­be­rei wei­ter auch nicht ver­arg­ten; dass Graf Daun manch­mal eine Schlaf­müt­ze ge­hei­ßen wur­de, glaub­ten sie ver­ant­wor­ten zu kön­nen.

Be­den­ke ich es aber jetzt ge­nau­er, so fin­de ich hier den Keim der Nicht­ach­tung, ja der Ver­ach­tung des Pub­li­kums, die mir eine gan­ze Zeit mei­nes Le­bens an­hing und nur spät durch Ein­sicht und Bil­dung ins Glei­che ge­bracht wer­den konn­te. Ge­nug, schon da­mals war das Ge­wahr­wer­den par­tei­ischer Un­ge­rech­tig­keit dem Kna­ben sehr un­an­ge­nehm, ja schäd­lich, in­dem es ihn ge­wöhn­te, sich von ge­lieb­ten und ge­schätz­ten Per­so­nen zu ent­fer­nen. Die im­mer auf ein­an­der fol­gen­den Kriegs­taten und Be­ge­ben­hei­ten lie­ßen den Par­tei­en we­der Ruhe noch Rast. Wir fan­den ein ver­drieß­li­ches Be­ha­gen, jene ein­ge­bil­de­ten Übel und will­kür­li­chen Hän­del im­mer von fri­schem wie­der zu er­re­gen und zu schär­fen, und so fuh­ren wir fort, uns un­ter ein­an­der zu quä­len, bis ei­ni­ge Jah­re dar­auf die Fran­zo­sen Frank­furt be­setz­ten und uns wah­re Un­be­quem­lich­keit in die Häu­ser brach­ten.

Ob nun gleich die meis­ten sich die­ser wich­ti­gen, in der Fer­ne vor­ge­hen­den Er­eig­nis­se nur zu ei­ner lei­den­schaft­li­chen Un­ter­hal­tung be­dien­ten, so wa­ren doch auch an­de­re, wel­che den Ernst die­ser Zei­ten wohl ein­sa­hen und be­fürch­te­ten, dass bei ei­ner Teil­nah­me Frank­reichs der Kriegs­schau­platz sich auch in un­sern Ge­gen­den auf­tun kön­ne. Man hielt uns Kin­der mehr als bis­her zu Hau­se und such­te uns auf man­cher­lei Wei­se zu be­schäf­ti­gen und zu un­ter­hal­ten. Zu sol­chem Ende hat­te man das von der Groß­mut­ter hin­ter­las­se­ne Pup­pen­spiel wie­der auf­ge­stellt, und zwar der­ge­stalt ein­ge­rich­tet, dass die Zuschau­er in mei­nem Gie­bel­zim­mer sit­zen, die spie­len­den und di­ri­gie­ren­den Per­so­nen aber, so­wie das Thea­ter selbst vom Pro­sze­ni­um an, in ei­nem Ne­ben­zim­mer Platz und Raum fan­den. Durch die be­son­de­re Ver­güns­ti­gung, bald die­sen bald je­nen Kna­ben als Zuschau­er ein­zu­las­sen, er­warb ich mir an­fangs vie­le Freun­de; al­lein die Un­ru­he, die in den Kin­dern steckt, ließ sie nicht lan­ge ge­dul­di­ge Zuschau­er blei­ben. Sie stör­ten das Spiel, und wir muss­ten uns ein jün­ge­res Pub­li­kum aus­su­chen, das noch al­len­falls durch Am­men und Mäg­de in der Ord­nung ge­hal­ten wer­den konn­te. Wir hat­ten das ur­sprüng­li­che Haupt­dra­ma, wor­auf die Pup­pen­ge­sell­schaft ei­gent­lich ein­ge­rich­tet war, aus­wen­dig ge­lernt und führ­ten es an­fangs auch aus­schließ­lich auf; al­lein dies er­mü­de­te uns bald, wir ver­än­der­ten die Gar­de­ro­be, die De­ko­ra­tio­nen und wag­ten uns an ver­schie­de­ne Stücke, die frei­lich für einen so klei­nen Schau­platz zu weit­läuf­tig wa­ren. Ob wir uns nun gleich durch die­se An­ma­ßun­gen das­je­ni­ge, was wir wirk­lich hät­ten leis­ten kön­nen, ver­küm­mer­ten und zu­letzt gar zer­stör­ten, so hat doch die­se kind­li­che Un­ter­hal­tung und Be­schäf­ti­gung auf sehr man­nig­fal­ti­ge Wei­se bei mir das Er­fin­dungs- und Dar­stel­lungs­ver­mö­gen, die Ein­bil­dungs­kraft und eine ge­wis­se Tech­nik ge­übt und be­för­dert, wie es viel­leicht auf kei­nem an­de­ren Wege, in so kur­z­er Zeit, in ei­nem so en­gen Rau­me, mit so we­ni­gem Auf­wand hät­te ge­sche­hen kön­nen.

Ich hat­te früh ge­lernt, mit Zir­kel und Li­ne­al um­zu­ge­hen, in­dem ich den gan­zen Un­ter­richt, den man uns in der Geo­me­trie er­teil­te, so­gleich in das Tä­ti­ge ver­wand­te, und Pap­pen­ar­bei­ten konn­ten mich höch­lich be­schäf­ti­gen. Doch blieb ich nicht bei geo­me­tri­schen Kör­pern, bei Käst­chen und sol­chen Din­gen ste­hen, son­dern er­sann mir ar­ti­ge Lust­häu­ser, wel­che mir Pi­las­tern, Freitrep­pen und fla­chen Dä­chern aus­ge­schmückt wur­den; wo­von je­doch we­nig zu stan­de kam.

Weit be­harr­li­cher hin­ge­gen war ich, mit Hil­fe un­se­res Be­dien­ten, ei­nes Schnei­ders von Pro­fes­si­on, eine Rüst­kam­mer aus­zu­stat­ten, wel­che zu un­sern Schau- und Trau­er­spie­len die­nen soll­te, die wir, nach­dem wir den Pup­pen über den Kopf ge­wach­sen wa­ren, selbst auf­zu­füh­ren Lust hat­ten. Mei­ne Ge­spie­len ver­fer­tig­ten sich zwar auch sol­che Rüs­tun­gen und hiel­ten sie für eben so schön und gut als die mei­ni­gen; al­lein ich hat­te es nicht bei den Be­dürf­nis­sen ei­ner Per­son be­wen­den las­sen, son­dern konn­te meh­re­re des klei­nen Hee­res mit al­ler­lei Re­qui­si­ten aus­stat­ten und mach­te mich da­her un­serm klei­nen Krei­se im­mer not­wen­di­ger. Dass sol­che Spie­le auf Par­tei­un­gen, Ge­fech­te und Schlä­ge hin­wie­sen und ge­wöhn­lich auch mit Hän­deln und Ver­druss ein schreck­li­ches Ende nah­men, lässt sich den­ken. In sol­chen Fäl­len hiel­ten ge­wöhn­lich ge­wis­se be­stimm­te Ge­spie­len an mir, an­de­re auf der Ge­gen­sei­te, ob es gleich öf­ter man­chen Partei­wech­sel gab. Ein ein­zi­ger Kna­be, den ich Pyla­des nen­nen will, ver­ließ nur ein ein­zig­mal, von den an­de­ren auf­ge­hetzt, mei­ne Par­tei, konn­te es aber kaum eine Mi­nu­te aus­hal­ten, mir feind­se­lig ge­gen­über­zu­ste­hen; wir ver­söhn­ten uns un­ter vie­len Trä­nen und ha­ben eine gan­ze Wei­le treu­lich zu­sam­men­ge­hal­ten.

Die­sen so wie an­de­re Wohl­wol­len­de konn­te ich sehr glück­lich ma­chen, wenn ich ih­nen Mär­chen er­zähl­te, und be­son­ders lieb­ten sie, wenn ich in eig­ner Per­son sprach, und hat­ten eine große Freu­de, dass mir, als ih­rem Ge­spie­len, so wun­der­li­che Din­ge könn­ten be­geg­net sein, und da­bei gar kein Ar­ges, wie ich Zeit und Raum zu sol­chen Aben­teu­ern fin­den kön­nen, da sie doch ziem­lich wuss­ten, wie ich be­schäf­tigt war und wo ich aus- und ein­ging. Nicht we­ni­ger wa­ren zu sol­chen Be­ge­ben­hei­ten Lo­ka­li­tä­ten, wo nicht aus ei­ner an­de­ren Welt, doch ge­wiss aus ei­ner an­de­ren Ge­gend nö­tig, und al­les war doch erst heut’ oder ges­tern ge­sche­hen. Sie muss­ten sich da­her mehr selbst be­trü­gen, als ich sie zum Bes­ten ha­ben konn­te. Und wenn ich nicht nach und nach, mei­nem Na­tu­rell ge­mäß, die­se Luft­ge­stal­ten und Wind­beu­te­lei­en zu kunst­mä­ßi­gen Dar­stel­lun­gen hät­te ver­ar­bei­ten ler­nen, so wä­ren sol­che auf­schnei­de­ri­sche An­fän­ge ge­wiss nicht ohne schlim­me Fol­gen für mich ge­blie­ben.

Be­trach­tet man die­sen Trieb recht ge­nau, so möch­te man in ihm die­je­ni­ge An­ma­ßung er­ken­nen, wo­mit der Dich­ter selbst das Un­wahr­schein­lichs­te ge­bie­te­risch aus­spricht und von ei­nem je­den for­dert, er sol­le das­je­ni­ge für wirk­lich er­ken­nen, was ihm, dem Er­fin­der, auf ir­gend eine Wei­se als wahr er­schei­nen konn­te.

Was je­doch hier nur im All­ge­mei­nen und be­trach­tungs­wei­se vor­ge­tra­gen wor­den, wird viel­leicht durch ein Bei­spiel, durch ein Mus­ter­stück an­ge­neh­mer und an­schau­li­cher wer­den. Ich füge da­her ein sol­ches Mär­chen bei, wel­ches mir, da ich es mei­nen Ge­spie­len oft wie­der­ho­len muss­te, noch ganz wohl vor der Ein­bil­dungs­kraft und im Ge­dächt­nis schwebt.

Der neue Pa­ris: Kna­ben­mär­chen

Mir träum­te neu­lich, in der Nacht vor Pfingst­sonn­tag, als stün­de ich vor ei­nem Spie­gel und be­schäf­tig­te mich mit den neu­en Som­mer­klei­dern, wel­che mir die lie­ben El­tern auf das Fest hat­ten ma­chen las­sen. Der An­zug be­stand, wie ihr wisst, in Schu­hen von sau­be­rem Le­der, mit großen sil­ber­nen Schnal­len, fei­nen baum­woll­nen St­rümp­fen, schwar­zen Un­ter­klei­dern von Sar­sche1 und ei­nem Rock von grü­nem Ber­kan mit gold­nen Bal­let­ten. Die Wes­te dazu, von Gold­stoff, war aus mei­nes Va­ters Bräu­ti­gams­wes­te ge­schnit­ten. Ich war fri­siert und ge­pu­dert, die Lo­cken stan­den mir wie Flü­gel­chen vom Kop­fe; aber ich konn­te mit dem An­zie­hen nicht fer­tig wer­den, weil ich im­mer die Klei­dungs­stücke ver­wech­sel­te, und weil mir im­mer das ers­te vom Lei­be fiel, wenn ich das zwei­te um­zu­neh­men ge­dach­te. In die­ser großen Ver­le­gen­heit trat ein jun­ger schö­ner Mann zu mir und be­grüß­te mich aufs freund­lichs­te. »Ei, seid mir will­kom­men!« sag­te ich: »es ist mir ja gar lieb, dass ich Euch hier sehe.« – »Kennt Ihr mich denn?« ver­setz­te je­ner lä­chelnd. – »Wa­rum nicht?« war mei­ne gleich­falls lä­cheln­de Ant­wort. »Ihr seid Mer­kur, und ich habe Euch oft ge­nug ab­ge­bil­det ge­se­hen.« – »Das bin ich«, sag­te je­ner, »und von den Göt­tern mit ei­nem wich­ti­gen Auf­trag an dich ge­sandt. Siehst du die­se drei Äp­fel?« – Er reich­te sei­ne Hand her und zeig­te mir drei Äp­fel, die sie kaum fas­sen konn­te, und die eben so wun­der­sam schön als groß wa­ren, und zwar der eine von ro­ter, der an­de­re von gel­ber, der drit­te von grü­ner Far­be. Man muss­te sie für Edel­stei­ne hal­ten, de­nen man die Form von Früch­ten ge­ge­ben. Ich woll­te da­nach grei­fen; er aber zog zu­rück und sag­te: »Du musst erst wis­sen, dass sie nicht für dich sind. Du sollst sie den drei schöns­ten jun­gen Leu­ten von der Stadt ge­ben, wel­che so­dann, je­der nach sei­nem Lose, Gat­tin­nen fin­den sol­len, wie sie sol­che nur wün­schen kön­nen. Nimm und mach’ dei­ne Sa­chen gut!« sag­te er schei­dend und gab mir die Äp­fel in mei­ne off­nen Hän­de; sie schie­nen mir noch grö­ßer ge­wor­den zu sein. Ich hielt sie dar­auf in die Höhe, ge­gen das Licht, und fand sie ganz durch­sich­tig; aber gar bald zo­gen sie sich auf­wärts in die Län­ge und wur­den zu drei schö­nen, schö­nen Frau­en­zim­mer­chen in mä­ßi­ger Pup­pen­grö­ße, de­ren Klei­der von der Far­be der vor­he­ri­gen Äp­fel wa­ren. So glei­te­ten sie sacht an mei­nen Fin­gern hin­auf, und als ich nach ih­nen ha­schen woll­te, um we­nigs­tens eine fest­zu­hal­ten, schweb­ten sie schon weit in der Höhe und Fer­ne, dass ich nichts als das Nach­se­hen hat­te. Ich stand ganz ver­wun­dert und ver­stei­nert da, hat­te die Hän­de noch in der Höhe und be­guck­te mei­ne Fin­ger, als wäre dar­an et­was zu se­hen ge­we­sen. Aber mit ein­mal er­blick­te ich auf mei­nen Fin­ger­spit­zen ein al­ler­liebs­tes Mäd­chen her­um­tan­zen, klei­ner als jene, aber gar nied­lich und mun­ter; und weil sie nicht wie die an­de­ren fort­flog, son­dern ver­weil­te und bald auf die­se, bald auf jene Fin­ger­spit­ze tan­zend hin- und her­trat, so sah ich ihr eine Zeit lang ver­wun­dert zu. Da sie mir aber gar so wohl ge­fiel, glaub­te ich sie end­lich ha­schen zu kön­nen und dach­te ge­schickt ge­nug zu­zu­grei­fen; al­lein in dem Au­gen­blick fühl­te ich einen Schlag an den Kopf, so­dass ich ganz be­täubt nie­der­fiel und aus die­ser Be­täu­bung nicht eher er­wach­te, als bis es Zeit war, mich an­zu­zie­hen und in die Kir­che zu ge­hen.

