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Erstes Buch

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Am 28s­ten Au­gust 1749, Mit­tags mit dem Glo­cken­schla­ge zwölf, kam ich in Frank­furt am Main auf die Welt. Die Kon­stel­la­ti­on war glück­lich: die Son­ne stand im Zei­chen der Jung­frau und kul­mi­nier­te für den Tag; Ju­pi­ter und Ve­nus blick­ten sie freund­lich an, Mer­kur nicht wi­der­wär­tig, Sa­turn und Mars ver­hiel­ten sich gleich­gül­tig; nur der Mond, der so­eben voll ward, übte die Kraft sei­nes Ge­gen­scheins umso mehr, als zu­gleich sei­ne Pla­ne­ten­stun­de ein­ge­tre­ten war. Er wi­der­setz­te sich da­her mei­ner Ge­burt, die nicht eher er­fol­gen konn­te, als bis die­se Stun­de vor­über­ge­gan­gen.

Die­se gu­ten Aspek­ten, wel­che mir die Astro­lo­gen in der Fol­ge­zeit sehr hoch an­zu­rech­nen wuss­ten, mö­gen wohl Ur­sa­che an mei­ner Er­hal­tung ge­we­sen sein: denn durch Un­ge­schick­lich­keit der Heb­am­me kam ich für tot auf die Welt, und nur durch viel­fa­che Be­mü­hun­gen brach­te man es da­hin, dass ich das Licht er­blick­te. Die­ser Um­stand, wel­cher die Mei­ni­gen in große Not ver­setzt hat­te, ge­reich­te je­doch mei­nen Mit­bür­gern zum Vor­teil, in­dem mein Groß­va­ter, der Schult­heiß Jo­hann Wolf­gang Tex­tor, da­her An­lass nahm, dass ein Ge­burts­hel­fer an­ge­stellt und der Heb­am­men-Un­ter­richt ein­ge­führt oder er­neu­ert wur­de; wel­ches denn man­chem der Nach­ge­bor­nen mag zu gute ge­kom­men sein.

Wenn man sich er­in­nern will, was uns in der frühs­ten Zeit der Ju­gend be­geg­net ist, so kommt man oft in den Fall, das­je­ni­ge, was wir von an­de­ren ge­hört, mit dem zu ver­wech­seln, was wir wirk­lich aus eig­ner an­schau­en­der Er­fah­rung be­sit­zen. Ohne also hier­über eine ge­naue Un­ter­su­chung an­zu­stel­len, wel­che oh­ne­hin zu nichts füh­ren kann, bin ich mir be­wusst, dass wir in ei­nem al­ten Hau­se wohn­ten, wel­ches ei­gent­lich aus zwei durch­ge­bro­che­nen Häu­sern be­stand. Eine tur­mar­ti­ge Trep­pe führ­te zu un­zu­sam­men­han­gen­den Zim­mern, und die Un­gleich­heit der Stock­wer­ke war durch Stu­fen aus­ge­gli­chen. Für uns Kin­der, eine jün­ge­re Schwes­ter und mich, war die un­te­re weit­läuf­ti­ge Haus­flur der liebs­te Raum, wel­che ne­ben der Türe ein großes höl­zer­nes Git­ter­werk hat­te, wo­durch man un­mit­tel­bar mit der Stra­ße und der frei­en Luft in Ver­bin­dung kam. Ei­nen sol­chen Vo­gel­bau­er, mit dem vie­le Häu­ser ver­se­hen wa­ren, nann­te man ein Geräms. Die Frau­en sa­ßen dar­in, um zu nä­hen und zu stri­cken; die Kö­chin las ih­ren Salat; die Nach­ba­rin­nen be­spra­chen sich von da­her mit­ein­an­der, und die Stra­ßen ge­wan­nen da­durch in der gu­ten Jahrs­zeit ein süd­li­ches An­se­hen. Man fühl­te sich frei, in­dem man mit dem Öf­fent­li­chen ver­traut war. So ka­men auch durch die­se Gerämse die Kin­der mit den Nach­barn in Ver­bin­dung, und mich ge­wan­nen drei ge­gen­über woh­nen­de Brü­der von Och­sen­stein, hin­ter­las­se­ne Söh­ne des ver­stor­be­nen Schult­hei­ßen, gar lieb und be­schäf­tig­ten und neck­ten sich mit mir auf man­cher­lei Wei­se.

Die Mei­ni­gen er­zähl­ten gern al­ler­lei Eu­len­spie­ge­lei­en, zu de­nen mich jene sonst erns­ten und ein­sa­men Män­ner an­ge­reizt. Ich füh­re nur einen von die­sen Strei­chen an. Es war eben Topf­markt ge­we­sen, und man hat­te nicht al­lein die Kü­che für die nächs­te Zeit mit sol­chen Wa­ren ver­sorgt, son­dern auch uns Kin­dern der­glei­chen Ge­schirr im klei­nen zu spie­len­der Be­schäf­ti­gung ein­ge­kauft. An ei­nem schö­nen Nach­mit­tag, da al­les ru­hig im Hau­se war, trieb ich im Geräms mit mei­nen Schüs­seln und Töp­fen mein We­sen, und da wei­ter nichts da­bei her­aus­kom­men woll­te, warf ich ein Ge­schirr auf die Stra­ße und freu­te mich, dass es so lus­tig zer­brach. Die von Och­sen­stein, wel­che sa­hen, wie ich mich dar­an er­getz­te, dass ich so gar fröh­lich in die Händ­chen patsch­te, rie­fen: »Noch mehr!« Ich säum­te nicht, so­gleich einen Topf und, auf im­mer fort­wäh­ren­des Ru­fen: »Noch mehr!« nach und nach sämt­li­che Schüs­sel­chen, Tie­gel­chen, Känn­chen ge­gen das Pflas­ter zu schleu­dern. Mei­ne Nach­barn fuh­ren fort, ih­ren Bei­fall zu be­zei­gen, und ich war höch­lich froh, ih­nen Ver­gnü­gen zu ma­chen. Mein Vor­rat aber war auf­ge­zehrt, und sie rie­fen im­mer: »Noch mehr!« Ich eil­te da­her stracks in die Kü­che und hol­te die ir­de­nen Tel­ler, wel­che nun frei­lich im Zer­bre­chen noch ein lus­ti­ge­res Schau­spiel ga­ben; und so lief ich hin und wi­der, brach­te einen Tel­ler nach dem an­de­ren, wie ich sie auf dem Topf­brett der Rei­he nach er­rei­chen konn­te, in glei­ches Ver­der­ben. Nur spä­ter er­schi­en je­mand, zu hin­dern und zu weh­ren. Das Un­glück war ge­sche­hen, und man hat­te für so viel zer­broch­ne Töp­fer­wa­re we­nigs­tens eine lus­ti­ge Ge­schich­te, an der sich be­son­ders die schal­ki­schen Ur­he­ber bis an ihr Le­bens­en­de er­getz­ten.

Mei­nes Va­ters Mut­ter, bei der wir ei­gent­lich im Hau­se wohn­ten, leb­te in ei­nem großen Zim­mer hin­ten hin­aus, un­mit­tel­bar an der Haus­flur, und wir pfleg­ten un­se­re Spie­le bis an ih­ren Ses­sel, ja wenn sie krank war, bis an ihr Bett hin aus­zu­deh­nen. Ich er­in­ne­re mich ih­rer gleich­sam als ei­nes Geis­tes, als ei­ner schö­nen, ha­gern, im­mer weiß und rein­lich ge­klei­de­ten Frau. Sanft, freund­lich, wohl­wol­lend ist sie mir im Ge­dächt­nis ge­blie­ben.

Wir hat­ten die Stra­ße, in wel­cher un­ser Haus lag, den Hirsch­gra­ben nen­nen hö­ren; da wir aber we­der Gra­ben noch Hir­sche sa­hen, so woll­ten wir die­sen Aus­druck er­klärt wis­sen. Man er­zähl­te so­dann, un­ser Haus ste­he auf ei­nem Raum, der sonst au­ßer­halb der Stadt ge­le­gen, und da, wo jetzt die Stra­ße sich be­fin­de, sei eh­mals ein Gra­ben ge­we­sen, in wel­chem eine An­zahl Hir­sche un­ter­hal­ten wor­den. Man habe die­se Tie­re hier be­wahrt und ge­nährt, weil nach ei­nem al­ten Her­kom­men der Se­nat alle Jah­re einen Hirsch öf­fent­lich ver­spei­set, den man denn für einen sol­chen Fest­tag hier im Gra­ben im­mer zur Hand ge­habt, wenn auch aus­wärts Fürs­ten und Rit­ter der Stadt ihre Jagd­be­fug­nis ver­küm­mer­ten und stör­ten, oder wohl gar Fein­de die Stadt ein­ge­schlos­sen oder be­la­gert hiel­ten. Dies ge­fiel uns sehr, und wir wünsch­ten, eine sol­che zah­me Wild­bahn wäre auch noch bei un­sern Zei­ten zu se­hen ge­we­sen.

Die Hin­ter­sei­te des Hau­ses hat­te, be­son­ders aus dem obe­ren Stock, eine sehr an­ge­neh­me Aus­sicht über eine bei­nah un­ab­seh­ba­re Flä­che von Nach­bars­gär­ten, die sich bis an die Stadt­mau­ern ver­brei­te­ten. Lei­der aber war, bei Ver­wand­lung der sonst hier be­find­li­chen Ge­mein­de­plät­ze in Haus­gär­ten, un­ser Haus und noch ei­ni­ge an­de­re, die ge­gen die Stra­ßen­e­cke zu la­gen, sehr ver­kürzt wor­den, in­dem die Häu­ser vom Ross­markt her weit­läu­fi­ge Hin­ter­ge­bäu­de und große Gär­ten sich zu­eig­ne­ten, wir aber uns durch eine ziem­lich hohe Mau­er uns­res Ho­fes von die­sen so nah ge­le­ge­nen Pa­ra­die­sen aus­ge­schlos­sen sa­hen.

Im zwei­ten Stock be­fand sich ein Zim­mer, wel­ches man das Gar­ten­zim­mer nann­te, weil man sich da­selbst durch we­ni­ge Ge­wäch­se vor dem Fens­ter den Man­gel ei­nes Gar­tens zu er­set­zen ge­sucht hat­te. Dort war, wie ich her­an­wuchs, mein liebs­ter, zwar nicht trau­ri­ger, aber doch sehn­süch­ti­ger Auf­ent­halt. Über jene Gär­ten hin­aus, über Stadt­mau­ern und Wäl­le sah man in eine schö­ne frucht­ba­re Ebe­ne: es ist die, wel­che sich nach Höchst hin­zieht. Dort lern­te ich Som­mers­zeit ge­wöhn­lich mei­ne Lek­tio­nen, war­te­te die Ge­wit­ter ab und konn­te mich an der un­ter­ge­hen­den Son­ne, ge­gen wel­che die Fens­ter ge­ra­de ge­rich­tet wa­ren, nicht satt ge­nug se­hen. Da ich aber zu glei­cher Zeit die Nach­barn in ih­ren Gär­ten wan­deln und ihre Blu­men be­sor­gen, die Kin­der spie­len, die Ge­sell­schaf­ten sich er­ge­hen sah, die Ke­gel­ku­geln rol­len und die Ke­gel fal­len hör­te, so er­reg­te dies früh­zei­tig in mir ein Ge­fühl der Ein­sam­keit und ei­ner dar­aus ent­sprin­gen­den Sehn­sucht, das, dem von der Na­tur in mich ge­leg­ten Erns­ten und Ahn­dungs­vol­len ent­spre­chend, sei­nen Ein­fluss gar bald und in der Fol­ge noch deut­li­cher zeig­te.

Die alte, win­kel­haf­te, an vie­len Stel­len düs­te­re Be­schaf­fen­heit des Hau­ses war üb­ri­gens ge­eig­net, Schau­er und Furcht in kind­li­chen Ge­mü­tern zu er­we­cken. Un­glück­li­cher­wei­se hat­te man noch die Er­zie­hungs­ma­xi­me, den Kin­dern früh­zei­tig alle Furcht vor dem Ahn­dungs­vol­len und Un­sicht­ba­ren zu be­neh­men und sie an das Schau­der­haf­te zu ge­wöh­nen. Wir Kin­der soll­ten da­her al­lein schla­fen, und wenn uns die­ses un­mög­lich fiel und wir uns sacht aus den Bet­ten her­vor­mach­ten und die Ge­sell­schaft der Be­dien­ten und Mäg­de such­ten, so stell­te sich, in um­ge­wand­tem Schlaf­rock und also für uns ver­klei­det ge­nug, der Va­ter in den Weg und schreck­te uns in un­se­re Ru­he­stät­te zu­rück. Die dar­aus ent­sprin­gen­de üble Wir­kung denkt sich je­der­mann. Wie soll der­je­ni­ge die Furcht los­wer­den, den man zwi­schen ein dop­pel­tes Furcht­ba­re ein­klemmt? Mei­ne Mut­ter, stets hei­ter und froh und an­de­ren das Glei­che gön­nend, er­fand eine bes­se­re päd­ago­gi­sche Aus­kunft. Sie wuss­te ih­ren Zweck durch Be­loh­nun­gen zu er­rei­chen. Es war die Zeit der Pfir­schen, de­ren reich­li­chen Ge­nuss sie uns je­den Mor­gen ver­sprach, wenn wir nachts die Furcht über­wun­den hät­ten. Es ge­lang, und bei­de Tei­le wa­ren zu­frie­den.

In­ner­halb des Hau­ses zog mei­nen Blick am meis­ten eine Rei­he rö­mi­scher Pro­spek­te auf mich, mit wel­chen der Va­ter einen Vor­saal aus­ge­schmückt hat­te, ge­sto­chen von ei­ni­gen ge­schick­ten Vor­gän­gern des Pi­ra­ne­se, die sich auf Archi­tek­tur und Per­spek­ti­ve wohl ver­stan­den und de­ren Na­del sehr deut­lich und schätz­bar ist. Hier sah ich täg­lich die Pi­az­za del Po­po­lo, das Co­li­seo, den Pe­ters­platz, die Pe­ters­kir­che von au­ßen und in­nen, die En­gels­burg und so man­ches an­de­re. Die­se Ge­stal­ten drück­ten sich tief bei mir ein, und der sonst sehr la­ko­ni­sche Va­ter hat­te wohl manch­mal die Ge­fäl­lig­keit, eine Be­schrei­bung des Ge­gen­stan­des ver­neh­men zu las­sen. Sei­ne Vor­lie­be für die ita­liä­ni­sche Spra­che und für al­les, was sich auf je­nes Land be­zieht, war sehr aus­ge­spro­chen. Eine klei­ne Mar­mor- und Na­tu­ra­li­en­samm­lung, die er von dort­her mit­ge­bracht, zeig­te er uns auch manch­mal vor, und einen großen Teil sei­ner Zeit ver­wen­de­te er auf sei­ne ita­liä­nisch ver­fass­te Rei­se­be­schrei­bung, de­ren Ab­schrift und Re­dak­ti­on er ei­gen­hän­dig, heft­wei­se, lang­sam und ge­nau aus­fer­tig­te. Ein al­ter hei­te­rer ita­liä­ni­scher Sprach­meis­ter, Gio­vi­naz­zi ge­nannt, war ihm dar­an be­hilf­lich. Auch sang der Alte nicht übel, und mei­ne Mut­ter muss­te sich be­que­men, ihn und sich selbst mit dem Kla­vie­re täg­lich zu ak­kom­pa­gnie­ren; da ich denn das So­li­ta­rio bos­co om­bro­so bald ken­nen lern­te und aus­wen­dig wuss­te, ehe ich es ver­stand.

Mein Va­ter war über­haupt lehr­haf­ter Na­tur, und bei sei­ner Ent­fer­nung von Ge­schäf­ten woll­te er gern das­je­ni­ge, was er wuss­te und ver­moch­te, auf an­de­re über­tra­gen. So hat­te er mei­ne Mut­ter in den ers­ten Jah­ren ih­rer Ver­hei­ra­tung zum flei­ßi­gen Schrei­ben an­ge­hal­ten, wie zum Kla­vier­spie­len und Sin­gen; wo­bei sie sich ge­nö­tigt sah, auch in der ita­liä­ni­schen Spra­che ei­ni­ge Kennt­nis und not­dürf­ti­ge Fer­tig­keit zu er­wer­ben.

Ge­wöhn­lich hiel­ten wir uns in al­len un­sern Frei­stun­den zur Groß­mut­ter, in de­ren ge­räu­mi­gem Wohn­zim­mer wir hin­läng­lich Platz zu un­sern Spie­len fan­den. Sie wuss­te uns mit al­ler­lei Klei­nig­kei­ten zu be­schäf­ti­gen und mit al­ler­lei gu­ten Bis­sen zu er­qui­cken. An ei­nem Weih­nachts­aben­de je­doch setz­te sie al­len ih­ren Wohl­ta­ten die Kro­ne auf, in­dem sie uns ein Pup­pen­spiel vor­stel­len ließ und so in dem al­ten Hau­se eine neue Welt er­schuf. Die­ses un­er­war­te­te Schau­spiel zog die jun­gen Ge­mü­ter mit Ge­walt an sich; be­son­ders auf den Kna­ben mach­te es einen sehr star­ken Ein­druck, der in eine große, lang­dau­ern­de Wir­kung nach­klang.

Die klei­ne Büh­ne mit ih­rem stum­men Per­so­nal, die man uns an­fangs nur vor­ge­zeigt hat­te, nach­her aber zu eig­ner Übung und dra­ma­ti­scher Be­le­bung übergab, muss­te uns Kin­dern umso viel wer­ter sein, als es das letz­te Ver­mächt­nis un­se­rer gu­ten Groß­mut­ter war, die bald dar­auf durch zu­neh­men­de Krank­heit un­sern Au­gen erst ent­zo­gen und dann für im­mer durch den Tod ent­ris­sen wur­de. Ihr Ab­schei­den war für die Fa­mi­lie von de­sto grö­ße­rer Be­deu­tung, als es eine völ­li­ge Ver­än­de­rung in dem Zu­stan­de der­sel­ben nach sich zog.

So­lan­ge die Groß­mut­ter leb­te, hat­te mein Va­ter sich ge­hü­tet, nur das Min­des­te im Hau­se zu ver­än­dern oder zu er­neu­ern; aber man wuss­te wohl, dass er sich zu ei­nem Haupt­bau vor­be­rei­te­te, der nun­mehr auch so­gleich vor­ge­nom­men wur­de. In Frank­furt, wie in meh­rern al­ten Städ­ten, hat­te man bei Auf­füh­rung höl­zer­ner Ge­bäu­de, um Platz zu ge­win­nen, sich er­laubt, nicht al­lein mit dem ers­ten, son­dern auch mit den fol­gen­den Sto­cken über­zu­bau­en; wo­durch denn frei­lich be­son­ders enge Stra­ßen et­was Düs­te­res und Ängst­li­ches be­ka­men. End­lich ging ein Ge­setz durch, dass, wer ein neu­es Haus von Grund auf baue, nur mit dem ers­ten Stock über das Fun­da­ment her­aus­rücken dür­fe, die üb­ri­gen aber senk­recht auf­füh­ren müs­se. Mein Va­ter, um den vor­sprin­gen­den Raum im zwei­ten Stock auch nicht auf­zu­ge­ben, we­nig be­küm­mert um äu­ße­res ar­chi­tek­to­ni­sches An­se­hen und nur um in­ne­re gute und be­que­me Ein­rich­tung be­sorgt, be­dien­te sich, wie schon meh­re­re vor ihm ge­tan, der Aus­flucht, die obe­ren Tei­le des Hau­ses zu un­ter­stüt­zen und von un­ten her­auf einen nach dem an­de­ren weg­zu­neh­men und das Neue gleich­sam ein­zu­schal­ten, so­dass, wenn zu­letzt ge­wis­ser­ma­ßen nichts von dem Al­ten üb­rig blieb, der ganz neue Bau noch im­mer für eine Re­pa­ra­tur gel­ten konn­te. Da nun also das Ein­rei­ßen und Auf­rich­ten all­mäh­lich ge­sch­ah, so hat­te mein Va­ter sich vor­ge­nom­men, nicht aus dem Hau­se zu wei­chen, um de­sto bes­ser die Auf­sicht zu füh­ren und die An­lei­tung ge­ben zu kön­nen: denn aufs Tech­ni­sche des Bau­es ver­stand er sich ganz gut; da­bei woll­te er aber auch sei­ne Fa­mi­lie nicht von sich las­sen. Die­se neue Epo­che war den Kin­dern sehr über­ra­schend und son­der­bar. Die Zim­mer, in de­nen man sie oft enge ge­nug ge­hal­ten und mit we­nig er­freu­li­chem Ler­nen und Ar­bei­ten ge­ängs­tigt, die Gän­ge, auf de­nen sie ge­spielt, die Wän­de, für de­ren Rein­lich­keit und Er­hal­tung man sonst so sehr ge­sorgt, al­les das vor der Ha­cke des Mau­rers, vor dem Bei­le des Zim­mer­manns fal­len zu se­hen, und zwar von un­ten her­auf, und in­des­sen oben auf un­ter­stütz­ten Bal­ken gleich­sam in der Luft zu schwe­ben und da­bei im­mer noch zu ei­ner ge­wis­sen Lek­ti­on, zu ei­ner be­stimm­ten Ar­beit an­ge­hal­ten zu wer­den – die­ses al­les brach­te eine Ver­wir­rung in den jun­gen Köp­fen her­vor, die sich so leicht nicht wie­der ins Glei­che set­zen ließ. Doch wur­de die Un­be­quem­lich­keit von der Ju­gend we­ni­ger emp­fun­den, weil ihr et­was mehr Spiel­raum als bis­her und man­che Ge­le­gen­heit, sich auf Bal­ken zu schau­keln und auf Bret­tern zu schwin­gen, ge­las­sen ward.

Hart­nä­ckig setz­te der Va­ter die ers­te Zeit sei­nen Plan durch; doch als zu­letzt auch das Dach teil­wei­se ab­ge­tra­gen wur­de und, un­ge­ach­tet al­les über­ge­spann­ten Wachs­tu­ches von ab­ge­nom­me­nen Ta­pe­ten, der Re­gen bis zu un­sern Bet­ten ge­lang­te, so ent­schloss er sich, ob­gleich un­gern, die Kin­der wohl­wol­len­den Freun­den, wel­che sich schon frü­her dazu er­bo­ten hat­ten, auf eine Zeit lang zu über­las­sen und sie in eine öf­fent­li­che Schu­le zu schi­cken.

Die­ser Über­gang hat­te man­ches Un­an­ge­neh­me: denn in­dem man die bis­her zu Hau­se ab­ge­son­dert, rein­lich, edel, ob­gleich streng ge­hal­te­nen Kin­der un­ter eine rohe Mas­se von jun­gen Ge­schöp­fen hin­un­ters­tieß, so hat­ten sie vom Ge­mei­nen, Schlech­ten, ja Nie­der­träch­ti­gen ganz un­er­war­tet al­les zu lei­den, weil sie al­ler Waf­fen und al­ler Fä­hig­keit er­man­gel­ten, sich da­ge­gen zu schüt­zen.

Um die­se Zeit war es ei­gent­lich, dass ich mei­ne Va­ter­stadt zu­erst ge­wahr wur­de: wie ich denn nach und nach im­mer frei­er und un­ge­hin­der­ter, teils al­lein, teils mit mun­tern Ge­spie­len, dar­in auf und ab wan­del­te. Um den Ein­druck, den die­se erns­ten und wür­di­gen Um­ge­bun­gen auf mich mach­ten, ei­ni­ger­ma­ßen mit­zu­tei­len, muss ich hier mit der Schil­de­rung mei­nes Ge­burts­or­tes vor­grei­fen, wie er sich in sei­nen ver­schie­de­nen Tei­len all­mäh­lich vor mir ent­wi­ckel­te. Am liebs­ten spa­zier­te ich auf der großen Main­brücke. Ihre Län­ge, ihre Fes­tig­keit, ihr gu­tes An­se­hen mach­te sie zu ei­nem be­mer­kens­wer­ten Bau­werk; auch ist es aus frü­he­rer Zeit bei­na­he das ein­zi­ge Denk­mal je­ner Vor­sor­ge, wel­che die welt­li­che Ob­rig­keit ih­ren Bür­gern schul­dig ist. Der schö­ne Fluss auf- und ab­wärts zog mei­ne Bli­cke nach sich; und wenn auf dem Brücken­kreuz der gol­de­ne Hahn im Son­nen­schein glänz­te, so war es mir im­mer eine er­freu­li­che Emp­fin­dung. Ge­wöhn­lich ward als­dann durch Sach­sen­hau­sen spa­ziert und die Über­fahrt für einen Kreu­zer gar be­hag­lich ge­nos­sen. Da be­fand man sich nun wie­der dies­seits, da schlich man zum Wein­mark­te, be­wun­der­te den Mecha­nis­mus der Kra­ne, wenn Wa­ren aus­ge­la­den wur­den; be­son­ders aber un­ter­hielt uns die An­kunft der Markt­schif­fe, wo man so man­cher­lei und mit­un­ter so selt­sa­me Fi­gu­ren aus­stei­gen sah. Ging es nun in die Stadt her­ein, so ward je­der­zeit der Saal­hof, der we­nigs­tens an der Stel­le stand, wo die Burg Kai­ser Karls des Gro­ßen und sei­ner Nach­fol­ger ge­we­sen sein soll­te, ehr­furchts­voll ge­grüßt. Man ver­lor sich in die alte Ge­werb­stadt und be­son­ders Markt­ta­ges gern in dem Ge­wühl, das sich um die Bar­tho­lo­mäus­kir­che her­um ver­sam­mel­te. Hier hat­te sich, von den frü­he­s­ten Zei­ten an, die Men­ge der Ver­käu­fer und Krä­mer über ein­an­der ge­drängt, und we­gen ei­ner sol­chen Be­sitz­nah­me konn­te nicht leicht in den neu­ern Zei­ten eine ge­räu­mi­ge und hei­te­re An­stalt Platz fin­den. Die Bu­den des so­ge­nann­ten Pfar­rei­sens wa­ren uns Kin­dern sehr be­deu­tend, und wir tru­gen man­chen Bat­zen hin, um uns far­bi­ge, mit gol­de­nen Tie­ren be­druck­te Bo­gen an­zu­schaf­fen. Nur sel­ten aber moch­te man sich über den be­schränk­ten, voll­ge­pfropf­ten und un­rein­li­chen Markt­platz hin­drän­gen. So er­in­ne­re ich mich auch, dass ich im­mer mit Ent­set­zen vor den dar­an­sto­ßen­den en­gen und häss­li­chen Fleisch­bän­ken ge­flo­hen bin. Der Rö­mer­berg war ein de­sto an­ge­neh­me­rer Spa­zier­platz. Der Weg nach der neu­en Stadt, durch die neue Kräm, war im­mer auf­hei­ternd und er­getz­lich; nur ver­dross es uns, dass nicht ne­ben der Lieb­frau­en­kir­che eine Stra­ße nach der Zeil zu ging und wir im­mer den großen Um­weg durch die Ha­sen­gas­se oder die Ka­tha­ri­nen­pfor­te ma­chen muss­ten. Was aber die Auf­merk­sam­keit des Kin­des am meis­ten an sich zog, wa­ren die vie­len klei­nen Städ­te in der Stadt, die Fes­tun­gen in der Fes­tung, die um­mau­er­ten Klos­ter­be­zir­ke näm­lich, und die aus frü­hern Jahr­hun­der­ten noch üb­ri­gen mehr oder min­der burg­ar­ti­gen Räu­me: so der Nürn­ber­ger Hof, das Com­postell, das Braun­fels, das Stamm­haus de­rer von Stall­burg und meh­re­re in den spä­tern Zei­ten zu Woh­nun­gen und Ge­werbs­be­nut­zun­gen ein­ge­rich­te­te Fes­ten. Nichts ar­chi­tek­to­nisch Er­he­ben­des war da­mals in Frank­furt zu se­hen: al­les deu­te­te auf eine längst ver­gang­ne, für Stadt und Ge­gend sehr un­ru­hi­ge Zeit. Pfor­ten und Tür­me, wel­che die Grän­ze der al­ten Stadt be­zeich­ne­ten, dann wei­ter­hin aber­mals Pfor­ten, Tür­me, Mau­ern, Brücken, Wäl­le, Grä­ben, wo­mit die neue Stadt um­schlos­sen war, al­les sprach noch zu deut­lich aus, dass die Not­wen­dig­keit, in un­ru­hi­gen Zei­ten dem Ge­mein­we­sen Si­cher­heit zu ver­schaf­fen, die­se An­stal­ten her­vor­ge­bracht, dass die Plät­ze, die Stra­ßen, selbst die neu­en, brei­ter und schö­ner an­ge­leg­ten, alle nur dem Zu­fall und der Will­kür und kei­nem re­geln­den Geis­te ih­ren Ur­sprung zu dan­ken hat­ten. Eine ge­wis­se Nei­gung zum Al­ter­tüm­li­chen setz­te sich bei dem Kna­ben fest, wel­che be­son­ders durch alte Chro­ni­ken, Holz­schnit­te, wie z. B. den Gravschen von der Be­la­ge­rung von Frank­furt, ge­nährt und be­güns­tigt wur­de; wo­bei noch eine an­de­re Lust, bloß mensch­li­che Zu­stän­de in ih­rer Man­nig­fal­tig­keit und Na­tür­lich­keit, ohne wei­tern An­spruch auf In­ter­es­se oder Schön­heit zu er­fas­sen, sich her­vor­tat. So war es eine von un­sern liebs­ten Pro­me­na­den, die wir uns des Jahrs ein paar­mal zu ver­schaf­fen such­ten, in­wen­dig auf dem Gan­ge der Stadt­mau­er her­um­zu­spa­zie­ren. Gär­ten, Höfe, Hin­ter­ge­bäu­de zie­hen sich bis an den Zwin­ger her­an; man sieht meh­re­ren tau­send Men­schen in ihre häus­li­chen, klei­nen, ab­ge­schlos­se­nen, ver­bor­ge­nen Zu­stän­de. Von dem Putz- und Schau­gar­ten des Rei­chen an den Obst­gär­ten des für sei­nen Nut­zen be­sorg­ten Bür­gers, von da zu Fa­bri­ken, Bleich­plät­zen und ähn­li­chen An­stal­ten, ja bis zum Got­tesa­cker selbst – denn eine klei­ne Welt lag in­ner­halb des Be­zirks der Stadt – ging man zu dem man­nig­fal­tigs­ten, wun­der­lichs­ten, mit je­dem Schritt sich ver­än­dern­den Schau­spiel vor­bei, an dem uns­re kin­di­sche Neu­gier sich nicht ge­nug er­ge­hen konn­te. Denn für­wahr, der be­kann­te hin­ken­de Teu­fel, als er für sei­nen Freund die Dä­cher von Ma­drid in der Nacht ab­hob, hat kaum mehr für die­sen ge­leis­tet, als hier vor uns un­ter frei­em Him­mel, bei hel­lem Son­nen­schein, ge­tan war. Die Schlüs­sel, de­ren man sich auf die­sem Wege be­die­nen muss­te, um durch man­cher­lei Tür­me, Trep­pen und Pfört­chen durch­zu­kom­men, wa­ren in den Hän­den der Zeugher­ren, und wir ver­fehl­ten nicht, ih­ren Su­bal­ter­nen aufs bes­te zu schmei­cheln.