Un­ter dem Got­tes­dienst wie­der­hol­te ich mir jene Bil­der oft ge­nug; auch am groß­el­ter­li­chen Ti­sche, wo ich zu Mit­tag speis­te. Nach­mit­tags woll­te ich ei­ni­ge Freun­de be­su­chen, so­wohl um mich in mei­ner neu­en Klei­dung, den Hut un­ter dem Arm und den De­gen an der Sei­te, se­hen zu las­sen, als auch weil ich ih­nen Be­su­che schul­dig war. Ich fand nie­man­den zu Hau­se, und da ich hör­te, dass sie in die Gär­ten ge­gan­gen, so ge­dach­te ich ih­nen zu fol­gen und den Abend ver­gnügt zu­zu­brin­gen. Mein Weg führ­te mich den Zwin­ger hin, und ich kam in die Ge­gend, wel­che mit Recht den Na­men schlim­me Mau­er führt: denn es ist dort nie­mals ganz ge­heu­er. Ich ging nur lang­sam und dach­te an mei­ne drei Göt­tin­nen, be­son­ders aber an die klei­ne Nym­phe, und hielt mei­ne Fin­ger manch­mal in die Höhe, in Hoff­nung, sie wür­de so ar­tig sein, wie­der dar­auf zu ba­lan­cie­ren. In die­sen Ge­dan­ken vor­wärts ge­hend, er­blick­te ich, lin­ker Hand, in der Mau­er ein Pfört­chen, das ich mich nicht er­in­ner­te je ge­se­hen zu ha­ben. Es schi­en nied­rig, aber der Spitz­bo­gen drü­ber hät­te den größ­ten Mann hin­durch­ge­las­sen. Bo­gen und Ge­wän­de wa­ren aufs zier­lichs­te vom Stein­metz und Bild­hau­er aus­ge­mei­ßelt, die Türe selbst aber zog erst recht mei­ne Auf­merk­sam­keit an sich. Brau­nes ur­al­tes Holz, nur we­nig ver­ziert, war mit brei­ten, so­wohl er­ha­ben als ver­liest ge­ar­bei­te­ten Bän­dern von Erz be­schla­gen, de­ren Laub­werk, worin die na­tür­lichs­ten Vö­gel sa­ßen, ich nicht ge­nug be­wun­dern konn­te. Doch was mir das merk­wür­digs­te schi­en, kein Schlüs­sel­loch war zu se­hen, kei­ne Klin­ke, kein Klop­fer, und ich ver­mu­te­te dar­aus, dass die­se Türe nur von in­nen auf­ge­macht wer­de. Ich hat­te mich nicht ge­irrt: denn als ich ihr nä­her trat, um die Zie­ra­ten zu be­füh­len, tat sie sich hin­ein­wärts auf, und es er­schi­en ein Mann, des­sen Klei­dung et­was Lan­ges, Wei­tes und Son­der­ba­res hat­te. Auch ein ehr­wür­di­ger Bart um­wölk­te sein Kinn; da­her ich ihn für einen Ju­den zu hal­ten ge­neigt war. Er aber, eben als wenn er mei­ne Ge­dan­ken er­ra­ten hät­te, mach­te das Zei­chen des hei­li­gen Kreu­zes, wo­durch er mir zu er­ken­nen gab, dass er ein gu­ter ka­tho­li­scher Christ sei. – »Jun­ger Herr, wie kommt Ihr hier­her, und was macht Ihr da?« sag­te er mit freund­li­cher Stim­me und Ge­bär­de. – »Ich be­wund­re«, ver­setz­te ich, »die Ar­beit die­ser Pfor­te: denn ich habe der­glei­chen noch nie­mals ge­se­hen; es müss­te denn sein auf klei­nen Stücken in den Kunst­samm­lun­gen der Lieb­ha­ber.« – »Es freut mich«, ver­setz­te er dar­auf, »dass Ihr sol­che Ar­beit liebt. In­wen­dig ist die Pfor­te noch viel schö­ner: tre­tet her­ein, wenn es Euch ge­fällt.« Mir war bei der Sa­che nicht ganz wohl zu Mute. Die wun­der­li­che Klei­dung des Pfört­ners, die Ab­ge­le­gen­heit und ein sonst ich weiß nicht was, das in der Luft zu lie­gen schi­en, be­klemm­te mich. Ich ver­weil­te da­her un­ter dem Vor­wan­de, die Au­ßen­sei­te noch län­ger zu be­trach­ten, und blick­te da­bei ver­stoh­len in den Gar­ten: denn ein Gar­ten war es, der sich vor mir er­öff­net hat­te. Gleich hin­ter der Pfor­te sah ich einen großen be­schat­te­ten Platz; alte Lin­den, re­gel­mä­ßig von­ein­an­der ab­ste­hend, be­deck­ten ihn völ­lig mit ih­ren dicht in ein­an­der grei­fen­den Äs­ten, so­dass die zahl­reichs­ten Ge­sell­schaf­ten in der größ­ten Ta­ges­hit­ze sich dar­un­ter hät­ten er­qui­cken kön­nen. Schon war ich auf die Schwel­le ge­tre­ten, und der Alte wuss­te mich im­mer um einen Schritt wei­ter zu lo­cken. Ich wi­der­stand auch ei­gent­lich nicht: denn ich hat­te je­der­zeit ge­hört, dass ein Prinz oder Sul­tan in sol­chem Fal­le nie­mals fra­gen müs­se, ob Ge­fahr vor­han­den sei. Hat­te ich doch auch mei­nen De­gen an der Sei­te; und soll­te ich mit dem Al­ten nicht fer­tig wer­den, wenn er sich feind­lich er­wei­sen woll­te? Ich trat also ganz ge­si­chert hin­ein; der Pfört­ner drück­te die Türe zu, die so lei­se ein­schnapp­te, dass ich es kaum spür­te. Nun zeig­te er mir die in­wen­dig an­ge­brach­te, wirk­lich noch viel kunst­rei­che­re Ar­beit, leg­te sie mir aus und be­wies mir da­bei ein be­son­de­res Wohl­wol­len. Hier­durch nun völ­lig be­ru­higt, ließ ich mich in dem be­laub­ten Rau­me an der Mau­er, die sich ins Run­de zog, wei­ter­füh­ren und fand man­ches an ihr zu be­wun­dern. Ni­schen, mit Mu­scheln, Koral­len und Me­tall­stu­fen künst­lich aus­ge­ziert, ga­ben aus Tri­to­nen­mäu­lern reich­li­ches Was­ser in mar­mor­ne Be­cken; da­zwi­schen wa­ren Vo­gel­häu­ser an­ge­bracht und an­de­re Ver­git­te­run­gen, worin Eich­hörn­chen her­um­hüpf­ten, Meer­schwein­chen hin und wi­der lie­fen, und was man nur sonst von ar­ti­gen Ge­schöp­fen wün­schen kann. Die Vö­gel rie­fen und san­gen uns an, wie wir vor­schrit­ten, die Sta­re be­son­ders schwätz­ten das när­rischs­te Zeug; der eine rief im­mer: Pa­ris! Pa­ris! und der an­de­re: Nar­ziss! Nar­ziss! so deut­lich, als es ein Schul­kna­be nur aus­spre­chen kann. Der Alte schi­en mich im­mer ernst­haft an­zu­se­hen, in­dem die Vö­gel die­ses rie­fen; ich tat aber nicht, als wenn ich’s merk­te, und hat­te auch wirk­lich nicht Zeit, auf ihn acht zu ge­ben: denn ich konn­te wohl ge­wahr wer­den, dass wir in die Run­de gin­gen und dass die­ser be­schat­te­te Raum ei­gent­lich ein großer Kreis sei, der einen an­de­ren viel be­deu­ten­dern um­schlie­ße. Wir wa­ren auch wirk­lich wie­der bis ans Pfört­chen ge­langt, und es schi­en, als wenn der Alte mich hin­aus­las­sen wol­le; al­lein mei­ne Au­gen blie­ben auf ein gold­nes Git­ter ge­rich­tet, wel­ches die Mit­te die­ses wun­der­ba­ren Gar­tens zu um­zäu­nen schi­en und das ich auf un­serm Gan­ge hin­läng­lich zu be­ob­ach­ten Ge­le­gen­heit fand, ob mich der Alte gleich im­mer an der Mau­er und also ziem­lich ent­fernt von der Mit­te zu hal­ten wuss­te. Als er nun eben auf das Pfört­chen los­ging, sag­te ich zu ihm, mit ei­ner Ver­beu­gung: »Ihr seid so äu­ßerst ge­fäl­lig ge­gen mich ge­we­sen, dass ich wohl noch eine Bit­te wa­gen möch­te, ehe ich von Euch schei­de. Dürf­te ich nicht je­nes gold­ne Git­ter nä­her be­se­hen, das in ei­nem sehr wei­ten Krei­se das In­ne­re des Gar­tens ein­zu­schlie­ßen scheint?« – »Recht gern«, ver­setz­te je­ner, »aber so­dann müsst Ihr Euch ei­ni­gen Be­din­gun­gen un­ter­wer­fen.« – »Wo­rin be­ste­hen sie?« frag­te ich has­tig. – »Ihr müsst Eu­ren Hut und De­gen hier zu­rück­las­sen und dürft mir nicht von der Hand, in­dem ich Euch be­glei­te.« – »Herz­lich gern!« er­wi­der­te ich und leg­te Hut und De­gen auf die ers­te bes­te stei­ner­ne Bank. So­gleich er­griff er mit sei­ner Rech­ten mei­ne Lin­ke, hielt sie fest und führ­te mich mit ei­ni­ger Ge­walt ge­ra­de vor­wärts. Als wir ans Git­ter ka­men, ver­wan­del­te sich mei­ne Ver­wun­de­rung in Er­stau­nen: so et­was hat­te ich nie ge­se­hen. Auf ei­nem ho­hen So­ckel von Mar­mor stan­den un­zäh­li­ge Spie­ße und Par­ti­sa­nen ne­ben ein­an­der ge­reiht, die durch ihre selt­sam ver­zier­ten obe­ren En­den zu­sam­men­hin­gen und einen gan­zen Kreis bil­de­ten. Ich schau­te durch die Zwi­schen­räu­me und sah gleich da­hin­ter ein sanft flie­ßen­des Was­ser, auf bei­den Sei­ten mit Mar­mor ein­ge­fasst, das in sei­nen kla­ren Tie­fen eine große An­zahl von Gold- und Sil­ber­fi­schen se­hen ließ, die sich bald sach­te, bald ge­schwind, bald ein­zeln, bald zug­wei­se hin und her be­weg­ten. Nun hät­te ich aber auch gern über den Kanal ge­se­hen, um zu er­fah­ren, wie es in dem Her­zen des Gar­tens be­schaf­fen sei; al­lein da fand ich zu mei­ner großen Be­trüb­nis, dass an der Ge­gen­sei­te das Was­ser mit ei­nem glei­chen Git­ter ein­ge­fasst war, und zwar so künst­li­cher­wei­se, dass auf einen Zwi­schen­raum dies­seits ge­ra­de ein Spieß oder eine Par­ti­sa­ne jen­seits pass­te und man also, die üb­ri­gen Zie­ra­ten mit­ge­rech­net, nicht hin­durch­se­hen konn­te, man moch­te sich stel­len wie man woll­te. Über­dies hin­der­te mich der Alte, der mich noch im­mer fest­hielt, dass ich mich nicht frei be­we­gen konn­te. Mei­ne Neu­gier wuchs in­des, nach al­lem, was ich ge­se­hen, im­mer mehr, und ich nahm mir ein Herz, den Al­ten zu fra­gen, ob man nicht auch hin­über­kom­men kön­ne. – »Wa­rum nicht?« ver­setz­te je­ner, »aber auf neue Be­din­gun­gen.« – Als ich nach die­sen frag­te, gab er mir zu er­ken­nen, dass ich mich um­klei­den müs­se. Ich war es sehr zu­frie­den; er führ­te mich zu­rück nach der Mau­er in einen klei­nen rein­li­chen Saal, an des­sen Wän­den man­cher­lei Klei­dun­gen hin­gen, die sich sämt­lich dem ori­en­ta­li­schen Ko­stüm zu nä­hern schie­nen. Ich war ge­schwind um­ge­klei­det, er streif­te mei­ne ge­pu­der­ten Haa­re un­ter ein bun­tes Netz, nach­dem er sie zu mei­nem Ent­set­zen ge­wal­tig aus­ge­stäubt hat­te. Nun fand ich mich vor ei­nem großen Spie­gel in mei­ner Ver­mum­mung gar hübsch und ge­fiel mir bes­ser als in mei­nem stei­fen Sonn­tags­klei­de. Ich mach­te ei­ni­ge Ge­bär­den und Sprün­ge, wie ich sie von den Tän­zern auf dem Mess­thea­ter ge­se­hen hat­te. Un­ter die­sem sah ich in den Spie­gel und er­blick­te zu­fäl­lig das Bild ei­ner hin­ter mir be­find­li­chen Ni­sche. Auf ih­rem wei­ßen Grun­de hin­gen drei grü­ne Strick­chen, je­des in sich auf eine Wei­se ver­schlun­gen, die mir in der Fer­ne nicht deut­lich wer­den woll­te. Ich kehr­te mich da­her et­was has­tig um und frag­te den Al­ten nach der Ni­sche so­wie nach den Strick­chen. Er, ganz ge­fäl­lig, hol­te eins her­un­ter und zeig­te es mir. Es war eine grün­sei­de­ne Schnur von mä­ßi­ger Stär­ke, de­ren bei­de En­den, durch ein zwie­fach durch­schnit­te­nes grü­nes Le­der ge­schlun­gen, ihr das An­sehn ga­ben, als sei es ein Werk­zeug zu ei­nem eben nicht sehr er­wünsch­ten Ge­brauch. Die Sa­che schi­en mir be­denk­lich, und ich frag­te den Al­ten nach der Be­deu­tung. Er ant­wor­te­te mir ganz ge­las­sen und gü­tig: es sei die­ses für die­je­ni­gen, wel­che das Ver­trau­en miss­brauch­ten, das man ih­nen hier zu schen­ken be­reit sei. Er hing die Schnur wie­der an ihre Stel­le und ver­lang­te so­gleich, dass ich ihm fol­gen sol­le: denn dies­mal fass­te er mich nicht an, und so ging ich frei ne­ben ihm her.