Be­deu­ten­der noch und in ei­nem an­de­ren Sin­ne frucht­ba­rer blieb für uns das Rat­haus, der Rö­mer ge­nannt. In sei­nen un­tern ge­wöl­b­ähn­li­chen Hal­len ver­lo­ren wir uns gar zu ger­ne. Wir ver­schaff­ten uns Ein­tritt in das große, höchst ein­fa­che Ses­si­ons­zim­mer des Ra­tes. Bis auf eine ge­wis­se Höhe ge­tä­felt, wa­ren üb­ri­gens die Wän­de so wie die Wöl­bung weiß, und das Gan­ze ohne Spur von Ma­le­rei oder ir­gend ei­nem Bild­werk. Nur an der mit­tels­ten Wand in der Höhe las man die kur­ze In­schrift:

Ei­nes Manns Rede

Ist kei­nes Manns Rede:

Man soll sie bil­lig hö­ren Bee­de.

Nach der al­ter­tüm­lichs­ten Art wa­ren für die Glie­der die­ser Ver­samm­lung Bän­ke rings­um­her an der Ver­tä­fe­lung an­ge­bracht und um eine Stu­fe von dem Bo­den er­höht. Da be­grif­fen wir leicht, warum die Rang­ord­nung uns­res Se­nats nach Bän­ken ein­ge­teilt sei. Von der Türe lin­ker Hand bis in die ge­gen­über­ste­hen­de Ecke, als auf der ers­ten Bank, sa­ßen die Schöf­fen, in der Ecke selbst der Schult­heiß, der ein­zi­ge, der ein klei­nes Tisch­chen vor sich hat­te; zu sei­ner Lin­ken bis ge­gen die Fens­ter­sei­te sa­ßen nun­mehr die Her­ren der zwei­ten Bank; an den Fens­tern her zog sich die drit­te Bank, wel­che die Hand­wer­ker ein­nah­men; in der Mit­te des Saals stand ein Tisch für den Pro­to­koll­füh­rer.

Wa­ren wir ein­mal im Rö­mer, so misch­ten wir uns auch wohl in das Ge­drän­ge vor den bur­ge­meis­ter­li­chen Au­di­en­zen. Aber grö­ße­ren Reiz hat­te al­les, was sich auf Wahl und Krö­nung der Kai­ser be­zog. Wir wuss­ten uns die Gunst der Schlie­ßer zu ver­schaf­fen, um die neue, heitre, in Fres­ko ge­mal­te, sonst durch ein Git­ter ver­schlos­se­ne Kai­ser­trep­pe hin­auf­stei­gen zu dür­fen. Das mit Pur­pur­ta­pe­ten und wun­der­lich ver­schnör­kel­ten Gold­leis­ten ver­zier­te Wahl­zim­mer flö­ßte uns Ehr­furcht ein. Die Tür­stücke, auf wel­chen klei­ne Kin­der oder Ge­ni­en, mit dem kai­ser­li­chen Or­nat be­klei­det, und be­las­tet mir den Reichs­in­si­gni­en, eine gar wun­der­li­che Fi­gur spie­len, be­trach­te­ten wir mit großer Auf­merk­sam­keit und hoff­ten wohl auch noch ein­mal eine Krö­nung mit Au­gen zu er­le­ben. Aus dem großen Kai­ser­saa­le konn­te man uns nur mit sehr vie­ler Mühe wie­der her­aus­brin­gen, wenn es uns ein­mal ge­glückt war, hin­ein­zu­schlüp­fen; und wir hiel­ten den­je­ni­gen für un­sern wahrs­ten Freund, der uns bei den Brust­bil­dern der sämt­li­chen Kai­ser, die in ei­ner ge­wis­sen Höhe um­her ge­malt wa­ren, et­was von ih­ren Ta­ten er­zäh­len moch­te.

Von Karl dem Gro­ßen ver­nah­men wir man­ches Mär­chen­haf­te; aber das His­to­risch-In­ter­essan­te für uns fing erst mit Ru­dolf von Habs­burg an, der durch sei­ne Mann­heit so großen Ver­wir­run­gen ein Ende ge­macht. Auch Karl der Vier­te zog uns­re Auf­merk­sam­keit an sich. Wir hat­ten schon von der gol­de­nen Bul­le und der pein­li­chen Hals­ge­richts­ord­nung ge­hört, auch dass er den Frank­fur­tern ihre An­häng­lich­keit an sei­nen ed­len Ge­gen­kai­ser, Gün­ther von Schwarz­burg, nicht ent­gel­ten ließ. Ma­xi­mi­lia­nen hör­ten wir als einen Men­schen- und Bür­ger­freund lo­ben, und dass von ihm pro­phe­zeit wor­den, er wer­de der letz­te Kai­ser aus ei­nem deut­schen Hau­se sein; wel­ches denn auch lei­der ein­ge­trof­fen, in­dem nach sei­nem Tode die Wahl nur zwi­schen dem Kö­nig von Spa­ni­en, Karl dem Fünf­ten, und dem Kö­nig von Frank­reich, Franz dem Ers­ten, ge­schwankt habe. Be­denk­lich füg­te man hin­zu, dass nun aber­mals eine sol­che Weis­sa­gung oder viel­mehr Vor­be­deu­tung um­ge­he: denn es sei au­gen­fäl­lig, dass nur noch Platz für das Bild ei­nes Kai­sers üb­rig blei­be; ein Um­stand, der, ob­gleich zu­fäl­lig schei­nend, die Pa­trio­tisch­ge­sinn­ten mit Be­sorg­nis er­fül­le.

Wenn wir nun so ein­mal un­sern Um­gang hiel­ten, ver­fehl­ten wir auch nicht, uns nach dem Dom zu be­ge­ben und da­selbst das Grab je­nes bra­ven, von Freund und Fein­den ge­schätz­ten Gün­ther zu be­su­chen. Der merk­wür­di­ge Stein, der es eh­mals be­deck­te, ist in dem Chor auf­ge­rich­tet. Die gleich da­ne­ben be­find­li­che Türe, wel­che ins Con­cla­ve führt, blieb uns lan­ge ver­schlos­sen, bis wir end­lich durch die obe­ren Be­hör­den auch den Ein­tritt in die­sen so be­deu­ten­den Ort zu er­lan­gen wuss­ten. Al­lein wir hät­ten bes­ser ge­tan, ihn durch un­se­re Ein­bil­dungs­kraft, wie bis­her, aus­zu­ma­len: denn wir fan­den die­sen in der deut­schen Ge­schich­te so merk­wür­di­gen Raum, wo die mäch­tigs­ten Fürs­ten sich zu ei­ner Hand­lung von sol­cher Wich­tig­keit zu ver­sam­meln pfleg­ten, kei­nes­wegs wür­dig aus­ge­ziert, son­dern noch oben­ein mit Bal­ken, Stan­gen, Gerüs­ten und an­de­rem sol­chen Ge­sperr, das man bei­sei­te set­zen woll­te, ver­un­stal­tet. De­sto mehr ward un­se­re Ein­bil­dungs­kraft an­ge­regt und das Herz uns er­ho­ben, als wir kurz nach­her die Er­laub­nis er­hiel­ten, beim Vor­zei­gen der gold­nen Bul­le an ei­ni­ge vor­neh­me Frem­den auf dem Rat­hau­se ge­gen­wär­tig zu sein.

Mit vie­ler Be­gier­de ver­nahm der Kna­be so­dann, was ihm die Sei­ni­gen so wie äl­te­re Ver­wand­te und Be­kann­te gern er­zähl­ten und wie­der­hol­ten: die Ge­schich­ten der zu­letzt kurz auf ein­an­der ge­folg­ten Krö­nun­gen. Denn es war kein Frank­fur­ter von ei­nem ge­wis­sen Al­ter, der nicht die­se bei­den Er­eig­nis­se, und was sie be­glei­te­te, für den Gip­fel sei­nes Le­bens ge­hal­ten hät­te. So präch­tig die Krö­nung Karls des Sie­ben­ten ge­we­sen war, bei wel­cher be­son­ders der fran­zö­si­sche Ge­sand­te, mit Kos­ten und Ge­schmack, herr­li­che Fes­te ge­ge­ben, so war doch die Fol­ge für den gu­ten Kai­ser de­sto trau­ri­ger, der sei­ne Re­si­denz Mün­chen nicht be­haup­ten konn­te und ge­wis­ser­ma­ßen die Gast­frei­heit sei­ner Reichs­städ­ter an­fle­hen muss­te.

War die Krö­nung Franz des Ers­ten nicht so auf­fal­lend präch­tig wie jene, so wur­de sie doch durch die Ge­gen­wart der Kai­se­rin Ma­ria The­re­sia ver­herr­licht, de­ren Schön­heit eben so einen großen Ein­druck auf die Män­ner scheint ge­macht zu ha­ben als die erns­te, wür­di­ge Ge­stalt und die blau­en Au­gen Karls des Sie­ben­ten auf die Frau­en. We­nigs­tens wett­ei­fer­ten bei­de Ge­schlech­ter, dem auf­hor­chen­den Kna­ben einen höchst vor­teil­haf­ten Be­griff von je­nen bei­den Per­so­nen bei­zu­brin­gen. Alle die­se Be­schrei­bun­gen und Er­zäh­lun­gen ge­sch­a­hen mit heitrem und be­ru­hig­tem Ge­müt: denn der Aach­ner Frie­de hat­te für den Au­gen­blick al­ler Feh­de ein Ende ge­macht, und wie von je­nen Fei­er­lich­kei­ten, so sprach man mit Be­hag­lich­keit von den vor­über­ge­gan­ge­nen Kriegs­zü­gen, von der Schlacht bei Det­tin­gen, und was die merk­wür­digs­ten Be­ge­ben­hei­ten der ver­flos­se­nen Jah­re mehr sein moch­ten; und al­les Be­deu­ten­de und Ge­fähr­li­che schi­en, wie es nach ei­nem ab­ge­schlos­se­nen Frie­den zu ge­hen pflegt, sich nur er­eig­net zu ha­ben, um glück­li­chen und sor­gen­frei­en Men­schen zur Un­ter­hal­tung zu die­nen.

Hat­te man in ei­ner sol­chen pa­trio­ti­schen Be­schrän­kung kaum ein hal­b­es Jahr hin­ge­bracht, so tra­ten schon die Mes­sen wie­der ein, wel­che in den sämt­li­chen Kin­der­köp­fen je­der­zeit eine un­glaub­li­che Gä­rung her­vor­brach­ten. Eine durch Er­bau­ung so vie­ler Bu­den in­ner­halb der Stadt in we­ni­ger Zeit ent­sprin­gen­de neue Stadt, das Wo­gen und Trei­ben, das Ab­la­den und Auspa­cken der Wa­ren er­reg­te, von den ers­ten Mo­men­ten des Be­wusst­seins an, eine un­be­zwing­lich tä­ti­ge Neu­gier­de und ein un­be­gränz­tes Ver­lan­gen nach kin­di­schem Be­sitz, das der Kna­be mit wach­sen­den Jah­ren, bald auf die­se, bald auf jene Wei­se, wie es die Kräf­te sei­nes klei­nen Beu­tels er­lau­ben woll­ten, zu be­frie­di­gen such­te. Zu­gleich aber bil­de­te sich die Vor­stel­lung von dem, was die Welt al­les her­vor­bringt, was sie be­darf, und was die Be­woh­ner ih­rer ver­schie­de­nen Tei­le ge­gen­ein­an­der aus­wech­seln.

Die­se großen, im Früh­jahr und Herbst ein­tre­ten­den Epo­chen wur­den durch selt­sa­me Fei­er­lich­kei­ten an­ge­kün­digt, wel­che um de­sto wür­di­ger schie­nen, als sie die alte Zeit, und was von dort­her noch auf uns ge­kom­men, leb­haft ver­ge­gen­wär­tig­ten. Am Ge­leits­tag war das gan­ze Volk auf den Bei­nen, dräng­te sich nach der Fahr­gas­se, nach der Brücke, bis über Sach­sen­hau­sen hin­aus; alle Fens­ter wa­ren be­setzt, ohne dass den Tag über was Be­son­de­res vor­ging; die Men­ge schi­en nur da zu sein, um sich zu drän­gen, und die Zuschau­er, um sich un­ter ein­an­der zu be­trach­ten: denn das, wor­auf es ei­gent­lich an­kam, er­eig­ne­te sich erst mit sin­ken­der Nacht und wur­de mehr ge­glaubt als mit Au­gen ge­se­hen.