Mei­ne größ­te Neu­gier war nun­mehr, wo die Türe, wo die Brücke sein möch­te, um durch das Git­ter, um über den Kanal zu kom­men: denn ich hat­te der­glei­chen bis jetzt noch nicht aus­fin­dig ma­chen kön­nen. Ich be­trach­te­te da­her die gol­de­ne Um­zäu­nung sehr ge­nau, als wir dar­auf zu­eil­ten; al­lein au­gen­blick­lich ver­ging mir das Ge­sicht: denn un­er­war­tet be­gan­nen Spie­ße, Spee­re, Hel­le­bar­den, Par­ti­sa­nen, sich zu rüt­teln und zu schüt­teln, und die­se selt­sa­me Be­we­gung en­dig­te da­mit, dass die sämt­li­chen Spit­zen sich ge­gen­ein­an­der senk­ten, eben als wenn zwei al­ter­tüm­li­che, mit Pi­ken be­waff­ne­te Heer­hau­fen ge­gen­ein­an­der los­ge­hen woll­ten. Die Ver­wir­rung fürs Auge, das Ge­klirr für die Ohren war kaum zu er­tra­gen, aber un­end­lich über­ra­schend der An­blick, als sie, völ­lig nie­der­ge­las­sen, den Kreis des Kanals be­deck­ten und die herr­lichs­te Brücke bil­de­ten, die man sich den­ken kann: denn nun lag das bun­tes­te Gar­ten­par­terre vor mei­nem Blick. Es war in ver­schlun­ge­ne Bee­te ge­teilt, wel­che zu­sam­men be­trach­tet ein La­by­rinth von Zie­ra­ten bil­de­ten; alle mit grü­nen Ein­fas­sun­gen von ei­ner nied­ri­gen, wol­lig wach­sen­den Pflan­ze, die ich nie ge­se­hen; alle mit Blu­men, jede Ab­tei­lung von ver­schie­de­ner Far­be, die, eben­falls nied­rig am Bo­den, den vor­ge­zeich­ne­ten Grund­riss leicht ver­fol­gen lie­ßen. Die­ser köst­li­che An­blick, den ich in vol­lem Son­nen­schein ge­noss, fes­sel­te ganz mei­ne Au­gen; aber ich wuss­te fast nicht, wo ich den Fuß hin­set­zen soll­te: denn die schlän­geln­den Wege wa­ren aufs rein­lichs­te von blau­em San­de ge­zo­gen, der einen dunk­lern Him­mel, oder einen Him­mel im Was­ser, an der Erde zu bil­den schi­en; und so ging ich, die Au­gen auf den Bo­den ge­rich­tet, eine Zeit lang ne­ben mei­nem Füh­rer, bis ich zu­letzt ge­wahr ward, dass in der Mit­te von die­sem Bee­ten- und Blu­men­rund ein großer Kreis von Cy­pres­sen oder pap­pel­ar­ti­gen Bäu­men stand, durch den man nicht hin­durch­se­hen konn­te, weil die un­ters­ten Zwei­ge aus der Erde her­vor­zu­trei­ben schie­nen. Mein Füh­rer, ohne mich ge­ra­de auf den nächs­ten Weg zu drän­gen, lei­te­te mich doch un­mit­tel­bar nach je­ner Mit­te, und wie war ich über­rascht, als ich, in den Kreis der ho­hen Bäu­me tre­tend, die Säu­len­hal­le ei­nes köst­li­chen Gar­ten­ge­bäu­des vor mir sah, das nach den üb­ri­gen Zei­ten hin ähn­li­che An­sich­ten und Ein­gän­ge zu ha­ben schi­en. Noch mehr aber als die­ses Mus­ter der Bau­kunst ent­zück­te mich eine himm­li­sche Mu­sik, die aus dem Ge­bäu­de her­vor­drang. Bald glaub­te ich eine Lau­te, bald eine Har­fe, bald eine Zither zu hö­ren, und bald noch et­was klim­pern­des, das kei­nem von die­sen drei In­stru­men­ten ge­mäß war. Die Pfor­te, auf die wir zu­gin­gen, er­öff­ne­te sich bald nach ei­ner lei­sen Berüh­rung des Al­ten; aber wie er­staunt war ich, als die her­austre­ten­de Pfört­ne­rin ganz voll­kom­men dem nied­li­chen Mäd­chen glich, das mir im Trau­me auf den Fin­gern ge­tanzt hat­te. Sie grüß­te mich auch auf eine Wei­se, als wenn wir schon be­kannt wä­ren, und bat mich, her­ein­zu­tre­ten. Der Alte blieb zu­rück, und ich ging mit ihr durch einen ge­wölb­ten und schön ver­zier­ten kur­z­en Gang nach dem Mit­tel­saal, des­sen herr­li­che do­mar­ti­ge Höhe beim Ein­tritt mei­nen Blick auf sich zog und mich in Ver­wun­de­rung setz­te. Doch konn­te mein Auge nicht lan­ge dort ver­wei­len, denn es ward durch ein rei­zen­de­res Schau­spiel her­ab­ge­lockt. Auf ei­nem Tep­pich, ge­ra­de un­ter der Mit­te der Kup­pel, sa­ßen drei Frau­en­zim­mer im Drei­eck, in drei ver­schie­de­ne Far­ben ge­klei­det, die eine rot, die an­de­re gelb, die drit­te grün; die Ses­sel wa­ren ver­gol­det, und der Tep­pich ein voll­kom­me­nes Blu­men­beet. In ih­ren Ar­men la­gen die drei In­stru­men­te, die ich drau­ßen hat­te un­ter­schei­den kön­nen: denn durch mei­ne An­kunft ge­stört, hat­ten sie mit Spie­len in­ne­ge­hal­ten. – »Seid uns will­kom­men!« sag­te die mitt­le­re, die näm­lich, wel­che mit dem Ge­sicht nach der Türe saß, im ro­ten Klei­de und mit der Har­fe. »Setzt Euch zu Aler­ten und hört zu, wenn Ihr Lieb­ha­ber von der Mu­sik seid.« Nun sah ich erst, dass un­ten quer vor ein ziem­lich lan­ges Bänk­chen stand, wor­auf eine Man­do­li­ne lag. Das ar­ti­ge Mäd­chen nahm sie auf, setz­te sich und zog mich an ihre Sei­te. Jetzt be­trach­te­te ich auch die zwei­te Dame zu mei­ner Rech­ten; sie hat­te das gel­be Kleid an und eine Zither in der Hand; und wenn jene Har­fen­spie­le­rin an­sehn­lich von Ge­stalt, groß von Ge­sichts­zü­gen und in ih­rem Be­tra­gen ma­je­stä­tisch war, so konn­te man der Zither­spie­le­rin ein leicht an­mu­ti­ges, heitres We­sen an­mer­ken. Sie war eine schlan­ke Blon­di­ne, da jene dun­kel­brau­nes Haar schmück­te. Die Man­nig­fal­tig­keit und Über­ein­stim­mung ih­rer Mu­sik konn­te mich nicht ab­hal­ten, nun auch die drit­te Schön­heit im grü­nen Ge­wan­de zu be­trach­ten, de­ren Lau­ten­spiel et­was Rüh­ren­des und zu­gleich Auf­fal­len­des für mich hat­te. Die war die­je­ni­ge, die am meis­ten auf mich acht zu ge­ben und ihr Spiel an mich zu rich­ten schi­en; nur konn­te ich aus ihr nicht klug wer­den: denn sie kam mir bald zärt­lich, bald wun­der­lich, bald of­fen, bald ei­gen­sin­nig vor, je nach­dem sie die Mie­nen und ihr Spiel ver­än­der­te. Bald schi­en sie mich rüh­ren, bald mich ne­cken zu wol­len. Doch moch­te sie sich stel­len, wie sie woll­te, so ge­wann sie mir we­nig ab: denn mei­ne klei­ne Nach­ba­rin, mit der ich Ell­bo­gen an Ell­bo­gen saß, hat­te mich ganz für sich ein­ge­nom­men; und wenn ich in je­nen drei Da­men ganz deut­lich die Syl­phi­den mei­nes Traums und die Far­ben der Äp­fel er­blick­te, so be­griff ich wohl, dass ich kei­ne Ur­sa­che hät­te, sie fest­zu­hal­ten. Die ar­ti­ge klei­ne hät­te ich lie­ber an­ge­packt, wenn mir nur nicht der Schlag, den sie mir im Trau­me ver­setzt hat­te, gar zu er­in­ner­lich ge­we­sen wäre. Sie hielt sich bis­her mit ih­rer Man­do­li­ne ganz ru­hig; als aber ihre Ge­bie­te­rin­nen auf­ge­hört hat­ten, so be­fah­len sie ihr, ei­ni­ge lus­ti­ge Stück­chen zum Bes­ten zu ge­ben, kaum hat­te sie ei­ni­ge Tanz­me­lo­di­en gar auf­re­gend ab­ge­klim­pert, so sprang sie in die Höhe; ich tat das Glei­che. Sie spiel­te und tanz­te; ich ward hin­ge­ris­sen, ihre Schrit­te zu be­glei­ten, und wir führ­ten eine Art von klei­nem Bal­lett auf, wo­mit die Da­men zu­frie­den zu sein schie­nen: denn so­bald wir ge­en­digt, be­fah­len sie der klei­nen, mich der­weil mit et­was Gu­tem zu er­qui­cken, bis das Nachtes­sen her­an­käme. Ich hat­te frei­lich ver­ges­sen, dass au­ßer die­sem Pa­ra­die­se noch et­was an­de­res in der Welt wäre. Aler­te führ­te mich so­gleich in den Gang zu­rück, durch den ich her­ein­ge­kom­men war. An der Sei­te hat­te sie zwei woh­lein­ge­rich­te­te Zim­mer; in dem einen, wo sie wohn­te, setz­te sie mir Oran­gen, Fei­gen, Pfir­schen und Trau­ben vor, und ich ge­noss so­wohl die Früch­te frem­der Län­der, als auch die der erst kom­men­den Mo­na­te mit großem Ap­pe­tit. Zucker­werk war im Über­fluss; auch füll­te sie einen Po­kal von ge­schliff­nem Kris­tall mit schäu­men­dem Wein: doch zu trin­ken be­durf­te ich nicht, denn ich hat­te mich an den Früch­ten hin­rei­chend ge­labt. – »Nun wol­len wir spie­len«, sag­te sie und führ­te mich in das an­de­re Zim­mer. Hier sah es nun aus wie auf ei­nem Christ­markt; aber so kost­ba­re und fei­ne Sa­chen hat man nie­mals in ei­ner Weih­nachts­bu­de ge­se­hen. Da wa­ren alle Ar­ten von Pup­pen, Pup­pen­klei­dern und Pup­pen­ge­rät­schaf­ten; Kü­chen, Wohn­stu­ben und Lä­den; und ein­zel­ne Spiel­sa­chen in An­zahl. Sie führ­te mich an al­len Glas­schrän­ken her­um: denn in sol­chen wa­ren die­se künst­li­chen Ar­bei­ten auf­be­wahrt. Die ers­ten Schrän­ke ver­schloss sie aber bald wie­der und sag­te: »Das ist nichts für Euch, ich weiß es wohl. Hier aber«, sag­te sie, »könn­ten wir Bau­ma­te­ria­li­en fin­den, Mau­ern und Tür­me, Häu­ser, Pa­läs­te, Kir­chen, um eine große Stadt zu­sam­men­zu­stel­len. Das un­ter­hält mich aber nicht; wir wol­len zu et­was an­de­rem grei­fen, das für Euch und mich gleich ver­gnüg­lich ist.« – Sie brach­te dar­auf ei­ni­ge Käs­ten her­vor, in de­nen ich klei­nes Kriegs­volk über ein­an­der ge­schich­tet er­blick­te, von dem ich so­gleich be­ken­nen muss­te, dass ich nie­mals so et­was Schö­nes ge­se­hen hät­te. Sie ließ mir die Zeit nicht, das ein­zel­ne nä­her zu be­trach­ten, son­dern nahm den einen Kas­ten un­ter den Arm, und ich pack­te den an­de­ren auf. »Wir wol­len auf die gold­ne Brücke ge­hen«, sag­te sie, »dort spielt sich’s am bes­ten mit Sol­da­ten: die Spie­ße ge­ben gleich die Rich­tung, wie man die Ar­meen ge­gen­ein­an­der zu stel­len hat.« Nun wa­ren wir auf dem gold­nen schwan­ken­den Bo­den an­ge­langt; un­ter mir hör­te ich das Was­ser rie­seln und die Fi­sche plät­schern, in­dem ich nie­der­knie­te, mei­ne Li­ni­en auf­zu­stel­len. Es war al­les Rei­te­rei, wie ich nun­mehr sah. Sie rühm­te sich, die Kö­ni­gin der Ama­zo­nen zum Füh­rer ih­res weib­li­chen Hee­res zu be­sit­zen; ich da­ge­gen fand den Achill und eine sehr statt­li­che grie­chi­sche Rei­te­rei. Die Hee­re stan­den ge­gen­ein­an­der, und man konn­te nichts Schö­ne­res se­hen. Es wa­ren nicht etwa fla­che blei­er­ne Rei­ter, wie die uns­ri­gen, son­dern Mann und Pferd rund und kör­per­lich und auf das feins­te ge­ar­bei­tet; auch konn­te man kaum be­grei­fen, wie sie sich im Gleich­ge­wicht hiel­ten: denn sie stan­den für sich, ohne ein Fuß­brett­chen zu ha­ben.