In je­nen äl­tern un­ru­hi­gen Zei­ten näm­lich, wo ein je­der nach Be­lie­ben Un­recht tat oder nach Lust das Rech­te be­för­der­te, wur­den die auf die Mes­sen zie­hen­den Han­dels­leu­te von We­ge­la­ge­rern, ed­len und un­ed­len Ge­schlechts, will­kür­lich ge­plagt und ge­plackt, so­dass Fürs­ten und an­de­re mäch­ti­ge Stän­de die Ih­ri­gen mit ge­waff­ne­ter Hand bis nach Frank­furt ge­lei­ten lie­ßen. Hier woll­ten nun aber die Reichs­städ­ter sich selbst und ih­rem Ge­biet nichts ver­ge­ben; sie zo­gen den An­kömm­lin­gen ent­ge­gen: da gab es denn manch­mal Strei­tig­kei­ten, wie weit jene Ge­lei­ten­den her­an­kom­men, oder ob sie wohl gar ih­ren Ein­ritt in die Stadt neh­men könn­ten. Weil nun die­ses nicht al­lein bei Han­dels- und Mess­ge­schäf­ten statt­fand, son­dern auch, wenn hohe Per­so­nen in Kriegs- und Frie­dens­zei­ten, vor­züg­lich aber zu Wahl­ta­gen, sich her­an­be­ga­ben, und es auch öf­ters zu Tät­lich­kei­ten kam, so­bald ir­gend ein Ge­fol­ge, das man in der Stadt nicht dul­den woll­te, sich mit sei­nem Herrn her­ein­zu­drän­gen be­gehr­te, so wa­ren zeit­her dar­über man­che Ver­hand­lun­gen ge­pflo­gen, es wa­ren vie­le Re­zes­se des­halb, ob­gleich stets mit bei­der­sei­ti­gen Vor­be­hal­ten, ge­schlos­sen wor­den, und man gab die Hoff­nung nicht auf, den seit Jahr­hun­der­ten dau­ern­den Zwist end­lich ein­mal bei­zu­le­gen, als die gan­ze An­stalt, wes­halb er so lan­ge und oft sehr hef­tig ge­führt wor­den war, bei­nah für un­nütz, we­nigs­tens für über­flüs­sig an­ge­se­hen wer­den konn­te.

Un­ter­des­sen ritt die bür­ger­li­che Ka­val­le­rie in meh­re­ren Ab­tei­lun­gen, mit den Ober­häup­tern an ih­rer Spit­ze, an je­nen Ta­gen zu ver­schie­de­nen To­ren hin­aus, fand an ei­ner ge­wis­sen Stel­le ei­ni­ge Rei­ter oder Husa­ren der zum Ge­leit be­rech­tig­ten Reichs­stän­de, die nebst ih­ren An­füh­rern wohl emp­fan­gen und be­wir­tet wur­den; man zö­ger­te bis ge­gen Abend und ritt als­dann, kaum von der war­ten­den Men­ge ge­se­hen, zur Stadt her­ein; da denn man­cher bür­ger­li­che Rei­ter we­der sein Pferd noch sich selbst auf dem Pfer­de zu er­hal­ten ver­moch­te. Zu dem Brück­en­to­re ka­men die be­deu­tends­ten Züge her­ein, und des­we­gen war der An­drang dort­hin am stärks­ten. Ganz zu­letzt und mit sin­ken­der Nacht lang­te der auf glei­che Wei­se ge­lei­te­te Nürn­ber­ger Post­wa­gen an, und man trug sich mit der Rede, es müs­se je­der­zeit, dem Her­kom­men ge­mäß, eine alte Frau dar­in sit­zen; wes­halb denn die Stra­ßen­jun­gen bei An­kunft des Wa­gens in ein gel­len­des Ge­schrei aus­zu­bre­chen pfleg­ten, ob man gleich die im Wa­gen sit­zen­den Pas­sa­gie­re kei­nes­wegs mehr un­ter­schei­den konn­te. Un­glaub­lich und wirk­lich die Sin­ne ver­wir­rend war der Drang der Men­ge, die in die­sem Au­gen­blick durch das Brück­en­tor her­ein dem Wa­gen nach­stürz­te; des­we­gen auch die nächs­ten Häu­ser von den Zuschau­ern am meis­ten ge­sucht wur­den.

Eine an­de­re, noch viel selt­sa­me­re Fei­er­lich­keit, wel­che am hel­len Tage das Pub­li­kum auf­reg­te, war das Pfei­fer­ge­richt. Es er­in­ner­te die­se Ze­re­mo­nie an jene ers­ten Zei­ten, wo be­deu­ten­de Han­dels­städ­te sich von den Zöl­len, wel­che mit Han­del und Ge­werb in glei­chem Maße zu­nah­men, wo nicht zu be­frei­en, doch we­nigs­tens eine Mil­de­rung der­sel­ben zu er­lan­gen such­ten. Der Kai­ser, der ih­rer be­durf­te, er­teil­te eine sol­che Frei­heit da, wo es von ihm ab­hing, ge­wöhn­lich aber nur auf ein Jahr, und sie muss­te da­her jähr­lich er­neu­ert wer­den. Die­ses ge­sch­ah durch sym­bo­li­sche Ga­ben, wel­che dem kai­ser­li­chen Schult­hei­ßen, der auch wohl ge­le­gent­lich Ober­zöll­ner sein konn­te, vor Ein­tritt der Bar­tho­lo­mäi-Mes­se ge­bracht wur­den, und zwar des An­stands we­gen, wenn er mit den Schöf­fen zu Ge­richt saß. Als der Schult­heiß spä­ter­hin nicht mehr vom Kai­ser ge­setzt, son­dern von der Stadt selbst ge­wählt wur­de, be­hielt er doch die­se Vor­rech­te, und so­wohl die Zoll­frei­hei­ten der Städ­te als die Ze­re­mo­ni­en, wo­mit die Ab­ge­ord­ne­ten von Worms, Nürn­berg und Alt-Bam­berg die­se ur­al­te Ver­güns­ti­gung an­er­kann­ten, wa­ren bis auf un­se­re Zei­ten ge­kom­men. Den Tag vor Ma­riä Ge­burt ward ein öf­fent­li­cher Ge­richts­tag an­ge­kün­digt. In dem großen Kai­ser­saa­le, in ei­nem um­schränk­ten Rau­me, sa­ßen er­höht die Schöf­fen, und eine Stu­fe hö­her der Schult­heiß in ih­rer Mit­te; die von den Par­tei­en be­voll­mäch­tig­ten Pro­ku­ra­to­ren un­ten zur rech­ten Sei­te. Der Ak­tua­ri­us fängt an, die auf die­sen Tag ge­spar­ten wich­ti­gen Ur­tei­le laut vor­zu­le­sen; die Pro­ku­ra­to­ren bit­ten um Ab­schrift, ap­pel­lie­ren, oder was sie sonst zu tun nö­tig fin­den.

Auf ein­mal mel­det eine wun­der­li­che Mu­sik gleich­sam die An­kunft vo­ri­ger Jahr­hun­der­te. Es sind drei Pfei­fer, de­ren ei­ner eine alte Schal­mei, der an­de­re einen Bass, der drit­te einen Pom­mer oder Ho­boe bläst. Sie tra­gen blaue, mit Gold ver­bräm­te Män­tel, auf den Är­meln die No­ten be­fes­tigt, und ha­ben das Haupt be­deckt. So wa­ren sie aus ih­rem Gast­hau­se, die Ge­sand­ten und ihre Beglei­tung hin­ter­drein, Punkt zehn aus­ge­zo­gen, von Ein­hei­mi­schen und Frem­den an­ge­staunt, und so tre­ten sie in den Saal. Die Ge­richts­ver­hand­lun­gen hal­ten inne, Pfei­fer und Beglei­tung blei­ben vor den Schran­ken, der Ab­ge­sand­te tritt hin­ein und stellt sich dem Schult­hei­ßen ge­gen­über. Die sym­bo­li­schen Ga­ben, wel­che auf das ge­naus­te nach dem al­ten Her­kom­men ge­for­dert wur­den, be­stan­den ge­wöhn­lich in sol­chen Wa­ren, wo­mit die dar­brin­gen­de Stadt vor­züg­lich zu han­deln pfleg­te. Der Pfef­fer galt gleich­sam für alle Wa­ren, und so brach­te auch hier der Ab­ge­sand­te einen schön gedrech­sel­ten höl­zer­nen Po­kal mit Pfef­fer an­ge­füllt. Über dem­sel­ben la­gen ein paar Hand­schu­he, wun­der­sam ge­schlitzt, mit Sei­de be­steppt und be­quas­tet, als Zei­chen ei­ner ge­stat­te­ten und an­ge­nom­me­nen Ver­güns­ti­gung, des­sen sich auch wohl der Kai­ser selbst in ge­wis­sen Fäl­len be­dien­te. Da­ne­ben sah man ein wei­ßes Stäb­chen, wel­ches vor­mals bei ge­setz­li­chen und ge­richt­li­chen Hand­lun­gen nicht leicht feh­len durf­te. Es wa­ren noch ei­ni­ge klei­ne Sil­ber­mün­zen hin­zu­ge­fügt, und die Stadt Worms brach­te einen al­ten Filz­hut, den sie im­mer wie­der ein­lös­te, so­dass der­sel­be vie­le Jah­re ein Zeu­ge die­ser Ze­re­mo­ni­en ge­we­sen.

Nach­dem der Ge­sand­te sei­ne An­re­de ge­hal­ten, das Ge­schenk ab­ge­ge­ben, von dem Schult­hei­ßen die Ver­si­che­rung fort­dau­ern­der Be­güns­ti­gung emp­fan­gen, so ent­fern­te er sich aus dem ge­schlos­se­nen Krei­se, die Pfei­fer blie­sen, der Zug ging ab, wie er ge­kom­men war, das Ge­richt ver­folg­te sei­ne Ge­schäf­te, bis der zwei­te und end­lich der drit­te Ge­sand­te ein­ge­führt wur­den: denn sie ka­men erst ei­ni­ge Zeit nach ein­an­der, teils da­mit das Ver­gnü­gen des Pub­li­kums län­ger dau­re, teils auch weil es im­mer die­sel­ben al­ter­tüm­li­chen Vir­tuo­sen wa­ren, wel­che Nürn­berg für sich und sei­ne Mit­städ­te zu un­ter­hal­ten und je­des Jahr an Ort und Stel­le zu brin­gen über­nom­men hat­te.

Wir Kin­der wa­ren bei die­sem Fes­te be­son­ders in­ter­es­siert, weil es uns nicht we­nig schmei­chel­te, un­sern Groß­va­ter an ei­ner so eh­ren­vol­len Stel­le zu se­hen, und weil wir ge­wöhn­lich noch sel­bi­gen Tag ihn ganz be­schei­den zu be­su­chen pfleg­ten, um, wenn die Groß­mut­ter den Pfef­fer in ihre Ge­würz­la­den ge­schüt­tet hät­te, einen Be­cher und Stäb­chen, ein paar Hand­schuh oder einen al­ten Rä­der-Al­bus zu er­ha­schen. Man konn­te sich die­se sym­bo­li­schen, das Al­ter­tum gleich­sam her­vor­zau­bern­den Ze­re­mo­ni­en nicht er­klä­ren las­sen, ohne in ver­gan­ge­ne Jahr­hun­der­te wie­der zu­rück­ge­führt zu wer­den, ohne sich nach Sit­ten, Ge­bräu­chen und Ge­sin­nun­gen un­se­rer Alt­vor­dern zu er­kun­di­gen, die sich durch wie­der auf­er­stan­de­ne Pfei­fer und Ab­ge­ord­ne­te, ja durch hand­greif­li­che und für uns be­sitz­ba­re Ga­ben auf eine so wun­der­li­che Wei­se ver­ge­gen­wär­tig­ten.

Sol­chen alt­ehr­wür­di­gen Fei­er­lich­kei­ten folg­te in gu­ter Jahrs­zeit man­ches für uns Kin­der lus­t­rei­che­re Fest au­ßer­halb der Stadt un­ter frei­em Him­mel. An dem rech­ten Ufer des Mains un­ter­wärts, etwa eine hal­be Stun­de vom Tor, quillt ein Schwe­fel­brun­nen, sau­ber ein­ge­fasst und mit ur­al­ten Lin­den um­ge­ben. Nicht weit da­von steht der Hof zu den gu­ten Leu­ten, eh­mals ein um die­ser Quel­le wil­len er­bau­tes Ho­spi­tal. Auf den Ge­mein­wei­den um­her ver­sam­mel­te man zu ei­nem ge­wis­sen Tage des Jah­res die Rind­vieh­her­den aus der Nach­bar­schaft, und die Hir­ten samt ih­ren Mäd­chen fei­er­ten ein länd­li­ches Fest, mit Tanz und Ge­sang, mit man­cher­lei Lust und An­ge­zo­gen­heit. Auf der an­de­ren Sei­te der Stadt lag ein ähn­li­cher, nur grö­ße­rer Ge­mein­de­platz, gleich­falls durch einen Brun­nen und durch noch schö­ne­re Lin­den ge­ziert. Dor­thin trieb man zu Pfings­ten die Schaf­her­den, und zu glei­cher Zeit ließ man die ar­men, ver­bleich­ten Wai­sen­kin­der aus ih­ren Mau­ern ins Freie: denn man soll­te erst spä­ter auf den Ge­dan­ken ge­ra­ten, dass man sol­che ver­las­se­ne Krea­tu­ren, die sich einst durch die Welt durch­zu­hel­fen ge­nö­tigt sind, früh mit der Welt in Ver­bin­dung brin­gen, an­statt sie auf eine trau­ri­ge Wei­se zu he­gen, sie lie­ber gleich zum Die­nen und Dul­den ge­wöh­nen müs­se und alle Ur­sach habe, sie von Kin­des­bei­nen an so­wohl phy­sisch als mo­ra­lisch zu kräf­ti­gen. Die Am­men und Mäg­de, wel­che sich selbst im­mer gern einen Spa­zier­gang be­rei­ten, ver­fehl­ten nicht, von den frühs­ten Zei­ten, uns an der­glei­chen Orte zu tra­gen und zu füh­ren, so­dass die­se länd­li­chen Fes­te wohl mit zu den ers­ten Ein­drücken ge­hö­ren, de­ren ich mich er­in­nern kann.