Wir hat­ten nun je­des mit großer Selbst­zu­frie­den­heit un­se­re Heer­hau­fen be­schaut, als sie mir den An­griff ver­kün­dig­te. Wir hat­ten auch Ge­schütz in un­sern Käs­ten ge­fun­den; es wa­ren näm­lich Schach­teln voll klei­ner wohl­po­lier­ter Achat­ku­geln. Mit die­sen soll­ten wir aus ei­ner ge­wis­sen Ent­fer­nung ge­gen­ein­an­der kämp­fen, wo­bei je­doch aus­drück­lich be­dun­gen war, dass nicht stär­ker ge­wor­fen wer­de, als nö­tig sei, die Fi­gu­ren um­zu­stür­zen: denn be­schä­digt soll­te kei­ne wer­den. Wech­sel­sei­tig ging nun die Ka­no­na­de los, und im An­fang wirk­te sie zu un­ser bei­der Zufrie­den­heit. Al­lein als mei­ne Geg­ne­rin be­merk­te, dass ich doch bes­ser ziel­te als sie und zu­letzt den Sieg, der von der Über­zahl der stehn ge­blie­be­nen ab­hing, ge­win­nen möch­te, trat sie nä­her, und ihr mäd­chen­haf­tes Wer­fen hat­te denn auch den er­wünsch­ten Er­folg. Sie streck­te mir eine Men­ge mei­ner bes­ten Trup­pen nie­der, und je mehr ich pro­tes­tier­te, de­sto eif­ri­ger warf sie. Dies ver­dross mich zu­letzt, und ich er­klär­te, dass ich ein Glei­ches tun wür­de. Ich trat auch wirk­lich nicht al­lein nä­her her­an, son­dern warf im Un­mut viel hef­ti­ger, da es denn nicht lan­ge währ­te, als ein paar ih­rer klei­nen Cen­tau­rin­nen in Stücke spran­gen. In ih­rem Ei­fer be­merk­te sie es nicht gleich; aber ich stand ver­stei­nert, als die zer­broch­nen Fi­gür­chen sich von selbst wie­der zu­sam­men­füg­ten, Ama­zo­ne und Pferd wie­der ein Gan­zes, auch zu­gleich völ­lig le­ben­dig wur­den, im Ga­lopp von der gold­nen Brücke un­ter die Lin­den setz­ten und in Car­rie­re hin und wi­der ren­nend sich end­lich ge­gen die Mau­er, ich weiß nicht wie, ver­lo­ren. Mei­ne schö­ne Geg­ne­rin war das kaum ge­wahr ge­wor­den, als sie in ein lau­tes Wei­nen und Jam­mern aus­brach und rief: dass ich ihr einen un­er­setz­li­chen Ver­lust zu­ge­fügt, der weit grö­ßer sei, als es sich aus­spre­chen las­se. Ich aber, der ich schon er­bost war, freu­te mich, ihr et­was zu­lei­de zu tun, und warf noch ein paar mir üb­rig ge­blie­be­ne Achat­ku­geln blind­lings mit Ge­walt un­ter ih­ren Heer­hau­fen. Un­glück­li­cher­wei­se traf ich die Kö­ni­gin, die bis­her bei un­serm re­gel­mä­ßi­gen Spiel aus­ge­nom­men ge­we­sen. Sie sprang in Stücken, und ihre nächs­ten Ad­ju­tan­ten wur­den auch zer­schmet­tert; aber schnell stell­ten sie sich wie­der her und nah­men Reiß­aus wie die ers­ten, ga­lop­pier­ten sehr lus­tig un­ter den Lin­den her­um und ver­lo­ren sich ge­gen die Mau­er.

Mei­ne Geg­ne­rin schalt und schimpf­te; ich aber, nun ein­mal im Gan­ge, bück­te mich, ei­ni­ge Achat­ku­geln auf­zu­he­ben, wel­che an den gold­nen Spie­ßen her­um­roll­ten. Mein er­grimm­ter Wunsch war, ihr gan­zes Heer zu ver­nich­ten. Sie da­ge­gen, nicht faul, sprang auf mich los und gab mir eine Ohr­fei­ge, dass mir der Kopf summ­te. Ich, der ich im­mer ge­hört hat­te, auf die Ohr­fei­ge ei­nes Mäd­chens ge­hö­re ein der­ber Kuss, fass­te sie bei den Ohren und küss­te sie zu wie­der­hol­ten Ma­len. Sie aber tat einen sol­chen durch­drin­gen­den Schrei, der mich selbst er­schreck­te; ich ließ sie fah­ren, und das war mein Glück: denn in dem Au­gen­blick wuss­te ich nicht, wie mir ge­sch­ah. Der Bo­den un­ter mir fing an zu be­ben und zu ras­seln; ich merk­te ge­schwind, dass sich die Git­ter wie­der in Be­we­gung setz­ten: al­lein ich hat­te nicht Zeit, zu über­le­gen, noch konn­te ich Fuß fas­sen, um zu flie­hen. Ich fürch­te­te je­den Au­gen­blick ge­spießt zu wer­den: denn die Par­ti­sa­nen und Lan­zen, die sich auf­rich­te­ten, zer­schlitz­ten mir schon die Klei­der; ge­nug, ich weiß nicht, wie mir ge­sch­ah, mir ver­ging Hö­ren und Se­hen, und ich er­hol­te mich aus mei­ner Be­täu­bung, von mei­nem Schre­cken am Fuß ei­ner Lin­de, wi­der den mich das auf­schnel­len­de Git­ter ge­wor­fen hat­te. Mit dem Er­wa­chen er­wach­te auch mei­ne Bos­heit, die sich noch hef­tig ver­mehr­te, als ich von drü­ben die Spott­wor­te und das Ge­läch­ter mei­ner Geg­ne­rin ver­nahm, die an der an­de­ren Sei­te et­was ge­lin­der als ich moch­te zur Erde ge­kom­men sein. Da­her sprang ich auf, und als ich rings um mich das klei­ne Heer nebst sei­nem An­füh­rer Achill, wel­che das auf­fah­ren­de Git­ter mit mir her­über­ge­schnellt hat­te, zer­streut sah, er­griff ich den Hel­den zu­erst und warf ihn wi­der einen Baum. Sei­ne Wie­der­her­stel­lung und sei­ne Flucht ge­fie­len mir nun dop­pelt, weil sich die Scha­den­freu­de zu dem ar­tigs­ten An­blick von der Welt ge­sell­te, und ich war im Be­griff, die sämt­li­chen Grie­chen ihm nach­zu­schi­cken, als auf ein­mal zi­schen­de Was­ser von al­len Sei­ten her, aus Stei­nen und Mau­ern, aus Bo­den und Zwei­gen her­vor­sprüh­ten und, wo ich mich hin­wen­de­te, kreuz­wei­se auf mich los­peitsch­ten. Mein leich­tes Ge­wand war in kur­z­er Zeit völ­lig durch­nässt; zer­schlitzt war es schon, und ich säum­te nicht, es mir ganz vom Lei­be zu rei­ßen. Die Pan­tof­feln warf ich von mir, und so eine Hül­le nach der an­de­ren; ja ich fand es end­lich bei dem war­men Tage sehr an­ge­nehm, ein sol­ches Strahl­bad über mich er­ge­hen zu las­sen. Ganz nackt schritt ich nun gra­vi­tä­tisch zwi­schen die­sen will­komm­nen Ge­wäs­sern ein­her und dach­te mich lan­ge so wohl be­fin­den zu kön­nen. Mein Zorn ver­kühl­te sich, und ich wünsch­te nichts mehr als eine Ver­söh­nung mit mei­ner klei­nen Geg­ne­rin. Doch in ei­nem Nu schnapp­ten die Was­ser ab, und ich stand nun feucht auf ei­nem durch­näss­ten Bo­den. Die Ge­gen­wart des al­ten Man­nes, der un­ver­mu­tet vor mich trat, war mir kei­nes­wegs will­kom­men; ich hät­te ge­wünscht, mich, wo nicht ver­ber­gen, doch we­nigs­tens ver­hül­len zu kön­nen. Die Be­schä­mung, der Frost­schau­er, das Be­stre­ben, mich ei­ni­ger­ma­ßen zu be­de­cken, lie­ßen mich eine höchst er­bärm­li­che Fi­gur spie­len; der Alte be­nutz­te den Au­gen­blick, um mir die größ­ten Vor­wür­fe zu ma­chen. »Was hin­dert mich«, rief er aus, »dass ich nicht eine der grü­nen Schnuren er­grei­fe und sie, wo nicht Eu­rem Hals, doch Eu­rem Rücken an­mes­se!« Die­se Dro­hung nahm ich höchst übel. »Hü­tet Euch«, rief ich aus, »vor sol­chen Wor­ten, ja nur vor sol­chen Ge­dan­ken: denn sonst seid Ihr und Eure Ge­bie­te­rin­nen ver­lo­ren!« – »Wer bist denn du«, frag­te er trut­zig, »dass du so re­den darfst?« – »Ein Lieb­ling der Göt­ter«, sag­te ich, »von dem es ab­hängt, ob jene Frau­en­zim­mer wür­di­ge Gat­ten fin­den und ein glück­li­ches Le­ben füh­ren sol­len, oder ob er sie will in ih­rem Zau­ber­klos­ter ver­schmach­ten und ver­al­ten las­sen.« – Der Alte trat ei­ni­ge Schrit­te zu­rück. »Wer hat dir das of­fen­bart?« frag­te er er­staunt und be­denk­lich. – »Drei Äp­fel«, sag­te ich, »drei Ju­we­len.« – »Und was ver­langst du zum Lohn?« rief er aus. – »Vor al­len Din­gen das klei­ne Ge­schöpf«, ver­setz­te ich, »die mich in die­sen ver­wünsch­ten Zu­stand ge­bracht hat.« – Der Alte warf sich vor mir nie­der, ohne sich vor der noch feuch­ten und schlam­mi­gen Erde zu scheu­en; dann stand er auf, ohne be­netzt zu sein, nahm mich freund­lich bei der Hand, führ­te mich in je­nen Saal, klei­de­te mich be­händ wie­der an, und bald war ich wie­der sonn­täg­lich ge­putzt und fri­siert wie vor­her. Der Pfört­ner sprach kein Wort wei­ter; aber ehe er mich über die Schwel­le ließ, hielt er mich an und deu­te­te mir auf ei­ni­ge Ge­gen­stän­de an der Mau­er drü­ben über den Weg, in­dem er zu­gleich rück­wärts auf das Pfört­chen zeig­te. Ich ver­stand ihn wohl: er woll­te näm­lich, dass ich mir die Ge­gen­stän­de ein­prä­gen möch­te, um das Pfört­chen de­sto ge­wis­ser wie­der­zu­fin­den, wel­ches sich un­ver­se­hens hin­ter mir zu­schloss. Ich merk­te mir nun wohl, was mir ge­gen­über­stand. Über eine hohe Mau­er rag­ten die Äste ur­al­ter Nuss­bäu­me her­über und be­deck­ten zum Teil das Ge­sims, wo­mit sie en­dig­te. Die Zwei­ge reich­ten bis an eine stei­ner­ne Ta­fel, de­ren ver­zier­te Ein­fas­sung ich wohl er­ken­nen, de­ren In­schrift ich aber nicht le­sen konn­te. Die ruh­te auf dem Krag­stein ei­ner Ni­sche, in wel­cher ein künst­lich ge­ar­bei­te­ter Brun­nen, von Scha­le zu Scha­le, Was­ser in ein großes Be­cken goss, das wie einen klei­nen Teich bil­de­te und sich in die Erde ver­lor. Brun­nen, In­schrift, Nuss­bäu­me, al­les stand senk­recht über ein­an­der: ich woll­te es ma­len, wie ich es ge­sehn habe.

Nun lässt sich wohl den­ken, wie ich die­sen Abend und man­chen fol­gen­den Tag zu­brach­te und wie oft ich mir die­se Ge­schich­ten, die ich kaum selbst glau­ben konn­te, wie­der­hol­te. So­bald mir’s nur ir­gend mög­lich war, ging ich wie­der zur schlim­men Mau­er, um we­nigs­tens jene Merk­zei­chen im Ge­dächt­nis an­zu­fri­schen und das köst­li­che Pfört­chen zu be­schau­en. Al­lein zu mei­nem größ­ten Er­stau­nen fand ich al­les ver­än­dert. Nuss­bäu­me rag­ten wohl über die Mau­er, aber sie stan­den nicht un­mit­tel­bar ne­ben ein­an­der. Eine Ta­fel war auch ein­ge­mau­ert, aber von den Bäu­men weit rechts, ohne Ver­zie­rung, und mit ei­ner le­ser­li­chen In­schrift. Eine Ni­sche mit ei­nem Brun­nen fin­det sich weit links, der aber je­nem, den ich ge­se­hen, durch­aus nicht zu ver­glei­chen ist; so­dass ich bei­na­he glau­ben muss, das zwei­te Aben­teu­er sei so gut als das ers­te ein Traum ge­we­sen: denn von dem Pfört­chen fin­det sich über­haupt gar kei­ne Spur. Das ein­zi­ge, was mich trös­tet, ist die Be­mer­kung, dass jene drei Ge­gen­stän­de stets den Ort zu ver­än­dern schei­nen: denn bei wie­der­hol­tem Be­such je­ner Ge­gend glau­be ich be­merkt zu ha­ben, dass die Nuss­bäu­me et­was zu­sam­men­rücken und dass Ta­fel und Brun­nen sich eben­falls zu nä­hern schei­nen. Wahr­schein­lich, wenn al­les wie­der zu­sam­men­trifft, wird auch die Pfor­te von Neu­em sicht­bar sein, und ich wer­de mein Mög­li­ches tun, das Aben­teu­er wie­der an­zu­knüp­fen. Ob ich euch er­zäh­len kann, was wei­ter be­geg­net, oder ob es mir aus­drück­lich ver­bo­ten wird, weiß ich nicht zu sa­gen.

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Die­ses Mär­chen, von des­sen Wahr­heit mei­ne Ge­spie­len sich lei­den­schaft­lich zu über­zeu­gen trach­te­ten, er­hielt großen Bei­fall. Sie be­such­ten, je­der al­lein, ohne es mir oder den an­de­ren zu ver­trau­en, den an­ge­deu­te­ten Ort, fan­den die Nuss­bäu­me, die Ta­fel und den Brun­nen, aber im­mer ent­fernt von­ein­an­der: wie sie zu­letzt be­kann­ten, weil man in je­nen Jah­ren nicht gern ein Ge­heim­nis ver­schwei­gen mag. Hier ging aber der Streit erst an. Der eine ver­si­cher­te: die Ge­gen­stän­de rück­ten nicht vom Fle­cke und blie­ben im­mer in glei­cher Ent­fer­nung un­ter ein­an­der. Der zwei­te be­haup­te­te: sie be­weg­ten sich, aber sie ent­fern­ten sich von­ein­an­der. Mit die­sem war der drit­te über den ers­ten Punkt der Be­we­gung ein­stim­mig, doch schie­nen ihm Nuss­bäu­me, Ta­fel und Brun­nen sich viel­mehr zu nä­hern. Der vier­te woll­te noch was Merk­wür­di­ge­res ge­se­hen ha­ben: die Nuss­bäu­me näm­lich in der Mit­te, die Ta­fel aber und den Brun­nen auf den ent­ge­gen­ge­setz­ten Sei­ten, als ich an­ge­ge­ben. In Ab­sicht auf die Spur des Pfört­chens va­ri­ier­ten sie auch. Und so ga­ben sie mir ein frü­hes Bei­spiel, wie die Men­schen von ei­ner ganz ein­fa­chen und leicht zu er­ör­tern­den Sa­che die wi­der­spre­chends­ten An­sich­ten ha­ben und be­haup­ten kön­nen. Als ich die Fort­set­zung mei­nes Mär­chens hart­nä­ckig ver­wei­ger­te, ward die­ser ers­te Teil öf­ters wie­der be­gehrt. Ich hü­te­te mich, an den Um­stän­den viel zu ver­än­dern, und durch die Gleich­för­mig­keit mei­ner Er­zäh­lung ver­wan­del­te ich in den Ge­mü­tern mei­ner Zu­hö­rer die Fa­bel in Wahr­heit.