Das Haus war in­des­sen fer­tig ge­wor­den, und zwar in ziem­lich kur­z­er Zeit, weil al­les wohl über­legt, vor­be­rei­tet und für die nö­ti­ge Geld­sum­me ge­sorgt war. Wir fan­den uns nun alle wie­der ver­sam­melt und fühl­ten uns be­hag­lich: denn ein wohl­aus­ge­dach­ter Plan, wenn er aus­ge­führt da­steht, lässt al­les ver­ges­sen, was die Mit­tel, um zu die­sem Zweck zu ge­lan­gen, Un­be­que­mes mö­gen ge­habt ha­ben. Das Haus war für eine Pri­vat­woh­nung ge­räu­mig ge­nug, durch­aus hell und hei­ter, die Trep­pe frei, die Vor­sä­le luf­tig, und jene Aus­sicht über die Gär­ten aus meh­re­ren Fens­tern be­quem zu ge­nie­ßen. Der in­ne­re Aus­bau, und was zur Vollen­dung und Zier­de ge­hört, ward nach und nach voll­bracht und diente zu­gleich zur Be­schäf­ti­gung und zur Un­ter­hal­tung.

Das ers­te, was man in Ord­nung brach­te, war die Bü­cher­samm­lung des Va­ters, von wel­cher die bes­ten, in Franz- oder Halb­franz­band ge­bun­de­nen Bü­cher die Wän­de sei­nes Ar­beits- und Stu­dier­zim­mers schmücken soll­ten. Er be­saß die schö­nen hol­län­di­schen Aus­ga­ben der la­tei­ni­schen Schrift­stel­ler, wel­che er der äu­ßern Über­ein­stim­mung we­gen sämt­lich in Quart an­zu­schaf­fen such­te; so­dann vie­les, was sich auf die rö­mi­schen An­ti­qui­tä­ten und die ele­gan­te­re Ju­rispru­denz be­zieht. Die vor­züg­lichs­ten ita­liä­ni­schen Dich­ter fehl­ten nicht, und für den Tas­so be­zeig­te er eine große Vor­lie­be. Die bes­ten neus­ten Rei­se­be­schrei­bun­gen wa­ren auch vor­han­den, und er selbst mach­te sich ein Ver­gnü­gen dar­aus, den Keyß­ler und Ne­meiz zu be­rich­ti­gen und zu er­gän­zen. Nicht we­ni­ger hat­te er sich mit den nö­tigs­ten Hilfs­mit­teln um­ge­ben, mit Wör­ter­bü­chern aus ver­schie­de­nen Spra­chen, mit Re­al­le­xi­ken, dass man sich also nach Be­lie­ben Rats er­ho­len konn­te, so wie mit man­chem an­de­ren, was zum Nut­zen und Ver­gnü­gen ge­reicht.

Die an­de­re Hälf­te die­ser Bü­cher­samm­lung, in sau­bern Per­ga­ment­bän­den mit sehr schön ge­schrie­be­nen Ti­teln, ward in ei­nem be­son­dern Man­sard­zim­mer auf­ge­stellt. Das Nach­schaf­fen der neu­en Bü­cher, so wie das Bin­den und Ein­rei­hen der­sel­ben, be­trieb er mit großer Ge­las­sen­heit und Ord­nung. Da­bei hat­ten die ge­lehr­ten An­zei­gen, wel­che die­sem oder je­nem Werk be­son­de­re Vor­zü­ge bei­leg­ten, auf ihn großen Ein­fluss. Sei­ne Samm­lung ju­ris­ti­scher Dis­ser­ta­tio­nen ver­mehr­te sich jähr­lich um ei­ni­ge Bän­de.

Zu­nächst aber wur­den die Ge­mäl­de, die sonst in dem al­ten Hau­se zer­streut her­um­ge­han­gen, nun­mehr zu­sam­men an den Wän­den ei­nes freund­li­chen Zim­mers ne­ben der Stu­dier­stu­be, alle in schwar­zen, mit gol­de­nen Stäb­chen ver­zier­ten Rah­men, sym­me­trisch an­ge­bracht. Mein Va­ter hat­te den Grund­satz, den er öf­ters und so­gar lei­den­schaft­lich aus­sprach, dass man die le­ben­den Meis­ter be­schäf­ti­gen und we­ni­ger auf die ab­ge­schie­de­nen wen­den sol­le, bei de­ren Schät­zung sehr viel Vor­ur­teil mit un­ter­lau­fe. Er hat­te die Vor­stel­lung, dass es mit den Ge­mäl­den völ­lig wie mit den Rhein­wei­nen be­schaf­fen sei, die, wenn ih­nen gleich das Al­ter einen vor­züg­li­chen Wert bei­le­ge, den­noch in je­dem fol­gen­den Jah­re eben so vor­treff­lich als in den ver­gan­ge­nen könn­ten her­vor­ge­bracht wer­den. Nach Ver­lauf ei­ni­ger Zeit wer­de der neue Wein auch ein al­ter, eben so kost­bar und viel­leicht noch schmack­haf­ter. In die­ser Mei­nung be­stä­tig­te er sich vor­züg­lich durch die Be­mer­kung, dass meh­re­re alte Bil­der haupt­säch­lich da­durch für die Lieb­ha­ber einen großen Wert zu er­hal­ten schie­nen, weil sie dunk­ler und bräu­ner ge­wor­den, und der har­mo­ni­sche Ton ei­nes sol­chen Bil­des öf­ters ge­rühmt wur­de. Mein Va­ter ver­si­cher­te da­ge­gen, es sei ihm gar nicht ban­ge, dass die neu­en Bil­der künf­tig nicht auch schwarz wer­den soll­ten; dass sie aber ge­ra­de da­durch ge­wön­nen, woll­te er nicht zu­ge­ste­hen.

Nach die­sen Grund­sät­zen be­schäf­tig­te er meh­re­re Jah­re hin­durch die sämt­li­chen Frank­fur­ter Künst­ler: den Ma­ler Hirt, wel­cher Ei­chen- und Bu­chen­wäl­der und an­de­re so­ge­nann­te länd­li­che Ge­gen­den sehr wohl mit Vieh zu staf­fie­ren wuss­te; des­glei­chen Traut­mann, der sich den Rem­brandt zum Mus­ter ge­nom­men und es in ein­ge­schlos­se­nen Lich­tern und Wi­der­schei­nen, nicht we­ni­ger in ef­fekt­vol­len Feu­ers­brüns­ten weit ge­bracht hat­te, so­dass er eins­tens auf­ge­for­dert wur­de, einen Pend­ant zu ei­nem Rem­brand­ti­schen Bil­de zu ma­len; fer­ner Schütz, der auf dem Wege des Sacht­le­ben die Rhein­ge­gen­den flei­ßig be­ar­bei­te­te; nicht we­ni­ger Jun­ckern, der Blu­men- und Frucht­stücke, Still­le­ben und ru­hig be­schäf­tig­te Per­so­nen nach dem Vor­gang der Nie­der­län­der sehr rein­lich aus­führ­te. Nun aber ward durch die neue Ord­nung, durch einen be­que­mern Raum und noch mehr durch die Be­kannt­schaft ei­nes ge­schick­ten Künst­lers die Lieb­ha­be­rei wie­der an­ge­frischt und be­lebt. Die­ses war See­katz, ein Schü­ler von Brin­ck­mann, darm­städ­ti­scher Hof­ma­ler, des­sen Ta­lent und Cha­rak­ter sich in der Fol­ge vor uns um­ständ­li­cher ent­wi­ckeln wird.

Man schritt auf die­se Wei­se mit Vollen­dung der üb­ri­gen Zim­mer, nach ih­ren ver­schie­de­nen Be­stim­mun­gen, wei­ter. Rein­lich­keit und Ord­nung herrsch­ten im gan­zen; vor­züg­lich tru­gen große Spie­gel­schei­ben das Ih­ri­ge zu ei­ner voll­kom­me­nen Hel­lig­keit bei, die in dem al­ten Hau­se aus meh­rern Ur­sa­chen, zu­nächst aber auch we­gen meist runder Fens­ter­schei­ben ge­fehlt hat­te. Der Va­ter zeig­te sich hei­ter, weil ihm al­les gut ge­lun­gen war; und wäre der gute Hu­mor nicht manch­mal da­durch un­ter­bro­chen wor­den, dass nicht im­mer der Fleiß und die Ge­nau­ig­keit der Hand­wer­ker sei­nen For­de­run­gen ent­spra­chen, so hät­te man kein glück­li­che­res Le­ben den­ken kön­nen, zu­mal da man­ches Gute teils in der Fa­mi­lie selbst ent­sprang, teils ihr von au­ßen zu­floss.

Durch ein au­ßer­or­dent­li­ches Wel­ter­eig­nis wur­de je­doch die Ge­müts­ru­he des Kna­ben zum ers­ten Mal im tiefs­ten er­schüt­tert. Am 1. No­vem­ber 1755 er­eig­ne­te sich das Erd­be­ben von Lissa­bon und ver­brei­te­te über die in Frie­den und Ruhe schon ein­ge­wohn­te Welt einen un­ge­heu­ren Schre­cken. Eine große präch­ti­ge Re­si­denz, zu­gleich Han­dels- und Ha­fen­stadt, wird un­ge­warnt von dem furcht­bars­ten Un­glück be­trof­fen. Die Erde bebt und schwankt, das Meer braust auf, die Schif­fe schla­gen zu­sam­men, die Häu­ser stür­zen ein, Kir­chen und Tür­me dar­über her, der kö­nig­li­che Palast zum Teil wird vom Mee­re ver­schlun­gen, die ge­bors­te­ne Erde scheint Flam­men zu spei­en, denn über­all mel­det sich Rauch und Brand in den Rui­nen. Sech­zig­tau­send Men­schen, einen Au­gen­blick zu­vor noch ru­hig und be­hag­lich, ge­hen mit­ein­an­der zu Grun­de, und der Glück­lichs­te dar­un­ter ist der zu nen­nen, dem kei­ne Emp­fin­dung, kei­ne Be­sin­nung über das Un­glück mehr ge­stat­tet ist. Die Flam­men wü­ten fort, und mit ih­nen wü­tet eine Schar sonst ver­bor­gner, oder durch die­ses Er­eig­nis in Frei­heit ge­setz­ter Ver­bre­cher. Die un­glück­li­chen Üb­rig­ge­blie­be­nen sind dem Rau­be, dem Mor­de, al­len Miss­hand­lun­gen bloß­ge­stellt; und so be­haup­tet von al­len Zei­ten die Na­tur ihre schran­ken­lo­se Will­kür.

Schnel­ler als die Nach­rich­ten hat­ten schon An­deu­tun­gen von die­sem Vor­fall sich durch große Land­stre­cken ver­brei­tet: an vie­len Or­ten wa­ren schwä­che­re Er­schüt­te­run­gen zu ver­spü­ren, an man­chen Quel­len, be­son­ders den heil­sa­men, ein un­ge­wöhn­li­ches In­ne­hal­ten zu be­mer­ken ge­we­sen; um de­sto grö­ßer war die Wir­kung der Nach­rich­ten selbst, wel­che erst im All­ge­mei­nen, dann aber mit schreck­li­chen Ein­zel­hei­ten sich rasch ver­brei­te­ten. Hier­auf lie­ßen es die Got­tes­fürch­ti­gen nicht an Be­trach­tun­gen, die Phi­lo­so­phen nicht an Trost­grün­den, an Straf­pre­dig­ten die Geist­lich­keit nicht feh­len. So vie­les zu­sam­men rich­te­te die Auf­merk­sam­keit der Welt eine Zeit lang auf die­sen Punkt, und die durch frem­des Un­glück auf­ge­reg­ten Ge­mü­ter wur­den durch Sor­gen für sich selbst und die Ih­ri­gen umso mehr ge­ängs­tigt, als über die weit­ver­brei­te­te Wir­kung die­ser Ex­plo­si­on von al­len Or­ten und En­den im­mer meh­re­re und um­ständ­li­che­re Nach­rich­ten ein­lie­fen, viel­leicht hat der Dä­mon des Schre­ckens zu kei­ner Zeit so schnell und so mäch­tig sei­ne Schau­er über die Erde ver­brei­tet.

Der Kna­be, der al­les die­ses wie­der­holt ver­neh­men muss­te, war nicht we­nig be­trof­fen. Gott, der Schöp­fer und Er­hal­ter Him­mels und der Er­den, den ihm die Er­klä­rung des ers­ten Glau­bens­ar­ti­kels so wei­se und gnä­dig vor­stell­te, hat­te sich, in­dem er die Ge­rech­ten mit den Un­ge­rech­ten glei­chem Ver­der­ben preis­gab, kei­nes­wegs vä­ter­lich be­wie­sen. Ver­ge­bens such­te das jun­ge Ge­müt sich ge­gen die­se Ein­drücke her­zu­stel­len, wel­ches über­haupt umso we­ni­ger mög­lich war, als die Wei­sen und Schrift­ge­lehr­ten selbst sich über die Art, wie man ein sol­ches Phä­no­men an­zu­se­hen habe, nicht ver­ei­ni­gen konn­ten.

Der fol­gen­de Som­mer gab eine nä­he­re Ge­le­gen­heit, den zor­ni­gen Gott, von dem das Alte Te­sta­ment so viel über­lie­fert, un­mit­tel­bar ken­nen zu ler­nen. Un­ver­se­hens brach ein Ha­gel­wet­ter her­ein und schlug die neu­en Spie­gel­schei­ben der ge­gen Abend ge­le­ge­nen Hin­ter­sei­te des Hau­ses un­ter Don­ner und Blit­zen auf das ge­walt­sams­te zu­sam­men, be­schä­dig­te die neu­en Mö­beln, ver­derb­te ei­ni­ge schätz­ba­re Bü­cher und sonst wer­te Din­ge und war für die Kin­der umso fürch­ter­li­cher, als das ganz au­ßer sich ge­setz­te Haus­ge­sin­de sie in einen dunklen Gang mit fort­riss und dort auf den Kni­en lie­gend durch schreck­li­ches Ge­heul und Ge­schrei die er­zürn­te Gott­heit zu ver­söh­nen glaub­te; in­des­sen der Va­ter, ganz al­lein ge­fasst, die Fens­ter­flü­gel auf­riss und aus­hob, wo­durch er zwar man­che Schei­ben ret­te­te, aber auch dem auf den Ha­gel fol­gen­den Re­gen­guss einen de­sto off­nern Weg be­rei­te­te, so­dass man sich, nach end­li­cher Er­ho­lung, auf den Vor­sä­len und Trep­pen von flu­ten­dem und rin­nen­dem Was­ser um­ge­ben sah.

Sol­che Vor­fäl­le, wie stö­rend sie auch im gan­zen wa­ren, un­ter­bra­chen doch nur we­nig den Gang und die Fol­ge des Un­ter­richts, den der Va­ter selbst uns Kin­dern zu ge­ben sich ein­mal vor­ge­nom­men. Er hat­te sei­ne Ju­gend auf dem Ko­bur­ger Gym­na­si­um zu­ge­bracht, wel­ches un­ter den deut­schen Lehr­an­stal­ten eine der ers­ten Stel­len ein­nahm. Er hat­te da­selbst einen gu­ten Grund in den Spra­chen, und was man sonst zu ei­ner ge­lehr­ten Er­zie­hung rech­ne­te, ge­legt, nach­her in Leip­zig sich der Rechts­wis­sen­schaft be­flis­sen und zu­letzt in Gie­ßen pro­mo­viert. Sei­ne mit Ernst und Fleiß ver­fass­te Dis­ser­ta­ti­on: Elec­ta de adi­tio­ne here­di­ta­tis, wird noch von den Rechts­leh­rern mit Lob an­ge­führt.

Es ist ein from­mer Wunsch al­ler Vä­ter, das, was ih­nen selbst ab­ge­gan­gen, an den Söh­nen rea­li­siert zu se­hen, so un­ge­fähr, als wenn man zum zwei­ten Mal leb­te und die Er­fah­run­gen des ers­ten Le­bens­lau­fes nun erst recht nut­zen woll­te. Im Ge­fühl sei­ner Kennt­nis­se, in Ge­wiss­heit ei­ner treu­en Aus­dau­er und im Miss­trau­en ge­gen die da­ma­li­gen Leh­rer, nahm der Va­ter sich vor, sei­ne Kin­der selbst zu un­ter­rich­ten und nur so viel, als es nö­tig schi­en, ein­zel­ne Stun­den durch ei­gent­li­che Lehr­meis­ter zu be­set­zen. Ein päd­ago­gi­scher Di­let­tan­tis­mus fing sich über­haupt schon zu zei­gen an. Die Pe­dan­te­rie und Trüb­sin­nig­keit der an öf­fent­li­chen Schu­len an­ge­stell­ten Leh­rer moch­te wohl die ers­te Ver­an­las­sung dazu ge­ben. Man such­te nach et­was Bes­se­rem und ver­gaß, wie man­gel­haft al­ler Un­ter­richt sein muss, der nicht durch Leu­te vom Me­tier er­teilt wird.

Mei­nem Va­ter war sein eig­ner Le­bens­gang bis da­hin ziem­lich nach Wunsch ge­lun­gen; ich soll­te den­sel­ben Weg ge­hen, aber be­que­mer und wei­ter. Er schätz­te mei­ne an­ge­bor­nen Ga­ben umso mehr, als sie ihm man­gel­ten: denn er hat­te al­les nur durch un­säg­li­chen Fleiß, An­halt­sam­keit und Wie­der­ho­lung er­wor­ben. Er ver­si­cher­te mir öf­ters, frü­her und spä­ter, im Ernst und Scherz, dass er mit mei­nen An­la­gen sich ganz an­ders wür­de be­nom­men und nicht so lie­der­lich da­mit wür­de ge­wirt­schaf­tet ha­ben.

Durch schnel­les Er­grei­fen, Ver­ar­bei­ten und Fest­hal­ten ent­wuchs ich sehr bald dem Un­ter­richt, den mir mein Va­ter und die üb­ri­gen Lehr­meis­ter ge­ben konn­ten, ohne dass ich doch in ir­gen­det­was be­grün­det ge­we­sen wäre. Die Gram­ma­tik miss­fiel mir, weil ich sie nur als ein will­kür­li­ches Ge­setz an­sah; die Re­geln schie­nen mir lä­cher­lich, weil sie durch so vie­le Aus­nah­men auf­ge­ho­ben wur­den, die ich alle wie­der be­son­ders ler­nen soll­te. Und wäre nicht der ge­reim­te an­ge­hen­de La­tei­ner ge­we­sen, so hät­te es schlimm mit mir aus­ge­se­hen; doch die­sen trom­mel­te und sang ich mir gern vor. So hat­ten wir auch eine Geo­gra­fie in sol­chen Ge­dächt­nis­ver­sen, wo uns die ab­ge­schmack­tes­ten Rei­me das zu Be­hal­ten­de am bes­ten ein­präg­ten, z. B.:

Ober-Ys­sel; viel Mo­rast

Macht das gute Land ver­hasst.

Die Sprach­for­men und -wen­dun­gen fass­te ich leicht; so auch ent­wi­ckel­te ich mir schnell, was in dem Be­griff ei­ner Sa­che lag. In rhe­to­ri­schen Din­gen, Chri­en und der­glei­chen tat es mir nie­mand zu­vor, ob ich schon we­gen Sprach­feh­ler oft hint­an­ste­hen muss­te. Sol­che Auf­sät­ze wa­ren es je­doch, die mei­nem Va­ter be­son­de­re Freu­de mach­ten, und we­gen de­ren er mich mit man­chem, für einen Kna­ben be­deu­ten­den Geld­ge­schenk be­lohn­te.

Mein Va­ter lehr­te die Schwes­ter in dem­sel­ben Zim­mer Ita­liä­nisch, wo ich den Cel­la­ri­us aus­wen­dig zu ler­nen hat­te. In­dem ich nun mit mei­nem Pen­sum bald fer­tig war und doch still sit­zen soll­te, horch­te ich über das Buch weg und fass­te das Ita­liä­ni­sche, das mir als eine lus­ti­ge Ab­wei­chung des La­tei­ni­schen auf­fiel, sehr be­hän­de.

An­de­re Früh­zei­tig­kei­ten in Ab­sicht auf Ge­dächt­nis und Kom­bi­na­ti­on hat­te ich mit je­nen Kin­dern ge­mein, die da­durch einen frü­hen Ruf er­langt ha­ben. Des­halb konn­te mein Va­ter kaum er­war­ten, bis ich auf Aka­de­mie ge­hen wür­de. Sehr bald er­klär­te er, dass ich in Leip­zig, für wel­ches er eine große Vor­lie­be be­hal­ten, gleich­falls Jura stu­die­ren, als­dann noch eine an­de­re Uni­ver­si­tät be­su­chen und pro­mo­vie­ren soll­te. Was die­se zwei­te be­traf, war es ihm gleich­gül­tig, wel­che ich wäh­len wür­de; nur ge­gen Göt­tin­gen hat­te er, ich weiß nicht warum, ei­ni­ge Ab­nei­gung, zu mei­nem Leid­we­sen: denn ich hat­te ge­ra­de auf die­se viel Zu­trau­en und große Hoff­nun­gen ge­setzt.

Fer­ner er­zähl­te er mir, dass ich nach Wetz­lar und Re­gens­burg, nicht we­ni­ger nach Wien und von da nach Ita­li­en ge­hen soll­te; ob er gleich wie­der­holt be­haup­te­te, man müs­se Pa­ris vor­aus se­hen, weil man aus Ita­li­en kom­mend sich an nichts mehr er­get­ze.

Die­ses Mär­chen mei­nes künf­ti­gen Ju­gend­gan­ges ließ ich mir gern wie­der­ho­len, be­son­ders da es in eine Er­zäh­lung von Ita­li­en und zu­letzt in eine Be­schrei­bung von Nea­pel aus­lief. Sein sons­ti­ger Ernst und sei­ne Tro­cken­heit schie­nen sich je­der­zeit auf­zu­lö­sen und zu be­le­ben, und so er­zeug­te sich in uns Kin­dern der lei­den­schaft­li­che Wunsch, auch die­ser Pa­ra­die­se teil­haft zu wer­den.

Pri­vat­stun­den, wel­che sich nach und nach ver­mehr­ten, teil­te ich mit Nach­bars­kin­dern. Die­ser ge­mein­sa­me Un­ter­richt för­der­te mich nicht; die Leh­rer gin­gen ih­ren Schlen­dri­an, und die Un­ar­ten, ja manch­mal die Bös­ar­tig­kei­ten mei­ner Ge­sel­len brach­ten Un­ruh, Ver­druss und Stö­rung in die kärg­li­chen Lehr­stun­den. Chre­sto­ma­thi­en, wo­durch die Be­leh­rung hei­ter und man­nig­fal­tig wird, wa­ren noch nicht bis zu uns ge­kom­men. Der für jun­ge Leu­te so star­re Cor­ne­li­us Nepos, das all­zu leich­te und durch Pre­dig­ten und Re­li­gi­ons­un­ter­richt so­gar tri­vi­al ge­w­ord­ne Neue Te­sta­ment, Cel­la­ri­us und Pa­sor konn­ten uns kein In­ter­es­se ge­ben; da­ge­gen hat­te sich eine ge­wis­se Reim- und Ver­se­wut, durch Le­sung der da­ma­li­gen deut­schen Dich­ter, un­ser be­mäch­tigt. Mich hat­te sie schon frü­her er­grif­fen, als ich es lus­tig fand, von der rhe­to­ri­schen Be­hand­lung der Auf­ga­ben zu der poe­ti­schen über­zu­ge­hen.

Wir Kna­ben hat­ten eine sonn­täg­li­che Zu­sam­men­kunft, wo je­der von ihm selbst ver­fer­tig­te Ver­se pro­du­zie­ren soll­te. Und hier be­geg­ne­te mir et­was Wun­der­ba­res, was mich sehr lan­ge in Un­ruh setz­te. Mei­ne Ge­dich­te, wie sie auch sein moch­ten, muss­te ich im­mer für die bes­sern hal­ten. Al­lein ich be­merk­te bald, dass mei­ne Mit­wer­ber, wel­che sehr lah­me Din­ge vor­brach­ten, in dem glei­chen Fal­le wa­ren und sich nicht we­ni­ger dünk­ten; ja was mir noch be­denk­li­cher schi­en, ein gu­ter, ob­gleich zu sol­chen Ar­bei­ten völ­lig un­fä­hi­ger Kna­be, dem ich üb­ri­gens ge­wo­gen war, der aber sei­ne Rei­me sich vom Hof­meis­ter ma­chen ließ, hielt die­se nicht al­lein für die al­ler­bes­ten, son­dern war völ­lig über­zeugt, er habe sie selbst ge­macht; wie er mir, in dem ver­trau­te­ren Ver­hält­nis, worin ich mir ihm stand, je­der­zeit auf­rich­tig be­haup­te­te. Da ich nun sol­chen Irr­tum und Wahn­sinn of­fen­bar vor mir sah, fiel es mir ei­nes Ta­ges aufs Herz, ob ich mich viel­leicht selbst in dem Fal­le be­fän­de, ob nicht jene Ge­dich­te wirk­lich bes­ser sei­en als die mei­ni­gen, und ob ich nicht mit Recht je­nen Kna­ben eben so toll als sie mir vor­kom­men möch­te? Die­ses be­un­ru­hig­te mich sehr und lan­ge Zeit: denn es war mir durch­aus un­mög­lich, ein äu­ße­res Kenn­zei­chen der Wahr­heit zu fin­den; ja ich stock­te so­gar in mei­nen Her­vor­brin­gun­gen, bis mich end­lich Leicht­sinn und Selbst­ge­fühl und zu­letzt eine Pro­be­ar­beit be­ru­hig­ten, die uns Leh­rer und El­tern, wel­che auf un­se­re Scher­ze auf­merk­sam ge­wor­den, aus dem Steg­reif auf­ga­ben, wo­bei ich gut be­stand und all­ge­mei­nes Lob da­von­trug.

Man hat­te zu der Zeit noch kei­ne Biblio­the­ken für Kin­der ver­an­stal­tet. Die Al­ten hat­ten selbst noch kind­li­che Ge­sin­nun­gen und fan­den es be­quem, ihre ei­ge­ne Bil­dung der Nach­kom­men­schaft mit­zu­tei­len. Au­ßer dem »Or­bis pic­tus« des Amos Co­me­ni­us kam uns kein Buch die­ser Art in die Hän­de; aber die große Fo­lio­bi­bel, mit Kup­fern von Me­ri­an, ward häu­fig von uns durch­blät­tert; Gott­frieds »Chro­nik«, mit Kup­fern des­sel­ben Meis­ters, be­lehr­te uns von den merk­wür­digs­ten Fäl­len der Welt­ge­schich­te; die »A­cer­ra phi­lo­lo­gi­ca« tat noch al­ler­lei Fa­beln, My­tho­lo­gi­en und Selt­sam­kei­ten hin­zu; und da ich gar bald die Ovi­di­schen »Ver­wand­lun­gen« ge­wahr wur­de und be­son­ders die ers­ten Bü­cher flei­ßig stu­dier­te, so war mein jun­ges Ge­hirn schnell ge­nug mit ei­ner Mas­se von Bil­dern und Be­ge­ben­hei­ten, von be­deu­ten­den und wun­der­ba­ren Ge­stal­ten und Er­eig­nis­sen an­ge­füllt, und ich konn­te nie­mals lan­ge Wei­le ha­ben, in­dem ich mich im­mer­fort be­schäf­tig­te, die­sen Er­werb zu ver­ar­bei­ten, zu wie­der­ho­len, wie­der her­vor­zu­brin­gen.

Ei­nen fröm­mern, sitt­li­chern Ef­fekt, als jene mit­un­ter ro­hen und ge­fähr­li­chen Al­ter­tüm­lich­kei­ten, mach­te Fe­ne­lons »Te­le­mach«, den ich erst nur in der Neu­kirchi­schen Über­set­zung ken­nen lern­te und der, auch so un­voll­kom­men über­lie­fert, eine gar süße und wohl­tä­ti­ge Wir­kung auf mein Ge­müt äu­ßer­te. Dass »Ro­bin­son Cru­soe« sich zei­tig an­ge­schlos­sen, liegt wohl in der Na­tur der Sa­che; dass »die In­sel Fel­sen­burg« nicht ge­fehlt habe, lässt sich den­ken. Lord An­sons »Rei­se um die Welt« ver­band das Wür­di­ge der Wahr­heit mit dem Fan­ta­sie­rei­chen des Mär­chens, und in­dem wir die­sen treff­li­chen See­mann mit den Ge­dan­ken be­glei­te­ten, wur­den wir weit in alle Welt hin­aus­ge­führt und ver­such­ten, ihm mit un­sern Fin­gern auf dem Glo­bus zu fol­gen. Nun soll­te mir auch noch eine reich­li­che­re Ern­te be­vor­stehn, in­dem ich an eine Mas­se Schrif­ten ge­riet, die zwar in ih­rer ge­gen­wär­ti­gen Ge­stalt nicht vor­treff­lich ge­nannt wer­den kön­nen, de­ren In­halt je­doch uns man­ches Ver­dienst vo­ri­ger Zei­ten in ei­ner un­schul­di­gen Wei­se nä­her bringt.