Üb­ri­gens war ich den Lü­gen und der Ver­stel­lung ab­ge­neigt und über­haupt kei­nes­wegs leicht­sin­nig; viel­mehr zeig­te sich der in­ne­re Ernst, mit dem ich schon früh mich und die Welt be­trach­te­te, auch in mei­nem Äu­ßern, und ich ward oft freund­lich, oft auch spöt­tisch über eine ge­wis­se Wür­de be­ru­fen, die ich mir her­aus­nahm. Denn ob es mir zwar an gu­ten, aus­ge­such­ten Freun­den nicht fehl­te, so wa­ren wir doch im­mer die Min­der­zahl ge­gen jene, die uns mit ro­hem Mut­wil­len an­zu­fech­ten ein Ver­gnü­gen fan­den und uns frei­lich oft sehr un­sanft aus je­nen mär­chen­haf­ten, selbst­ge­fäl­li­gen Träu­men auf­weck­ten, in die wir uns, ich er­fin­dend und mei­ne Ge­spie­len teil­neh­mend, nur all­zu gern ver­lo­ren. Nun wur­den wir aber­mals ge­wahr, dass man, an­statt sich der Weich­lich­keit und fan­tas­ti­schen Ver­gnü­gun­gen hin­zu­ge­ben, wohl eher Ur­sa­che habe, sich ab­zu­här­ten, um die un­ver­meid­li­chen Übel ent­we­der zu er­tra­gen oder ih­nen ent­ge­gen zu wir­ken.

Un­ter die Übun­gen des Stoi­zis­mus, den ich des­halb so ernst­lich, als es ei­nem Kna­ben mög­lich ist, bei mir aus­bil­de­te, ge­hör­ten auch die Dul­dun­gen kör­per­li­cher Lei­den. Un­se­re Leh­rer be­han­del­ten uns oft sehr un­freund­lich und un­ge­schickt mit Schlä­gen und Püf­fen, ge­gen die wir uns umso mehr ver­här­te­ten, als Wi­der­setz­lich­keit oder Ge­gen­wir­kung aufs höchs­te ver­pönt war. Sehr vie­le Scher­ze der Ju­gend be­ru­hen auf ei­nem Wett­streit sol­cher Er­tra­gun­gen: zum Bei­spiel, wenn man mit zwei Fin­gern oder der gan­zen Hand sich wech­sels­wei­se bis zur Be­täu­bung der Glie­der schlägt, oder die bei ge­wis­sen Spie­len ver­schul­de­ten Schlä­ge mit mehr oder we­ni­ger Ge­setzt­heit aus­hält; wenn man sich beim Rin­gen und Bal­gen durch die Knif­fe der Hal­b­über­wun­de­nen nicht irre ma­chen lässt; wenn man einen aus Ne­cke­rei zu­ge­füg­ten Schmerz un­ter­drückt; ja selbst das Zwi­cken und Kit­zeln, wo­mit jun­ge Leu­te so ge­schäf­tig ge­gen­ein­an­der sind, als et­was Gleich­gül­ti­ges be­han­delt. Da­durch setzt man sich in einen großen Vor­teil, der uns von an­de­ren so ge­schwind nicht ab­ge­won­nen wird.

Da ich je­doch von ei­nem sol­chen Lei­den­strotz gleich­sam Pro­fes­si­on mach­te, so wuch­sen die Zu­dring­lich­kei­ten der an­de­ren; und wie eine un­ar­ti­ge Grau­sam­keit kei­ne Gren­zen kennt, so wuss­te sie mich doch aus mei­ner Gren­ze hin­aus­zu­trei­ben. Ich er­zäh­le einen Fall statt vie­ler. Der Leh­rer war eine Stun­de nicht ge­kom­men; so­lan­ge wir Kin­der alle bei­sam­men wa­ren, un­ter­hiel­ten wir uns recht ar­tig; als aber die mir Wohl­wol­len­den, nach­dem sie lan­ge ge­nug ge­war­tet, hin­weg­gin­gen und ich mit drei Miss­wol­len­den al­lein blieb, so dach­ten die­se mich zu quä­len, zu be­schä­men und zu ver­trei­ben. Sie hat­ten mich einen Au­gen­blick im Zim­mer ver­las­sen und ka­men mit Ru­ten zu­rück, die sie sich aus ei­nem ge­schwind zer­schnit­te­nen Be­sen ver­schafft hat­ten. Ich merk­te ihre Ab­sicht, und weil ich das Ende der Stun­de nahe glaub­te, so setz­te ich aus dem Steg­rei­fe bei mir fest, mich bis zum Glo­cken­schla­ge nicht zu weh­ren. Sie fin­gen dar­auf un­barm­her­zig an, mir die Bei­ne und Wa­den auf das grau­sams­te zu peit­schen. Ich rühr­te mich nicht, fühl­te aber bald, dass ich mich ver­rech­net hat­te und dass ein sol­cher Schmerz die Mi­nu­ten sehr ver­län­gert. Mit der Dul­dung wuchs mei­ne Wut, und mit dem ers­ten Stun­den­schlag fuhr ich dem einen, der sich’s am we­nigs­ten ver­sah, mit der Hand in die Na­cken­haa­re und stürz­te ihn au­gen­blick­lich zu Bo­den, in­dem ich mit dem Knie sei­nen Rücken drück­te; den an­de­ren, einen jün­ge­ren und schwä­che­ren, der mich von hin­ten an­fiel, zog ich bei dem Kop­fe durch den Arm und er­dros­sel­te ihn fast, in­dem ich ihn an mich press­te. Nun war der letz­te noch üb­rig und nicht der schwächs­te, und mir blieb nur die lin­ke Hand zu mei­ner Ver­tei­di­gung. Al­lein ich er­griff ihn beim Klei­de, und durch eine ge­schick­te Wen­dung von mei­ner Sei­te, durch eine über­eil­te von sei­ner brach­te ich ihn nie­der und stieß ihn mit dem Ge­sicht ge­gen den Bo­den. Sie lie­ßen es nicht an Bei­ßen, Krat­zen und Tre­ten feh­len; aber ich hat­te nur mei­ne Ra­che im Sinn und in den Glie­dern. In dem Vor­teil, in dem ich mich be­fand, stieß ich sie wie­der­holt mit den Köp­fen zu­sam­men. Sie er­hu­ben zu­letzt ein ent­setz­li­ches Ze­ter­ge­schrei, und wir sa­hen uns bald von al­len Haus­ge­nos­sen um­ge­ben. Die um­her­ge­streu­ten Ru­ten und mei­ne Bei­ne, die ich von den St­rümp­fen ent­blö­ßte, zeug­ten bald für mich. Man be­hielt sich die Stra­fe vor und ließ mich aus dem Hau­se; ich er­klär­te aber, dass ich künf­tig bei der ge­rings­ten Be­lei­di­gung ei­nem oder dem an­de­ren die Au­gen aus­krat­zen, die Ohren ab­rei­ßen, wo nicht gar ihn er­dros­seln wür­de.

Die­ser Vor­fall, ob man ihn gleich, wie es in kin­di­schen Din­gen zu ge­sche­hen pflegt, bald wie­der ver­gaß und so­gar be­lach­te, war je­doch Ur­sa­che, dass die­se ge­mein­sa­men Un­ter­richts­stun­den selt­ner wur­den und zu­letzt ganz auf­hör­ten. Ich war also wie­der wie vor­her mehr ins Haus ge­bannt, wo ich an mei­ner Schwes­ter Cor­ne­lia, die nur ein Jahr we­ni­ger zähl­te als ich, eine an An­nehm­lich­keit im­mer wach­sen­de Ge­sell­schaf­te­rin fand.

Ich will je­doch die­sen Ge­gen­stand nicht ver­las­sen, ohne noch ei­ni­ge Ge­schich­ten zu er­zäh­len, wie man­cher­lei Un­an­ge­neh­mes mir von mei­nen Ge­spie­len be­geg­net: denn das ist ja eben das Lehr­rei­che sol­cher sitt­li­chen Mit­tei­lun­gen, dass der Mensch er­fah­re, wie es an­de­ren er­gan­gen und was auch er vom Le­ben zu er­war­ten habe, und dass er, es mag sich er­eig­nen was will, be­den­ke, die­ses wi­der­fah­re ihm als Men­schen und nicht als ei­nem be­son­ders Glück­li­chen oder Un­glück­li­chen. Nützt ein sol­ches Wis­sen nicht viel, um die Übel zu ver­mei­den, so ist es doch sehr dien­lich, dass wir uns in die Zu­stän­de fin­den, sie er­tra­gen, ja sie über­win­den ler­nen.

Noch eine all­ge­mei­ne Be­mer­kung steht hier an der rech­ten Stel­le, dass näm­lich bei dem Em­por­wach­sen der Kin­der aus den ge­sit­te­ten Stän­den ein sehr großer Wi­der­spruch zum Vor­schein kommt, ich mei­ne den, dass sie von El­tern und Leh­rern an­ge­mahnt und an­ge­lei­tet wer­den, sich mä­ßig, ver­stän­dig, ja ver­nünf­tig zu be­tra­gen, nie­man­den aus Mut­wil­len oder Über­mut ein Leids zu­zu­fü­gen und alle ge­häs­si­gen Re­gun­gen, die sich an ih­nen ent­wi­ckeln möch­ten, zu un­ter­drücken; dass nun aber im Ge­gen­teil, wäh­rend die jun­gen Ge­schöp­fe mit ei­ner sol­chen Übung be­schäf­tigt sind, sie von an­de­ren das zu lei­den ha­ben, was an ih­nen ge­schol­ten wird und höch­lich ver­pönt ist. Da­durch kom­men die ar­men We­sen zwi­schen dem Na­tur­zu­stan­de und dem der Zi­vi­li­sa­ti­on gar er­bärm­lich in die Klem­me und wer­den, je nach­dem die Cha­rak­tere sind, ent­we­der tückisch, oder ge­walt­sam auf­brau­send, wenn sie eine Zeit lang an sich ge­hal­ten ha­ben.

Ge­walt ist eher mit Ge­walt zu ver­trei­ben; aber ein gut­ge­sinn­tes, zur Lie­be und Teil­nah­me ge­neig­tes Kind weiß dem Hohn und dem bö­sen Wil­len we­nig ent­ge­gen­zu­set­zen. Wenn ich die Tät­lich­kei­ten mei­ner Ge­sel­len so ziem­lich ab­zu­hal­ten wuss­te, so war ich doch kei­nes­wegs ih­ren Sti­che­lei­en und Miss­re­den ge­wach­sen, weil in sol­chen Fäl­len der­je­ni­ge, der sich ver­tei­digt, im­mer ver­lie­ren muss. Es wur­den also auch An­grif­fe die­ser Art, in­so­fern sie zum Zorn reiz­ten, mit phy­si­schen Kräf­ten zu­rück­ge­wie­sen, oder sie reg­ten wun­der­sa­me Be­trach­tun­gen in mir auf, die denn nicht ohne Fol­gen blei­ben konn­ten. Un­ter an­de­ren Vor­zü­gen miss­gönn­ten mir die Übel­wol­len­den auch, dass ich mir in ei­nem Ver­hält­nis ge­fiel, wel­ches aus dem Schult­hei­ßen­amt mei­nes Groß­va­ters für die Fa­mi­lie ent­sprang: denn in­dem er als der ers­te un­ter sei­nes­glei­chen da­stand, hat­te die­ses doch auch auf die Sei­ni­gen nicht ge­rin­gen Ein­fluss. Und als ich mir ein­mal nach ge­hal­te­nem Pfei­fer­ge­rich­te et­was dar­auf ein­zu­bil­den schi­en, mei­nen Groß­va­ter in der Mit­te des Schöf­fen­rats, eine Stu­fe hö­her als die an­de­ren, un­ter dem Bil­de des Kai­sers gleich­sam thro­nend ge­se­hen zu ha­ben, so sag­te ei­ner der Kna­ben höh­nisch: ich soll­te doch, wie der Pfau auf sei­ne Füße, so auf mei­nen Groß­va­ter vä­ter­li­cher Sei­te hin­se­hen, wel­cher Gast­ge­ber zum Wei­den­hof ge­we­sen und wohl an die Thro­nen und Kro­nen kei­nen An­spruch ge­macht hät­te. Ich er­wi­der­te dar­auf, dass ich da­von kei­nes­wegs be­schämt sei, weil ge­ra­de dar­in das Herr­li­che und Er­he­ben­de un­se­rer Va­ter­stadt be­ste­he, dass alle Bür­ger sich ein­an­der gleich hal­ten dürf­ten und dass ei­nem je­den sei­ne Tä­tig­keit nach sei­ner Art för­der­lich und eh­ren­voll sein kön­ne. Es sei mir nur leid, dass der gute Mann schon so lan­ge ge­stor­ben: denn ich habe mich auch ihn per­sön­lich zu ken­nen öf­ters ge­sehnt, sein Bild­nis viel­mals be­trach­tet, ja sein Grab be­sucht und mich we­nigs­tens bei der In­schrift an dem ein­fa­chen Denk­mal sei­nes vor­über­ge­gan­ge­nen Da­seins ge­freut, dem ich das mei­ne schul­dig ge­wor­den. Ein an­de­rer Miss­wol­len­der, der tückischs­te von al­len, nahm je­nen ers­ten bei­sei­te und flüs­ter­te ihm et­was in die Ohren, wo­bei sie mich im­mer spöt­tisch an­sa­hen. Schon fing die Gal­le mir an zu ko­chen, und ich for­der­te sie auf, laut zu re­den. »Nun, was ist es denn wei­ter«, sag­te der ers­te, »wenn du es wis­sen willst: die­ser da meint, du könn­test lan­ge her­um­ge­hen und su­chen, bis du dei­nen Groß­va­ter fän­dest.« Ich droh­te nun noch hef­ti­ger, wenn sie sich nicht deut­li­cher er­klä­ren wür­den. Sie brach­ten dar­auf ein Mär­chen vor, das sie ih­ren El­tern woll­ten ab­ge­lauscht ha­ben: mein Va­ter sei der Sohn ei­nes vor­neh­men Man­nes, und je­ner gute Bür­ger habe sich wil­lig fin­den las­sen, äu­ßer­lich Va­ter­stel­le zu ver­tre­ten, die hat­ten die Un­ver­schämt­heit, al­ler­lei Ar­gu­men­te vor­zu­brin­gen, z. B. dass un­ser Ver­mö­gen bloß von der Groß­mut­ter her­rüh­re, dass die üb­ri­gen Sei­ten­ver­wand­ten, die sich in Fried­berg oder sonst auf­hiel­ten, gleich­falls ohne Ver­mö­gen sei­en, und was noch an­de­re sol­che Grün­de wa­ren, die ihr Ge­wicht bloß von der Bos­heit her­neh­men konn­ten. Ich hör­te ih­nen ru­hi­ger zu, als sie er­war­te­ten, denn sie stan­den schon auf dem Sprung, zu ent­flie­hen, wenn ich Mie­ne mach­te, nach ih­ren Haa­ren zu grei­fen. Aber ich ver­setz­te ganz ge­las­sen: auch die­ses kön­ne mir recht sein. Das Le­ben sei so hübsch, dass man völ­lig für gleich­gül­tig ach­ten kön­ne, wem man es zu ver­dan­ken habe: denn es schrie­be sich doch zu­letzt von Gott her, vor wel­chem wir alle gleich wä­ren. So lie­ßen sie, da sie nichts aus­rich­ten konn­ten, die Sa­che für dies­mal gut sein; man spiel­te zu­sam­men wei­ter fort, wel­ches un­ter Kin­dern im­mer ein er­prob­tes Ver­söh­nungs­mit­tel bleibt.