Der Ver­lag oder viel­mehr die Fa­brik je­ner Bü­cher, wel­che in der fol­gen­den Zeit un­ter dem Ti­tel Volks­schrif­ten, Volks­bü­cher, be­kannt und so­gar be­rühmt ge­wor­den, war in Frank­furt selbst, und sie wur­den, we­gen des großen Ab­gangs, mit ste­hen­den Let­tern auf das schreck­lichs­te Lösch­pa­pier fast un­le­ser­lich ge­druckt. Wir Kin­der hat­ten also das Glück, die­se schätz­ba­ren Über­res­te der Mit­tel­zeit auf ei­nem Tisch­chen vor der Hau­stü­re ei­nes Bü­cher­tröd­lers täg­lich zu fin­den und sie uns für ein paar Kreu­zer zu­zu­eig­nen. Der »Eu­len­spie­gel«, »Die vier Hai­mons­kin­der«, »Die schö­ne Me­lu­si­ne«, »Der Kai­ser Ok­ta­vi­an«, »Die schö­ne Ma­ge­lo­ne«, »For­tu­na­tus«, mit der gan­zen Sipp­schaft bis auf den »Ewi­gen Ju­den«, al­les stand uns zu Diens­ten, so­bald uns ge­lüs­te­te, nach die­sen Wer­ken an­statt nach ir­gend ei­ner Nä­sche­rei zu grei­fen. Der größ­te Vor­teil da­bei war, dass, wenn wir ein sol­ches Heft zer­le­sen oder sonst be­schä­digt hat­ten, es bald wie­der an­ge­schafft und aufs neue ver­schlun­gen wer­den konn­te.

Wie eine Fa­mi­li­en­spa­zier­fahrt im Som­mer durch ein plötz­li­ches Ge­wit­ter auf eine höchst ver­drieß­li­che Wei­se ge­stört und ein fro­her Zu­stand in den wi­der­wär­tigs­ten ver­wan­delt wird, so fal­len auch die Kin­der­krank­hei­ten un­er­war­tet in die schöns­te Jahrs­zeit des Früh­le­bens. Mir er­ging es auch nicht an­ders. Ich hat­te mir eben den »For­tu­na­tus« mit sei­nem Sä­ckel und Wünsch­hüt­lein ge­kauft, als mich ein Miss­be­ha­gen und ein Fie­ber über­fiel, wo­durch die Po­cken sich an­kün­dig­ten. Die Ein­imp­fung der­sel­ben ward bei uns noch im­mer für sehr pro­ble­ma­tisch an­ge­se­hen, und ob sie gleich po­pu­lä­re Schrift­stel­ler schon fass­lich und ein­dring­lich emp­foh­len, so zau­der­ten doch die deut­schen Ärz­te mit ei­ner Ope­ra­ti­on, wel­che der Na­tur vor­zu­grei­fen schi­en. Spe­ku­lie­ren­de Eng­län­der ka­men da­her aufs fes­te Land und impf­ten, ge­gen ein an­sehn­li­ches Ho­no­rar, die Kin­der sol­cher Per­so­nen, die sie wohl­ha­bend und frei von Vor­ur­teil fan­den. Die Mehr­zahl je­doch war noch im­mer dem al­ten Un­heil aus­ge­setzt; die Krank­heit wü­te­te durch die Fa­mi­li­en, tö­te­te und ent­stell­te vie­le Kin­der, und we­ni­ge El­tern wag­ten es, nach ei­nem Mit­tel zu grei­fen, des­sen wahr­schein­li­che Hil­fe doch schon durch den Er­folg man­nig­fal­tig be­stä­tigt war. Das Übel be­traf nun auch un­ser Haus und über­fiel mich mit ganz be­son­de­rer Hef­tig­keit. Der gan­ze Kör­per war mit Blat­tern über­sä­et, das Ge­sicht zu­ge­deckt, und ich lag meh­re­re Tage blind und in großen Lei­den. Man such­te die mög­lichs­te Lin­de­rung und ver­sprach mir gol­de­ne Ber­ge, wenn ich mich ru­hig ver­hal­ten und das Übel nicht durch Rei­ben und Krat­zen ver­meh­ren woll­te. Ich ge­wann es über mich; in­des­sen hielt man uns, nach herr­schen­dem Vor­ur­teil, so warm als mög­lich und schärf­te da­durch nur das Übel. End­lich, nach trau­rig ver­flos­se­ner Zeit, fiel es mir wie eine Mas­ke vom Ge­sicht, ohne dass die Blat­tern eine sicht­ba­re Spur auf der Haut zu­rück­ge­las­sen; aber die Bil­dung war merk­lich ver­än­dert. Ich selbst war zu­frie­den, nur wie­der das Ta­ges­licht zu se­hen und nach und nach die fle­cki­ge Haut zu ver­lie­ren; aber an­de­re wa­ren un­barm­her­zig ge­nug, mich öf­ters an den vo­ri­gen Zu­stand zu er­in­nern; be­son­ders eine sehr leb­haf­te Tan­te, die frü­her Ab­göt­te­rei mit mir ge­trie­ben hat­te, konn­te mich, selbst noch in spä­tem Jah­ren, sel­ten an­se­hen, ohne aus­zu­ru­fen: »Pfui Teu­fel! Vet­ter, wie gars­tig ist Er ge­wor­den!« Dann er­zähl­te sie mir um­ständ­lich, wie sie sich sonst an mir er­geht, wel­ches Auf­se­hen sie er­regt, wenn sie mich um­her­ge­tra­gen; und so er­fuhr ich früh­zei­tig, dass uns die Men­schen für das Ver­gnü­gen, das wir ih­nen ge­währt ha­ben, sehr oft emp­find­lich bü­ßen las­sen.

We­der von Ma­sern noch Wind­blat­tern, und wie die Quäl­geis­ter der Ju­gend hei­ßen mö­gen, blieb ich ver­schont, und je­des Mal ver­si­cher­te man mir, es wäre ein Glück, dass die­ses Übel nun für im­mer vor­über sei; aber lei­der droh­te schon wie­der ein andres im Hin­ter­grund und rück­te her­an. Alle die­se Din­ge ver­mehr­ten mei­nen Hang zum Nach­den­ken, und da ich, um das Pein­li­che der Un­ge­duld von mir zu ent­fer­nen, mich schon öf­ter im Aus­dau­ern ge­übt hat­te, so schie­nen mir die Tu­gen­den, wel­che ich an den Stoi­kern hat­te rüh­men hö­ren, höchst nach­ah­mens­wert, umso mehr, als durch die christ­li­che Dul­dungs­leh­re ein Ähn­li­ches emp­foh­len wur­de.

Bei Ge­le­gen­heit die­ses Fa­mi­li­en­lei­dens will ich auch noch ei­nes Bru­ders ge­den­ken, wel­cher, um drei Jahr jün­ger als ich, gleich­falls von je­ner An­ste­ckung er­grif­fen wur­de und nicht we­nig da­von litt. Er war von zar­ter Na­tur, still und ei­gen­sin­nig, und wir hat­ten nie­mals ein ei­gent­li­ches Ver­hält­nis zu­sam­men. Auch über­leb­te er kaum die Kin­der­jah­re. Un­ter meh­rern nach­ge­bor­nen Ge­schwis­tern, die gleich­falls nicht lan­ge am Le­ben blie­ben, er­in­ne­re ich mich nur ei­nes sehr schö­nen und an­ge­neh­men Mäd­chens, die aber auch bald ver­schwand, da wir denn nach Ver­lauf ei­ni­ger Jah­re, ich und mei­ne Schwes­ter, uns al­lein üb­rig sa­hen und nur umso in­ni­ger und lie­be­vol­ler ver­ban­den.

Jene Krank­hei­ten und an­de­re un­an­ge­neh­me Stö­run­gen wur­den in ih­ren Fol­gen dop­pelt läs­tig: denn mein Va­ter, der sich einen ge­wis­sen Er­zie­hungs- und Un­ter­richts­ka­len­der ge­macht zu ha­ben schi­en, woll­te je­des Ver­säum­nis un­mit­tel­bar wie­der ein­brin­gen und be­leg­te die Ge­ne­sen­den mit dop­pel­ten Lek­tio­nen, wel­che zu leis­ten mir zwar nicht schwer, aber in­so­fern be­schwer­lich fiel, als es mei­ne in­ne­re Ent­wick­lung, die eine ent­schie­de­ne Rich­tung ge­nom­men hat­te, auf­hielt und ge­wis­ser­ma­ßen zu­rück­dräng­te.

Vor die­sen di­dak­ti­schen und päd­ago­gi­schen Be­dräng­nis­sen flüch­te­ten wir ge­wöhn­lich zu den Gro­ß­el­tern. Ihre Woh­nung lag auf der Fried­ber­ger Gas­se und schi­en eh­mals eine Burg ge­we­sen zu sein: denn wenn man her­an­kam, sah man nichts als ein großes Tor mit Zin­nen, wel­ches zu bei­den Zei­ten an zwei Nach­bar­häu­ser stieß. Trat man hin­ein, so ge­lang­te man durch einen schma­len Gang end­lich in einen ziem­lich brei­ten Hof, um­ge­ben von un­glei­chen Ge­bäu­den, wel­che nun­mehr alle zu ei­ner Woh­nung ver­ei­nigt wa­ren. Ge­wöhn­lich eil­ten wir so­gleich in den Gar­ten, der sich an­sehn­lich lang und breit hin­ter den Ge­bäu­den hin er­streck­te und sehr gut un­ter­hal­ten war, die Gän­ge meis­tens mit Reb­ge­län­der ein­ge­fasst, ein Teil des Raums den Kü­chen­ge­wäch­sen, ein an­de­rer den Blu­men ge­wid­met, die vom Früh­jahr bis in den Herbst in reich­li­cher Ab­wechs­lung die Ra­bat­ten so wie die Bee­te schmück­ten. Die lan­ge, ge­gen Mit­tag ge­rich­te­te Mau­er war zu wohl ge­zo­ge­nen Spa­lier-Pfir­sich­bäu­men genützt, von de­nen uns die ver­bo­te­nen Früch­te den Som­mer über gar ap­pe­tit­lich ent­ge­gen­reif­ten. Doch ver­mie­den wir lie­ber die­se Sei­te, weil wir un­se­re Genä­schig­keit hier nicht be­frie­di­gen durf­ten, und wand­ten uns zu der ent­ge­gen­ge­setz­ten, wo eine un­ab­seh­ba­re Rei­he Jo­han­nis- und Sta­chel­beer­bü­sche un­se­rer Gie­rig­keit eine Fol­ge von Ern­ten bis in den Herbst er­öff­ne­te. Nicht we­ni­ger war uns ein al­ter, ho­her, weit­ver­brei­te­ter Maul­beer­baum be­deu­tend, so­wohl we­gen sei­ner Früch­te, als auch weil man uns er­zähl­te, dass von sei­nen Blät­tern die Sei­den­wür­mer sich er­nähr­ten. In die­sem fried­li­chen Re­vier fand man je­den Abend den Groß­va­ter mit be­hag­li­cher Ge­schäf­tig­keit ei­gen­hän­dig die fei­ne­re Obst- und Blu­men­zucht be­sor­gend, in­des ein Gärt­ner die grö­be­re Ar­beit ver­rich­te­te. Die viel­fa­chen Be­mü­hun­gen, wel­che nö­tig sind, um einen schö­nen Nel­ken­flor zu er­hal­ten und zu ver­meh­ren, ließ er sich nie­mals ver­drie­ßen. Er selbst band sorg­fäl­tig die Zwei­ge der Pfir­sich­bäu­me fä­cher­ar­tig an die Spa­lie­re, um einen reich­li­chen und be­que­men Wachs­tum der Früch­te zu be­för­dern. Das Sor­tie­ren der Zwie­beln von Tul­pen, Hya­zin­then und ver­wand­ter Ge­wäch­se, so wie die Sor­ge für Auf­be­wah­rung der­sel­ben über­ließ er nie­man­den; und noch er­in­ne­re ich mich gern, wie em­sig er sich mit dem Oku­lie­ren1 der ver­schie­de­nen Ro­sen­ar­ten be­schäf­tig­te. Da­bei zog er, um sich vor den Dor­nen zu schüt­zen, jene al­ter­tüm­li­chen le­der­nen Hand­schu­he an, die ihm beim Pfei­fer­ge­richt jähr­lich in Tri­plo über­reicht wur­den, wor­an es ihm des­halb nie­mals man­gel­te. So trug er auch im­mer einen talar­ähn­li­chen Schlaf­rock und auf dem Haupt eine fal­ti­ge schwar­ze Samt­müt­ze, so­dass er eine mitt­le­re Per­son zwi­schen Al­ki­nous und Laer­tes hät­te vor­stel­len kön­nen.

Alle die­se Gar­ten­ar­bei­ten be­trieb er eben so re­gel­mä­ßig und ge­nau als sei­ne Amts­ge­schäf­te: denn eh’ er her­un­ter­kam, hat­te er im­mer die Re­gis­tran­de sei­ner Pro­po­nen­den für den an­de­ren Tag in Ord­nung ge­bracht und die Ak­ten ge­le­sen. Eben so fuhr er mor­gens aufs Rat­haus, speis­te nach sei­ner Rück­kehr, nick­te hier­auf in sei­nem Groß­stuhl, und so ging al­les einen Tag wie den an­de­ren. Er sprach we­nig, zeig­te kei­ne Spur von Hef­tig­keit; ich er­in­ne­re mich nicht, ihn zor­nig ge­se­hen zu ha­ben. Al­les, was ihn um­gab, war al­ter­tüm­lich. In sei­ner ge­tä­fel­ten Stu­be habe ich nie­mals ir­gend eine Neue­rung wahr­ge­nom­men. Sei­ne Biblio­thek ent­hielt au­ßer ju­ris­ti­schen Wer­ken nur die ers­ten Rei­se­be­schrei­bun­gen, See­fahr­ten und Län­der-Ent­de­ckun­gen. Über­haupt er­in­ne­re ich mich kei­nes Zu­stan­des, der so wie die­ser das Ge­fühl ei­nes un­ver­brüch­li­chen Frie­dens und ei­ner ewi­gen Dau­er ge­ge­ben hät­te.