Mir war je­doch durch die hä­mi­schen Wor­te eine Art von sitt­li­cher Krank­heit ein­ge­impft, die im Stil­len fort­sch­lich. Es woll­te mir gar nicht miss­fal­len, der En­kel ir­gend ei­nes vor­neh­men Herrn zu sein, wenn es auch nicht auf die ge­setz­lichs­te Wei­se ge­we­sen wäre. Mei­ne Spür­kraft ging auf die­ser Fähr­te, mei­ne Ein­bil­dungs­kraft war an­ge­regt und mein Scharf­sinn auf­ge­for­dert. Ich fing nun an, die An­ga­ben je­ner zu un­ter­su­chen, fand und er­fand neue Grün­de der Wahr­schein­lich­keit. Ich hat­te von mei­nem Groß­va­ter we­nig re­den hö­ren, au­ßer dass sein Bild­nis mit dem mei­ner Groß­mut­ter in ei­nem Be­such­zim­mer des al­ten Hau­ses ge­han­gen hat­te, wel­che bei­de, nach Er­bau­ung des neu­en in ei­ner obe­ren Kam­mer auf­be­wahrt wur­den. Mei­ne Groß­mut­ter muss­te eine sehr schö­ne Frau ge­we­sen sein und von glei­chem Al­ter mit ih­rem Man­ne. Auch er­in­ner­te ich mich, in ih­rem Zim­mer das Mi­nia­tur­bild ei­nes schö­nen Herrn, in Uni­form mit Stern und Or­den, ge­se­hen zu ha­ben, wel­ches nach ih­rem Tode mit vie­len an­de­ren klei­nen Gerät­schaf­ten, wäh­rend des al­les um­wäl­zen­den Haus­bau­es ver­schwun­den war. Sol­che wie man­che an­de­re Din­ge bau­te ich mir in mei­nem kin­di­schen Kop­fe zu­sam­men und übte früh­zei­tig ge­nug je­nes mo­der­ne Dich­ter­ta­lent, wel­ches durch eine aben­teu­er­li­che Ver­knüp­fung der be­deu­ten­den Zu­stän­de des mensch­li­chen Le­bens sich die Teil­nah­me der gan­zen kul­ti­vier­ten Welt zu ver­schaf­fen weiß.

Da ich nun aber einen sol­chen Fall nie­man­den zu ver­trau­en, oder auch nur von fer­ne nach­zu­fra­gen mich un­ter­stand, so ließ ich es an ei­ner heim­li­chen Be­trieb­sam­keit nicht feh­len, um wo mög­lich der Sa­che et­was nä­her zu kom­men. Ich hat­te näm­lich ganz be­stimmt be­haup­ten hö­ren, dass die Söh­ne den Vä­tern oder Groß­vä­tern oft ent­schie­den ähn­lich zu sein pfleg­ten. Meh­re­re un­se­rer Freun­de, be­son­ders auch Rat Schnei­der, un­ser Haus­freund, hat­ten Ge­schäfts­ver­bin­dun­gen mit al­len Fürs­ten und Her­ren der Nach­bar­schaft, de­ren, so­wohl re­gie­ren­der als nach­ge­bor­ner, kei­ne ge­rin­ge An­zahl am Rhein und Main und in dem Rau­me zwi­schen bei­den ihre Be­sit­zun­gen hat­ten, und die aus be­son­de­rer Gunst ihre treu­en Ge­schäfts­trä­ger zu­wei­len wohl mit ih­ren Bild­nis­sen beehr­ten. Die­se, die ich von Ju­gend auf viel­mals an den Wän­den ge­se­hen, be­trach­te­te ich nun­mehr mit dop­pel­ter Auf­merk­sam­keit, for­schend, ob ich nicht eine Ähn­lich­keit mit mei­nem Va­ter, oder gar mit mir ent­de­cken könn­te; wel­ches aber zu oft ge­lang, als dass es mich zu ei­ni­ger Ge­wiss­heit hät­te füh­ren kön­nen. Denn bald wa­ren es die Au­gen von die­sem, bald die Nase von je­nem, die mir auf ei­ni­ge Ver­wandt­schaft zu deu­ten schie­nen. So führ­ten mich die­se Kenn­zei­chen trüg­lich ge­nug hin und wi­der. Und ob ich gleich in der Fol­ge die­sen Vor­wurf als ein durch­aus lee­res Mär­chen be­trach­ten muss­te, so blieb mir doch der Ein­druck, und ich konn­te nicht un­ter­las­sen, die sämt­li­chen Her­ren, de­ren Bild­nis­se mir sehr deut­lich in der Fan­ta­sie ge­blie­ben wa­ren, von Zeit zu Zeit im Stil­len bei mir zu mus­tern und zu prü­fen. So wahr ist es, dass al­les, was den Men­schen in­ner­lich in sei­nem Dün­kel be­stärkt, sei­ner heim­li­chen Ei­tel­keit schmei­chelt, ihm der­ge­stalt höch­lich er­wünscht ist, dass er nicht wei­ter fragt, ob es ihm sonst auf ir­gend eine Wei­se zur Ehre oder zur Schmach ge­rei­chen kön­ne.

Doch an­statt hier ernst­haf­te, ja rü­gen­de Be­trach­tun­gen ein­zu­mi­schen, wen­de ich lie­ber mei­nen Blick von je­nen schö­nen Zei­ten hin­weg: denn wer wäre im stan­de, von der Fül­le der Kind­heit wür­dig zu spre­chen! Wir kön­nen die klei­nen Ge­schöp­fe, die vor uns her­um­wan­deln, nicht an­ders als mit Ver­gnü­gen, ja mit Be­wun­de­rung an­se­hen: denn meist ver­spre­chen sie mehr, als sie hal­ten, und es scheint, als wenn die Na­tur un­ter an­de­ren schel­mi­schen Strei­chen, die sie uns spielt, auch hier sich ganz be­son­ders vor­ge­setzt, uns zum Bes­ten zu ha­ben. Die ers­ten Or­ga­ne, die sie Kin­dern mit auf die Welt gibt, sind dem nächs­ten un­mit­tel­ba­ren Zu­stan­de des Ge­schöpfs ge­mäß; es be­dient sich der­sel­ben kunst- und an­spruchs­los, auf die ge­schick­tes­te Wei­se zu den nächs­ten Zwe­cken. Das Kind, an und für sich be­trach­tet, mit sei­nes­glei­chen und in Be­zie­hun­gen, die sei­nen Kräf­ten an­ge­mes­sen sind, scheint so ver­stän­dig, so ver­nünf­tig, dass nichts drü­ber geht, und zu­gleich so be­quem, hei­ter und ge­wandt, dass man kei­ne weitre Bil­dung für das­sel­be wün­schen möch­te. Wüch­sen die Kin­der in der Art fort, wie sie sich an­deu­ten, so hät­ten wir lau­ter Ge­nies. Aber das Wachs­tum ist nicht bloß Ent­wick­lung; die ver­schied­nen or­ga­ni­schen Sys­te­me, die den einen Men­schen aus­ma­chen, ent­sprin­gen aus ein­an­der, fol­gen ein­an­der, ver­wan­deln sich in ein­an­der, ver­drän­gen ein­an­der, ja zeh­ren ein­an­der auf, so­dass von man­chen Fä­hig­kei­ten, von man­chen Kraft­äu­ße­run­gen nach ei­ner ge­wis­sen Zeit kaum eine Spur mehr zu fin­den ist. Wenn auch die mensch­li­chen An­la­gen im gan­zen eine ent­schie­de­ne Rich­tung ha­ben, so wird es doch dem größ­ten und er­fah­rens­ten Ken­ner schwer sein, sie mit Zu­ver­läs­sig­keit vor­aus zu ver­kün­den; doch kann man hin­ter­drein wohl be­mer­ken, was auf ein künf­ti­ges hin­ge­deu­tet hat.

Kei­nes­wegs ge­den­ke ich da­her in die­sen ers­ten Bü­chern mei­ne Ju­gend­ge­schich­ten völ­lig ab­zu­schlie­ßen, son­dern ich wer­de viel­mehr noch spä­ter­hin man­chen Fa­den auf­neh­men und fort­lei­ten, der sich un­be­merkt durch die ers­ten Jah­re schon hin­durch­zog. Hier muss ich aber be­mer­ken, wel­chen stär­ke­ren Ein­fluss nach und nach die Kriegs­be­ge­ben­hei­ten auf un­se­re Ge­sin­nun­gen und uns­re Le­bens­wei­se aus­üb­ten.

Der ru­hi­ge Bür­ger steht zu den großen Wel­ter­eig­nis­sen in ei­nem wun­der­ba­ren Ver­hält­nis. Schon aus der Fer­ne re­gen sie ihn auf und be­un­ru­hi­gen ihn, und er kann sich, selbst wenn sie ihn nicht be­rüh­ren, ei­nes Ur­teils, ei­ner Teil­nah­me nicht ent­hal­ten. Schnell er­greift er eine Par­tei, nach­dem ihn sein Cha­rak­ter oder äu­ße­re An­läs­se be­stim­men. Rücken so große Schick­sa­le, so be­deu­ten­de Ver­än­de­run­gen nä­her, dann bleibt ihm bei man­chen äu­ßern Un­be­quem­lich­kei­ten noch im­mer je­nes in­n­re Miss­be­ha­gen, ver­dop­pelt und schärft das Übel meis­ten­teils und zer­stört das noch mög­li­che Gute. Dann hat er von Freun­den und Fein­den wirk­lich zu lei­den, oft mehr von je­nen als von die­sen, und er weiß we­der, wie er sei­ne Nei­gung noch wie er sei­nen Vor­teil wah­ren und er­hal­ten soll.

Das Jahr 1757, das wir noch in völ­lig bür­ger­li­cher Ruhe ver­brach­ten, wur­de dem un­ge­ach­tet in großer Ge­müts­be­we­gung ver­lebt. Rei­cher an Be­ge­ben­hei­ten als die­ses war viel­leicht kein an­de­res. Die Sie­ge, die Groß­ta­ten, die Un­glücks­fäl­le, die Wie­der­her­stel­lun­gen folg­ten auf ein­an­der, ver­schlan­gen sich und schie­nen sich auf­zu­he­ben; im­mer aber schweb­te die Ge­stalt Fried­richs, sein Name, sein Ruhm in kur­z­em wie­der oben. Der En­thu­si­as­mus sei­ner Ver­eh­rer ward im­mer grö­ßer und be­leb­ter, der Hass sei­ner Fein­de bit­te­rer, und die Ver­schie­den­heit der An­sich­ten, wel­che selbst Fa­mi­li­en zer­spal­te­te, trug nicht we­nig dazu bei, die oh­ne­hin schon auf man­cher­lei Wei­se von­ein­an­der ge­trenn­ten Bür­ger noch mehr zu iso­lie­ren. Denn in ei­ner Stadt wie Frank­furt, wo drei Re­li­gio­nen die Ein­woh­ner in drei un­glei­che Mas­sen tei­len, wo nur we­ni­ge Män­ner, selbst von der herr­schen­den, zum Re­gi­ment ge­lan­gen kön­nen, muss es gar man­chen Wohl­ha­ben­den und Un­ter­rich­te­ten ge­ben, der sich auf sich zu­rück­zieht und durch Stu­di­en und Lieb­ha­be­rei­en sich eine eig­ne und ab­ge­schlos­se­ne Exis­tenz bil­det. Von sol­chen wird ge­gen­wär­tig und auch künf­tig die Rede sein müs­sen, wenn man sich die Ei­gen­hei­ten ei­nes Frank­fur­ter Bür­gers aus je­ner Zeit ver­ge­gen­wär­ti­gen soll.

Mein Va­ter hat­te, so­bald er von Rei­sen zu­rück­ge­kom­men, nach sei­ner ei­ge­nen Sin­nes­art den Ge­dan­ken ge­fasst, dass er, um sich zum Diens­te der Stadt fä­hig zu ma­chen, eins der sub­al­ter­nen Äm­ter über­neh­me und sol­ches ohne Emo­lu­men­te füh­ren wol­le, wenn man es ihm ohne Bal­lo­ta­ge über­ge­be. Er glaub­te nach sei­ner Sin­nes­art, nach dem Be­grif­fe, den er von sich selbst hat­te, im Ge­fühl sei­nes gu­ten Wil­lens, eine sol­che Aus­zeich­nung zu ver­die­nen, die frei­lich we­der ge­setz­lich noch her­kömm­lich war. Da­her, als ihm sein Ge­such ab­ge­schla­gen wur­de, ge­riet er in Är­ger und Miss­mut, ver­schwur, je­mals ir­gend­ei­ne Stel­le an­zu­neh­men, und um es un­mög­lich zu ma­chen, ver­schaff­te er sich den Cha­rak­ter ei­nes kai­ser­li­chen Ra­tes, den der Schult­heiß und die äl­tes­ten Schöf­fen als be­son­dern Ehren­ti­tel tra­gen. Da­durch hat­te er sich zum Glei­chen der Obers­ten ge­macht und konn­te nicht mehr von un­ten an­fan­gen. Der­sel­be Be­weg­grund führ­te ihn auch dazu, um die äl­tes­te Toch­ter des Schult­hei­ßen zu wer­ben, wo­durch er auch auf die­ser Sei­te vom Rate aus­ge­schlos­sen ward. Er ge­hör­te nun zu den Zu­rück­ge­zo­ge­nen, wel­che nie­mals un­ter sich eine So­zie­tät ma­chen. Sie ste­hen so iso­liert ge­gen­ein­an­der wie ge­gen das Gan­ze, und umso mehr, als sich in die­ser Ab­ge­schie­den­heit das Ei­gen­tüm­li­che der Cha­rak­tere im­mer schrof­fer aus­bil­det. Mein Va­ter moch­te sich auf Rei­sen und in der frei­en Welt, die er ge­se­hen, von ei­ner ele­gan­tern und li­be­ra­lern Le­bens­wei­se eine Be­griff ge­macht ha­ben, als sie viel­leicht un­ter sei­nen Mit­bür­gern üb­lich war. Zwar fand er dar­in Vor­gän­ger und Ge­sel­len.

Der Name von Uf­fen­bach ist be­kannt. Ein Schöff von Uf­fen­bach leb­te da­mals in gu­tem An­se­hen. Er war in Ita­li­en ge­we­sen, hat­te sich be­son­ders auf Mu­sil ge­legt, sang einen an­ge­neh­men Te­nor, und da er eine schö­ne Samm­lung von Mu­si­ka­li­en mit­ge­bracht hat­te, wur­den Kon­zer­te und Ora­to­ri­en bei ihm auf­ge­führt. Weil er nun da­bei selbst sang und die Mu­si­ker be­güns­tig­te, so fand man es nicht ganz sei­ner Wür­de ge­mäß, und die ein­ge­la­de­nen Gäs­te so­wohl als die üb­ri­gen Lands­leu­te er­laub­ten sich dar­über man­che lus­ti­ge An­mer­kung.

Fer­ner er­in­ne­re ich mich ei­nes Barons von Hä­kel, ei­nes rei­chen Edel­manns, der, ver­hei­ra­tet aber kin­der­los, ein schö­nes Haus in der An­to­ni­us­gas­se be­wohn­te, mit al­lem Zu­be­hör ei­nes an­stän­di­gen Le­bens aus­ge­stat­tet. Auch be­saß er gute Ge­mäl­de, Kup­fer­sti­che, An­ti­ken und man­ches an­de­re, wie es bei Samm­lern und Lieb­ha­bern zu­sam­men­fließt. Von Zeit zu Zeit lud er die Ho­no­ra­tio­ren zum Mit­ta­ges­sen und war auf eine eig­ne acht­sa­me Wei­se wohl­tä­tig, in­dem er in sei­nem Hau­se die Ar­men klei­de­te, ihre al­ten Lum­pen aber zu­rück­be­hielt und ih­nen nur un­ter der Be­din­gung ein wö­chent­li­ches Al­mo­sen reich­te, dass sie in je­nen ge­schenk­ten Klei­dern sich ihm je­des Mal sau­ber und or­dent­lich vor­stell­ten. Ich er­in­ne­re mich sei­ner nur dun­kel als ei­nes freund­li­chen, wohl­ge­bil­de­ten Man­nes; de­sto deut­li­cher aber sei­ner Auk­ti­on, der ich vom An­fang bis zu Ende bei­wohn­te und teils auf Be­fehl mei­nes Va­ters, teils aus ei­ge­nem An­trieb man­ches er­stand, was sich noch un­ter mei­nen Samm­lun­gen be­fin­det.

Frü­her, und von mir kaum noch mit Au­gen ge­se­hen, mach­te Jo­hann Mi­cha­el von Loen in der li­te­ra­ri­schen Welt so wie in Frank­furt ziem­li­ches Auf­se­hen. Nicht von Frank­furt ge­bür­tig, hat­te er sich da­selbst nie­der­ge­las­sen und war mit der Schwes­ter mei­ner Groß­mut­ter Tex­tor, ei­ner ge­bor­nen Lind­hei­mer, ver­hei­ra­tet. Be­kannt mit der Hof- und Staats­welt und ei­nes er­neu­ten Adels sich er­freu­end, er­lang­te er da­durch einen Na­men, dass er in die ver­schie­de­nen Re­gun­gen, wel­che in Kir­che und Staat zum Vor­schein ka­men, ein­zu­grei­fen den Mut hat­te. Er schrieb den »Gra­fen von Ri­ve­ra«, einen di­dak­ti­schen Ro­man, des­sen In­halt aus dem zwei­ten Ti­tel »oder der ehr­li­che Mann am Hofe« er­sicht­lich ist. Die­ses Werk wur­de gut auf­ge­nom­men, weil es auch von den Hö­fen, wo sonst nur Klug­heit zu Hau­se ist, Sitt­lich­keit ver­lang­te; und so brach­te ihm sei­ne Ar­beit Bei­fall und An­se­hen. Ein zwei­tes Werk soll­te da­ge­gen de­sto ge­fähr­li­cher für ihn wer­den. Er schrieb »Die ein­zi­ge wah­re Re­li­gi­on«, ein Buch, das die Ab­sicht hat­te, To­le­ranz, be­son­ders zwi­schen Luthe­r­a­nern und Cal­vi­nis­ten, zu be­för­dern. Hier­über kam er mit den Theo­lo­gen in Streit; be­son­ders schrieb Dr. Ben­ner in Gie­ßen ge­gen ihn. Von Loen er­wi­der­te; der Streit wur­de hef­tig und per­sön­lich, und die dar­aus ent­sprin­gen­den Unan­nehm­lich­kei­ten ver­an­lag­ten den Ver­fas­ser, die Stel­le ei­nes Prä­si­den­ten zu Lin­gen an­zu­neh­men, die ihm Fried­rich der Zwei­te an­bot, der in ihm einen auf­ge­gär­ten und den Neue­run­gen, die in Frank­reich schon viel wei­ter ge­die­hen wa­ren, nicht ab­ge­neig­ten vor­ur­teils­frei­en Mann zu er­ken­nen glaub­te. Sei­ne ehe­ma­li­gen Lands­leu­te, die er mit ei­ni­gem Ver­druss ver­las­sen, be­haup­te­ten, dass er dort nicht zu­frie­den sei, ja nicht zu­frie­den sein kön­ne, weil sich ein Ort wie Lin­gen mit Frank­furt kei­nes­wegs mes­sen dür­fe. Mein Va­ter zwei­fel­te auch an dem Be­ha­gen des Prä­si­den­ten und ver­si­cher­te, der gute Oheim hät­te bes­ser ge­tan, sich mit dem Kö­ni­ge nicht ein­zu­las­sen, weil es über­haupt ge­fähr­lich sei, sich dem­sel­ben zu nä­hern, so ein au­ßer­or­dent­li­cher Herr er auch üb­ri­gens sein möge. Denn man habe ja ge­se­hen, wie schmäh­lich der be­rühm­te Vol­taire, auf Re­qui­si­ti­on des preu­ßi­schen Re­si­den­ten Frei­tag, in Frank­furt sei ver­haf­tet wor­den, da er doch vor­her so hoch in Guns­ten ge­stan­den und als des Kö­nigs Lehr­meis­ter in der fran­zö­si­schen Poe­sie an­zu­se­hen ge­we­sen. Es man­gel­te bei sol­chen Ge­le­gen­hei­ten nicht an Be­trach­tun­gen und Bei­spie­len, um vor Hö­fen und Her­ren­dienst zu war­nen, wo­von sich über­haupt ein ge­bor­ner Frank­fur­ter kaum einen Be­griff ma­chen konn­te.

Ei­nes vor­treff­li­chen Man­nes, Dok­tor Orth, will ich hier nur dem Na­men nach ge­den­ken, in­dem ich ver­dien­ten Frank­fur­tern hier nicht so­wohl ein Denk­mal zu er­rich­ten habe, viel­mehr der­sel­ben nur in­so­fern er­wäh­ne, als ihr Ruf oder ihre Per­sön­lich­keit auf mich in den frühs­ten Jah­ren ei­ni­gen Ein­fluss ge­habt. Dok­tor Orth war ein rei­cher Mann und ge­hör­te auch un­ter die, wel­che nie­mals teil am Re­gi­men­te ge­nom­men, ob ihn gleich sei­ne Kennt­nis­se und Ein­sich­ten wohl dazu be­rech­tigt hät­ten. Die deut­schen und be­son­ders die Frank­fur­ti­schen Al­ter­tü­mer sind ihm sehr viel schul­dig ge­wor­den; er gab die »An­mer­kun­gen« zu der so­ge­nann­ten »Frank­fur­ter Re­for­ma­ti­on« her­aus, ein Werk, in wel­chem die Sta­tu­ten der Reichs­stadt ge­sam­melt sind. Die his­to­ri­schen Ka­pi­tel des­sel­ben habe ich in mei­nen Jüng­lings­jah­ren flei­ßig stu­diert.

Von Och­sen­stein, der äl­te­re je­ner drei Brü­der, de­ren ich oben als un­se­rer Nach­barn ge­dacht, war, bei sei­ner ein­ge­zo­ge­nen Art zu sein, wäh­rend sei­nes Le­bens nicht merk­wür­dig ge­wor­den, de­sto merk­wür­di­ger aber nach sei­nem Tode, in­dem er eine Ver­ord­nung hin­ter­ließ, dass er mor­gens früh, ganz im Stil­len und ohne Beglei­tung und Ge­folg, von Hand­werks­leu­ten zu Gra­be ge­bracht sein wol­le. Es ge­sch­ah, und die­se Hand­lung er­reg­te in der Stadt, wo man an prunk­haf­te Lei­chen­be­gäng­nis­se ge­wöhnt war, großes Auf­sehn. Alle die­je­ni­gen, die bei sol­chen Ge­le­gen­hei­ten einen her­kömm­li­chen Ver­dienst hat­ten, er­hu­ben sich ge­gen die Neue­rung. Al­lein der wack­re Pa­tri­zi­er fand Nach­fol­ger in al­len Stän­den, und ob man schon der­glei­chen Be­gäng­nis­se spott­wei­se Och­sen­lei­chen nann­te, so nah­men sie doch zum Bes­ten man­cher we­nig be­mit­tel­ten Fa­mi­li­en über­hand, und die Prunk­be­gäng­nis­se ver­lo­ren sich im­mer mehr. Ich füh­re die­sen Um­stand an, weil er eins der frü­hern Sym­pto­me je­ner Ge­sin­nun­gen von De­mut und Gleich­stel­lung dar­bie­tet, die sich in der zwei­ten Hälf­te des vo­ri­gen Jahr­hun­derts von oben her­ein auf so man­che Wei­se ge­zeigt ha­ben und in so un­er­war­te­te Wir­kun­gen aus­ge­schla­gen sind.

Auch fehl­te es nicht an Lieb­ha­bern des Al­ter­tums. Es fan­den sich Ge­mäl­de­ka­bi­net­te, Kup­fer­stich­samm­lun­gen, be­son­ders aber wur­den va­ter­län­di­sche Merk­wür­dig­kei­ten mit Ei­fer ge­sucht und auf­ge­ho­ben. Die äl­te­ren Ver­ord­nun­gen und Man­da­te der Reichs­stadt, von de­nen kei­ne Samm­lung ver­an­stal­tet war, wur­den in Druck und Schrift sorg­fäl­tig auf­ge­sucht, nach der Zeit­fol­ge ge­ord­net und als ein Schatz va­ter­län­di­scher Rech­te und Her­kom­men mit Ehr­furcht ver­wahrt. Auch die Bild­nis­se von Frank­fur­tern, die in großer An­zahl exis­tier­ten, wur­den zu­sam­men­ge­bracht und mach­ten eine be­sond­re Ab­tei­lung der Ka­bi­net­te.

Sol­che Män­ner scheint mein Va­ter sich über­haupt zum Mus­ter ge­nom­men zu ha­ben. Ihm fehl­te kei­ne der Ei­gen­schaf­ten, die zu ei­nem recht­li­chen und an­ge­seh­nen Bür­ger ge­hö­ren. Auch brach­te er, nach­dem er sein Haus er­baut, sei­ne Be­sit­zun­gen von je­der Art in Ord­nung. Eine vor­treff­li­che Land­kar­ten­samm­lung der Schen­ki­schen und an­de­rer da­mals vor­züg­li­cher geo­gra­fi­schen Blät­ter, jene ober­wähn­ten Ver­ord­nun­gen und Man­da­te, jene Bild­nis­se, ein Schrank al­ter Ge­weh­re, ein Schrank merk­wür­di­ger ve­ne­zia­ni­scher Glä­ser, Be­cher und Po­ka­le, Na­tu­ra­li­en, El­fen­bein­ar­bei­ten, Bron­zen und hun­dert an­de­re Din­ge wur­den ge­son­dert und auf­ge­stellt, und ich ver­fehl­te nicht, bei vor­fal­len­den Auk­tio­nen mir je­der­zeit ei­ni­ge Auf­trä­ge zu Ver­meh­rung des Vor­han­de­nen zu er­bit­ten.

Noch ei­ner be­deu­ten­den Fa­mi­lie muss ich ge­den­ken, von der ich seit mei­ner frühs­ten Ju­gend viel Son­der­ba­res ver­nahm und von ei­ni­gen ih­rer Glie­der selbst noch man­ches Wun­der­ba­re er­leb­te; es war die Sen­cken­ber­gi­sche. Der Va­ter, von dem ich we­nig zu sa­gen weiß, war ein wohl­ha­ben­der Mann. Er hat­te drei Söh­ne, die sich in ih­rer Ju­gend schon durch­gän­gig als Son­der­lin­ge aus­zeich­ne­ten. Der­glei­chen wird in ei­ner be­schränk­ten Stadt, wo sich nie­mand we­der im Gu­ten noch im Bö­sen her­vor­tun soll, nicht zum Bes­ten auf­ge­nom­men. Spott­na­men und selt­sa­me, sich lang’ im Ge­dächt­nis er­hal­ten­de Mär­chen sind meis­tens die Frucht ei­ner sol­chen Son­der­bar­keit. Der Va­ter wohn­te an der Ecke der Ha­sen­gas­se, die von dem Zei­chen des Hau­ses, das einen, wo nicht gar drei Ha­sen vor­stellt, den Na­men führ­te. Man nann­te da­her die­se drei Brü­der nur die drei Ha­sen, wel­chen Spitz­na­men sie lan­ge Zeit nicht los­wur­den. Al­lein, wie große Vor­zü­ge sich oft in der Ju­gend durch et­was Wun­der­li­ches und An­schick­li­ches an­kün­di­gen, so ge­sch­ah es auch hier. Der äl­tes­te war der nach­her so rühm­lich be­kann­te Reichs­ho­frat von Sen­cken­berg. Der zwei­te ward in den Ma­gis­trat auf­ge­nom­men und zeig­te vor­züg­li­che Ta­len­te, die er aber auf eine ra­bu­lis­ti­sche, ja ver­ruch­te Wei­se, wo nicht zum Scha­den sei­ner Va­ter­stadt, doch we­nigs­tens sei­ner Kol­le­gen in der Fol­ge miss­brauch­te. Der drit­te Bru­der, ein Arzt und ein Mann von großer Recht­schaf­fen­heit, der aber we­nig und nur in vor­neh­men Häu­sern prak­ti­zier­te, be­hielt bis in sein höchs­tes Al­ter im­mer ein et­was wun­der­li­ches Äu­ße­re. Er war im­mer sehr nett ge­klei­det, und man sah ihn nie an­ders auf der Stra­ße als in Schuh und St­rümp­fen und ei­ner wohl­ge­pu­der­ten Lo­cken­pe­rücke, den Hut un­term Arm. Er ging schnell, doch mit ei­nem selt­sa­men Schwan­ken vor sich hin, so­dass er bald auf die­ser, bald auf je­ner Sei­te der Stra­ße sich be­fand und im Ge­hen ein Zick­zack bil­de­te. Spott­vö­gel sag­ten: er su­che durch die­sen ab­wei­chen­den Schritt den ab­ge­schie­de­nen See­len aus dem Wege zu ge­hen, die ihn in gra­der Li­nie wohl ver­fol­gen möch­ten, und ahme die­je­ni­gen nach, die sich vor ei­nem Kro­ko­dil fürch­ten. Doch al­ler die­ser Scherz und man­che lus­ti­ge Nach­re­de ver­wan­del­te sich zu­letzt in Ehr­furcht ge­gen ihn, als er sei­ne an­sehn­li­che Woh­nung mit Hof, Gar­ten und al­lem Zu­be­hör, auf der Eschen­hei­mer­gas­se, zu ei­ner me­di­zi­ni­schen Stif­tung wid­me­te, wo ne­ben der An­la­ge ei­nes bloß für Frank­fur­ter Bür­ger be­stimm­ten Ho­spi­tals ein bo­ta­ni­scher Gar­ten, ein ana­to­mi­sches Thea­ter, ein che­mi­sches La­bo­ra­to­ri­um, eine an­sehn­li­che Biblio­thek und eine Woh­nung für den Di­rek­tor ein­ge­rich­tet ward, auf eine Wei­se, de­ren kei­ne Aka­de­mie sich hät­te schä­men dür­fen.

Ein an­de­rer vor­züg­li­cher Mann, des­sen Per­sön­lich­keit nicht so­wohl als sei­ne Wir­kung in der Nach­bar­schaft und sei­ne Schrif­ten einen sehr be­deu­ten­den Ein­fluss auf mich ge­habt ha­ben, war Karl Fried­rich von Mo­ser, der sei­ner Ge­schäftstä­tig­keit we­gen in un­se­rer Ge­gend im­mer ge­nannt wur­de. Auch er hat­te einen gründ­lich-sitt­li­chen Cha­rak­ter, der, weil die Ge­bre­chen der mensch­li­chen Na­tur ihm wohl manch­mal zu schaf­fen mach­ten, ihn so­gar zu den so­ge­nann­ten From­men hin­zog; und so woll­te er, wie von Loen das Hofle­ben, eben so das Ge­schäfts­le­ben ei­ner ge­wis­sen­haf­te­ren Be­hand­lung ent­ge­gen­füh­ren. Die große An­zahl der klei­nen deut­schen Höfe stell­te eine Men­ge von Her­ren und Die­nern dar, wo­von die ers­ten un­be­ding­ten Ge­hor­sam ver­lang­ten und die an­de­ren meis­ten­teils nur nach ih­ren Über­zeu­gun­gen wir­ken und die­nen woll­ten. Es ent­stand da­her ein ewi­ger Kon­flikt und schnel­le Ver­än­de­run­gen und Ex­plo­sio­nen, weil die Wir­kun­gen des un­be­ding­ten Han­delns im klei­nen viel ge­schwin­der merk­lich und schäd­lich wer­den als im großen. Vie­le Häu­ser wa­ren ver­schul­det, und kai­ser­li­che De­bit­kom­mis­sio­nen er­nannt; an­de­re fan­den sich lang­sa­mer oder ge­schwin­der auf dem­sel­ben Wege, wo­bei die Die­ner ent­we­der ge­wis­sen­los Vor­teil zo­gen, oder ge­wis­sen­haft sich un­an­ge­nehm und ver­hasst mach­ten. Mo­ser woll­te als Staats- und Ge­schäfts­mann wir­ken, und hier gab sein er­erb­tes, bis zum Me­tier aus­ge­bil­de­tes Ta­lent ihm eine ent­schie­de­ne Aus­beu­te; aber er woll­te auch zu­gleich als Mensch und Bür­ger han­deln und sei­ner sitt­li­chen Wür­de so we­nig als mög­lich ver­ge­ben. Sein »Herr und Die­ner«, sein »Da­niel in der Lö­wen­gru­be«, sei­ne »Re­li­qui­en« schil­dern durch­aus die Lage, in wel­cher er sich zwar nicht ge­fol­tert, aber doch im­mer ge­klemmt fühl­te. Sie deu­ten sämt­lich auf eine Un­ge­duld in ei­nem Zu­stand, mit des­sen Ver­hält­nis­sen man sich nicht ver­söh­nen und den man doch nicht los­wer­den kann. Bei die­ser Art, zu den­ken und zu emp­fin­den, muss­te er frei­lich mehr­mals an­de­re Diens­te su­chen, an wel­chen es ihm sei­ne große Ge­wandt­heit nicht feh­len ließ. Ich er­in­ne­re mich sei­ner als ei­nes an­ge­neh­men, be­weg­li­chen und da­bei zar­ten Man­nes.

Aus der Fer­ne mach­te je­doch der Name Klop­stock auch schon auf uns eine große Wir­kung. Im An­fang wun­der­te man sich, wie ein so vor­treff­li­cher Mann so wun­der­lich hei­ßen kön­ne; doch ge­wöhn­te man sich bald dar­an und dach­te nicht mehr an die Be­deu­tung die­ser Sil­ben. In mei­nes Va­ters Biblio­thek hat­te ich bis­her nur die frü­he­ren, be­son­ders die zu sei­ner Zeit nach und nach her­auf­ge­kom­me­nen und ge­rühm­ten Dich­ter ge­fun­den. Alle die­se hat­ten ge­reimt, und mein Va­ter hielt den Reim für poe­ti­sche Wer­ke un­er­läss­lich. Ca­nitz, Ha­ge­dorn, Drol­lin­ger, Gel­lert, Creuz, Hal­ler stan­den in schö­nen Franz­bän­den in ei­ner Rei­he. An die­se schlos­sen sich Neu­kirchs »Te­le­mach«, Kop­pens »be­frei­tes Je­ru­sa­lem« und an­de­re Über­set­zun­gen. Ich hat­te die­se sämt­li­chen Bän­de von Kind­heit auf flei­ßig durch­ge­le­sen und teil­wei­se me­mo­riert, wes­halb ich denn zur Un­ter­hal­tung der Ge­sell­schaft öf­ters auf­ge­ru­fen wur­de. Eine ver­drieß­li­che Epo­che im Ge­gen­teil er­öff­ne­te sich für mei­nen Va­ter, als durch Klop­stocks »Mes­si­as« Ver­se, die ihm kei­ne Ver­se schie­nen, ein Ge­gen­stand der öf­fent­li­chen Be­wun­de­rung wur­den. Er selbst hat­te sich wohl ge­hü­tet, die­ses Werk an­zu­schaf­fen; aber un­ser Haus­freund, Rat Schnei­der, schwärz­te es ein und steck­te es der Mut­ter und den Kin­dern zu.

Auf die­sen ge­schäftstä­ti­gen Mann, wel­cher we­nig las, hat­te der »Mes­si­as« gleich bei sei­ner Er­schei­nung einen mäch­ti­gen Ein­druck ge­macht. Die­se so na­tür­lich aus­ge­drück­ten und doch so schön ver­edel­ten from­men Ge­füh­le, die­se ge­fäl­li­ge Spra­che, wenn man sie auch nur für har­mo­ni­sche Pro­sa gel­ten ließ, hat­ten den üb­ri­gens trock­nen Ge­schäfts­mann so ge­won­nen, dass er die zehn ers­ten Ge­sän­ge, denn von die­sen ist ei­gent­lich die Rede, als das herr­lichs­te Er­bau­ungs­buch be­trach­te­te und sol­ches alle Jah­re ein­mal in der Kar­wo­che, in wel­cher er sich von al­len Ge­schäf­ten zu ent­bin­den wuss­te, für sich im Stil­len durch­las und sich dar­an fürs gan­ze Jahr er­quick­te. An­fangs dach­te er sei­ne Emp­fin­dun­gen sei­nem al­ten Freun­de mit­zu­tei­len; al­lein er fand sich sehr be­stürzt, als er eine un­heil­ba­re Ab­nei­gung vor ei­nem Wer­ke von so köst­li­chem Ge­halt, we­gen ei­ner, wie es ihm schi­en, gleich­gül­ti­gen äu­ßern Form, ge­wahr wer­den muss­te. Es fehl­te, wie sich leicht den­ken lässt, nicht an Wie­der­ho­lung des Ge­sprächs über die­sen Ge­gen­stand; aber bei­de Tei­le ent­fern­ten sich im­mer wei­ter von­ein­an­der, es gab hef­ti­ge Sze­nen, und der nach­gie­bi­ge Mann ließ sich end­lich ge­fal­len, von sei­nem Lieb­lings­wer­ke zu schwei­gen, da­mit er nicht zu­gleich einen Ju­gend­freund und eine gute Sonn­tags­sup­pe ver­lö­re.

Pro­se­ly­ten zu ma­chen, ist der na­tür­lichs­te Wunsch ei­nes je­den Men­schen, und wie sehr fand sich un­ser Freund im Stil­len be­lohnt, als er in der üb­ri­gen Fa­mi­lie für sei­nen Hei­li­gen so of­fen ge­sinn­te Ge­mü­ter ent­deck­te. Das Exem­plar, das er jähr­lich nur eine Wo­che brauch­te, war uns für die üb­ri­ge Zeit ge­wid­met. Die Mut­ter hielt es heim­lich, und wir Ge­schwis­ter be­mäch­tig­ten uns des­sel­ben, wann wir konn­ten, um in Frei­stun­den, in ir­gend ei­nem Win­kel ver­bor­gen, die auf­fallends­ten Stel­len aus­wen­dig zu ler­nen und be­son­ders die zar­tes­ten und hef­tigs­ten so ge­schwind als mög­lich ins Ge­dächt­nis zu fas­sen.

Por­ti­as Traum re­zi­tier­ten wir um die Wet­te, und in das wil­de ver­zwei­feln­de Ge­spräch zwi­schen Sa­tan und Adra­me­lech, wel­che ins Tote Meer ge­stürzt wor­den, hat­ten wir uns ge­teilt. Die ers­te Rol­le, als die ge­walt­sams­te, war auf mein Teil ge­kom­men, die an­de­re, um ein we­nig kläg­li­cher, über­nahm mei­ne Schwes­ter. Die wech­sel­sei­ti­gen, zwar gräss­li­chen, aber doch wohl­klin­gen­den Ver­wün­schun­gen flos­sen nur so vom Mun­de, und wir er­grif­fen jede Ge­le­gen­heit, uns mit die­sen höl­li­schen Re­dens­ar­ten zu be­grü­ßen.

Es war ein Sams­tags­abend im Win­ter – der Va­ter ließ sich im­mer bei Licht ra­sie­ren, um Sonn­tags früh sich zur Kir­che be­quem­lich an­zie­hen zu kön­nen – wir sa­ßen auf ei­nem Sche­mel hin­ter dem Ofen und mur­mel­ten, wäh­rend der Bar­bier ein­seif­te, un­se­re her­kömm­li­chen Flü­che ziem­lich lei­se. Nun hat­te aber Adra­me­lech den Sa­tan mit ei­ser­nen Hän­den zu fas­sen, mei­ne Schwes­ter pack­te mich ge­wal­tig an und re­zi­tier­te, zwar lei­se ge­nug, aber doch mit stei­gen­der Lei­den­schaft:

Hilf mir! ich fle­he dich an, ich bete, wenn du es for­derst,

Un­ge­heu­er, dich an!… Ver­worf­ner, schwar­zer Ver­bre­cher,

Hilf mir! ich lei­de die Pein des rä­chen­den ewi­gen To­des!

Vor­mals konnt’ ich mit heißem, mit grim­mi­gem Has­se dich has­sen!


Jetzt ver­mag ich’s nicht mehr! Auch dies ist ste­chen­der Jam­mer!

Bis­her war al­les leid­lich ge­gan­gen; aber laut, mit fürch­ter­li­cher Stim­me, rief sie die fol­gen­den Wor­te:

O wie bin ich zer­malmt! …

Der gute Chir­ur­gus er­schrak und goss dem Va­ter das Sei­fen­be­cken in die Brust. Da gab es einen großen Auf­stand, und eine stren­ge Un­ter­su­chung ward ge­hal­ten, be­son­ders in Be­tracht des Un­glücks, das hät­te ent­ste­hen kön­nen, wenn man schon im Ra­sie­ren be­grif­fen ge­we­sen wäre. Um al­len Ver­dacht des Mut­wil­lens von uns ab­zu­leh­nen, be­kann­ten wir uns zu un­sern teuf­li­schen Rol­len, und das Un­glück, das die Hexa­me­ter an­ge­rich­tet hat­ten, war zu of­fen­bar, als dass man sie nicht aufs neue hät­te ver­ru­fen und ver­ban­nen sol­len.

So pfle­gen Kin­der und Volk das Gro­ße, das Er­ha­be­ne in ein Spiel, ja in eine Pos­se zu ver­wan­deln; und wie soll­ten sie auch sonst im stan­de sein, es aus­zu­hal­ten und zu er­tra­gen!

1 Ser­sche (Sar­sche, franz. ser­ge), sei­de­ne, halb­sei­de­ne, kamm­wol­le­ne, fünf- und sie­ben­bin­di­ge At­las­ge­we­be, die haupt­säch­lich zu Da­men­schu­hen, Mö­bel­be­zü­gen be­nutzt wer­den. Leich­te­re wol­le­ne Ser­sche dient als Fut­ter­stoff. <<<

Dichtung und Wahrheit

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