Was je­doch die Ehr­furcht, die wir für die­sen wür­di­gen Greis emp­fan­den, bis zum Höchs­ten stei­ger­te, war die Über­zeu­gung, dass der­sel­be die Gabe der Weis­sa­gung be­sit­ze, be­son­ders in Din­gen, die ihn selbst und sein Schick­sal be­tra­fen. Zwar ließ er sich ge­gen nie­mand als ge­gen die Groß­mut­ter ent­schie­den und um­ständ­lich her­aus; aber wir alle wuss­ten doch, dass er durch be­deu­ten­de Träu­me von dem, was sich er­eig­nen soll­te, un­ter­rich­tet wer­de. So ver­si­cher­te er z. B. sei­ner Gat­tin, zur­zeit als er noch un­ter die jün­gern Rats­her­ren ge­hör­te, dass er bei der nächs­ten Va­kanz auf der Schöf­fen­bank zu der er­le­dig­ten Stel­le ge­lan­gen wür­de. Und als wirk­lich bald dar­auf ei­ner der Schöf­fen vom Schla­ge ge­rührt starb, ver­ord­ne­te er am Tage der Wahl und Ku­ge­lung, dass zu Hau­se im Stil­len al­les zum Empfang der Gäs­te und Gra­tu­lan­ten sol­le ein­ge­rich­tet wer­den, und die ent­schei­den­de gold­ne Ku­gel ward wirk­lich für ihn ge­zo­gen. Den ein­fa­chen Traum, der ihn hie­von be­lehrt, ver­trau­te er sei­ner Gat­tin fol­gen­der­ma­ßen: Er habe sich in vol­ler ge­wöhn­li­cher Rats­ver­samm­lung ge­se­hen, wo al­les nach her­ge­brach­ter Wei­se vor­ge­gan­gen; auf ein­mal habe sich der nun ver­stor­be­ne Schöff von sei­nem Sit­ze er­ho­ben, sei her­ab­ge­stie­gen und habe ihm auf eine ver­bind­li­che Wei­se das Kom­pli­ment ge­macht: er möge den ver­las­se­nen Platz ein­neh­men, und sei dar­auf zur Türe hin­aus­ge­gan­gen.

Et­was Ähn­li­ches be­geg­ne­te, als der Schult­heiß mit Tode ab­ging. Man zau­dert in sol­chem Fal­le nicht lan­ge mit Be­set­zung die­ser Stel­le, weil man im­mer zu fürch­ten hat, der Kai­ser wer­de sein al­tes Recht, einen Schult­hei­ßen zu be­stel­len, ir­gend ein­mal wie­der her­vor­ru­fen. Dies­mal ward um Mit­ter­nacht eine au­ßer­or­dent­li­che Sit­zung auf den an­de­ren Mor­gen durch den Ge­richts­bo­ten an­ge­sagt. Weil die­sem nun das Licht in der La­ter­ne ver­lö­schen woll­te, so er­bat er sich ein Stümpf­chen, um sei­nen Weg wei­ter fort­set­zen zu kön­nen. »Gebt ihm ein gan­zes«, sag­te der Groß­va­ter zu den Frau­en: »er hat ja doch die Mühe um mei­net­wil­len.« Die­ser Äu­ße­rung ent­sprach auch der Er­folg: er wur­de wirk­lich Schult­heiß; wo­bei der Um­stand noch be­son­ders merk­wür­dig war, dass, ob­gleich sein Re­prä­sen­tant bei der Ku­ge­lung an der drit­ten und letz­ten Stel­le zu zie­hen hat­te, die zwei sil­ber­nen Ku­geln zu­erst her­aus­ka­men und also die gold­ne für ihn auf dem Grun­de des Beu­tels lie­gen blieb.

Völ­lig pro­sa­isch, ein­fach und ohne Spur von Fan­tas­ti­schem oder Wun­der­sa­mem wa­ren auch die üb­ri­gen der uns be­kannt ge­w­ord­nen Träu­me. Fer­ner er­in­ne­re ich mich, dass ich als Kna­be un­ter sei­nen Bü­chern und Schreib­ka­len­dern ge­stört und dar­in un­ter an­de­ren auf Gärt­ne­rei be­züg­li­chen An­mer­kun­gen aus­ge­zeich­net ge­fun­den: »Heu­te Nacht kam N. N. zu mir und sag­te … . .« Name und Of­fen­ba­rung wa­ren in Chif­fern ge­schrie­ben. Oder es stand auf glei­che Wei­se: »Heu­te Nacht sah ich … .« Das üb­ri­ge war wie­der in Chif­fern, bis auf die Ver­bin­dungs- und an­de­re Wor­te, aus de­nen sich nichts ab­neh­men ließ.

Be­mer­kens­wert bleibt es hie­bei, dass Per­so­nen, wel­che sonst kei­ne Spur von Ah­nungs­ver­mö­gen zeig­ten, in sei­ner Sphä­re für den Au­gen­blick die Fä­hig­keit er­lang­ten, dass sie von ge­wis­sen gleich­zei­ti­gen, ob­wohl in der Ent­fer­nung vor­ge­hen­den Krank­heits- und To­de­ser­eig­nis­sen durch sinn­li­che Wahr­zei­chen eine Vor­emp­fin­dung hat­ten. Aber auf kei­nes sei­ner Kin­der und En­kel hat eine sol­che Gabe fort­ge­erbt; viel­mehr wa­ren sie meis­ten­teils rüs­ti­ge Per­so­nen, le­bens­froh und nur aufs Wirk­li­che ge­stellt.

Bei die­ser Ge­le­gen­heit ge­denk’ ich der­sel­ben mit Dank­bar­keit für vie­les Gute, das ich von ih­nen in mei­ner Ju­gend emp­fan­gen. So wa­ren wir z. B. auf gar man­nig­fal­ti­ge Wei­se be­schäf­tigt und un­ter­hal­ten, wenn wir die an einen Ma­te­ri­al­händ­ler Mel­ber ver­hei­ra­te­te zwei­te Toch­ter be­such­ten, de­ren Woh­nung und La­den mit­ten im leb­haf­tes­ten, ge­dräng­tes­ten Tei­le der Stadt an dem Mark­te lag. Hier sa­hen wir nun dem Ge­wühl und Ge­drän­ge, in wel­ches wir uns scheu­ten zu ver­lie­ren, sehr ver­gnüg­lich aus den Fens­tern zu; und wenn uns im La­den un­ter so vie­ler­lei Wa­ren an­fäng­lich nur das Süß­holz und die dar­aus be­rei­te­ten brau­nen ge­stem­pel­ten Zelt­lein vor­züg­lich in­ter­es­sier­ten, so wur­den wir doch all­mäh­lich mit der großen Men­ge von Ge­gen­stän­den be­kannt, wel­che bei ei­ner sol­chen Hand­lung aus- und ein­flie­ßen. Die­se Tan­te war un­ter den Ge­schwis­tern die leb­haf­tes­te. Wenn mei­ne Mut­ter, in jün­gern Jah­ren, sich in rein­li­cher Klei­dung bei ei­ner zier­li­chen weib­li­chen Ar­beit oder im Le­sen ei­nes Bu­ches ge­fiel, so fuhr jene in der Nach­bar­schaft um­her, um sich dort ver­säum­ter Kin­der an­zu­neh­men, sie zu war­ten, zu käm­men und her­um­zu­tra­gen, wie sie es denn auch mit mir eine gute Wei­le so ge­trie­ben. Zur­zeit öf­fent­li­cher Fei­er­lich­kei­ten, wie bei Krö­nun­gen, war sie nicht zu Hau­se zu hal­ten. Als klei­nes Kind schon hat­te sie nach dem bei sol­chen Ge­le­gen­hei­ten aus­ge­wor­fe­nen Gel­de ge­hascht, und man er­zähl­te sich: wie sie ein­mal eine gute Par­tie bei­sam­men ge­habt und sol­ches ver­gnüg­lich in der fla­chen Hand be­schaut, habe ihr ei­ner da­ge­gen ge­schla­gen, wo­durch denn die wohl­er­wor­be­ne Beu­te auf ein­mal ver­lo­ren ge­gan­gen. Nicht we­ni­ger wuss­te sie sich viel da­mit, dass sie dem vor­bei­fah­ren­den Kai­ser Karl dem Sie­ben­ten, wäh­rend ei­nes Au­gen­blicks, da al­les Volk schwieg, auf ei­nem Prall­stei­ne ste­hend, ein hef­ti­ges Vi­vat in die Kut­sche ge­ru­fen und ihn ver­an­lasst habe, den Hut vor ihr ab­zu­zie­hen und für die­se ke­cke Auf­merk­sam­keit gar gnä­dig zu dan­ken.

Auch in ih­rem Hau­se war um sie her al­les be­wegt, le­bens­lus­tig und mun­ter, und wir Kin­der sind ihr man­che fro­he Stun­de schul­dig ge­wor­den.

In ei­nem ru­hi­gern, aber auch ih­rer Na­tur an­ge­mes­se­nen Zu­stan­de be­fand sich eine zwei­te Tan­te, wel­che mit dem bei der St. Ka­tha­ri­nen-Kir­che an­ge­stell­ten Pfar­rer Starck ver­hei­ra­tet war. Er leb­te sei­ner Ge­sin­nung und sei­nem Stan­de ge­mäß sehr ein­sam und be­saß eine schö­ne Biblio­thek. Hier lern­te ich zu­erst den Ho­mer ken­nen, und zwar in ei­ner pro­sa­i­schen Über­set­zung, wie sie im sie­ben­ten Teil der durch Herrn von Loen be­sorg­ten »Neu­en Samm­lung der merk­wür­digs­ten Rei­se­ge­schich­ten«, un­ter dem Ti­tel: »Ho­mers Be­schrei­bung der Erobe­rung des tro­ja­ni­schen Reichs«, zu fin­den ist, mit Kup­fern im fran­zö­si­schen Thea­ter­sin­ne ge­ziert. Die­se Bil­der verd­ar­ben mir der­ma­ßen die Ein­bil­dungs­kraft, dass ich lan­ge Zeit die Ho­me­ri­schen Hel­den mir nur un­ter die­sen Ge­stal­ten ver­ge­gen­wär­ti­gen konn­te. Die Be­ge­ben­hei­ten selbst ge­fie­len mir un­säg­lich; nur hat­te ich an dem Wer­ke sehr aus­zu­set­zen, dass es uns von der Erobe­rung Tro­jas kei­ne Nach­richt gebe und so stumpf mit dem Tode Hek­tars en­di­ge. Mein Oheim,2 ge­gen den ich die­sen Ta­del äu­ßer­te, ver­wies mich auf den Vir­gil, wel­cher denn mei­ner For­de­rung voll­kom­men Ge­nü­ge tat.

Es ver­steht sich von selbst, dass wir Kin­der, ne­ben den üb­ri­gen Lehr­stun­den, auch ei­nes fort­wäh­ren­den und fort­schrei­ten­den Re­li­gi­ons­un­ter­richts ge­nos­sen. Doch war der kirch­li­che Pro­tes­tan­tis­mus, den man uns über­lie­fer­te, ei­gent­lich nur eine Art von trock­ner Moral: an einen geist­rei­chen Vor­trag ward nicht ge­dacht, und die Leh­re konn­te we­der der See­le noch dem Her­zen zu­sa­gen. Des­we­gen er­ga­ben sich gar man­cher­lei Ab­son­de­run­gen von der ge­setz­li­chen Kir­che. Es ent­stan­den die Se­pa­ra­tis­ten, Pie­tis­ten, Herrn­hu­ter, die Stil­len im Lan­de, und wie man sie sonst zu nen­nen und zu be­zeich­nen pfleg­te, die aber alle bloß die Ab­sicht hat­ten, sich der Gott­heit, be­son­ders durch Chris­tum, mehr zu nä­hern, als es ih­nen un­ter der Form der öf­fent­li­chen Re­li­gi­on mög­lich zu sein schi­en.

Der Kna­be hör­te von die­sen Mei­nun­gen und Ge­sin­nun­gen un­auf­hör­lich spre­chen: denn die Geist­lich­keit so­wohl als die Lai­en teil­ten sich in das Für und Wi­der. Die mehr oder we­ni­ger Ab­ge­son­der­ten wa­ren im­mer die Min­der­zahl, aber ihre Sin­nes­wei­se zog an durch Ori­gi­na­li­tät, Herz­lich­keit, Be­har­ren und Selbst­stän­dig­keit. Man er­zähl­te von die­sen Tu­gen­den und ih­ren Än­de­run­gen al­ler­lei Ge­schich­ten. Be­son­ders ward die Ant­wort ei­nes from­men Klemp­ner­meis­ters be­kannt, den ei­ner sei­ner Zunft­ge­nos­sen durch die Fra­ge zu be­schä­men ge­dach­te: wer denn ei­gent­lich sein Beicht­va­ter sei? Mit Hei­ter­keit und Ver­trau­en auf sei­ne gute Sa­che er­wi­der­te je­ner: Ich habe einen sehr vor­neh­men; es ist nie­mand Ge­rin­ge­res als der Beicht­va­ter des Kö­nigs Da­vid.

Die­ses und der­glei­chen mag wohl Ein­druck auf den Kna­ben ge­macht und ihn zu ähn­li­chen Ge­sin­nun­gen auf­ge­for­dert ha­ben. Ge­nug, er kam auf den Ge­dan­ken, sich dem großen Got­te der Na­tur, dem Schöp­fer und Er­hal­ter Him­mels und der Er­den, des­sen frü­he­re Zorn­äu­ße­run­gen schon lan­ge über die Schön­heit der Welt und das man­nig­fal­ti­ge Gute, das uns dar­in zu teil wird, ver­ges­sen wa­ren, un­mit­tel­bar zu nä­hern; der Weg dazu aber war sehr son­der­bar.

Der Kna­be hat­te sich über­haupt an den ers­ten Glau­bens­ar­ti­kel ge­hal­ten. Der Gott, der mit der Na­tur in un­mit­tel­ba­rer Ver­bin­dung ste­he, sie als sein Werk an­er­ken­ne und lie­be, die­ser schi­en ihm der ei­gent­li­che Gott, der ja­wohl auch mit dem Men­schen wie mit al­lem üb­ri­gen in ein ge­nau­e­res Ver­hält­nis tre­ten kön­ne und für den­sel­ben eben so wie für die Be­we­gung der Ster­ne, für Ta­ges- und Jahrs­zei­ten, für Pflan­zen und Tie­re Sor­ge tra­gen wer­de. Ei­ni­ge Stel­len des Evan­ge­li­ums be­sag­ten die­ses aus­drück­lich. Eine Ge­stalt konn­te der Kna­be die­sem We­sen nicht ver­lei­hen; er such­te ihn also in sei­nen Wer­ken auf und woll­te ihm auf gut alt­tes­ta­ment­li­che Wei­se einen Al­tar er­rich­ten. Na­tur­pro­duk­te soll­ten die Welt im Gleich­nis vor­stel­len, über die­sen soll­te eine Flam­me bren­nen und das zu sei­nem Schöp­fer sich auf­seh­nen­de Ge­müt des Men­schen be­deu­ten. Nun wur­den aus der vor­hand­nen und zu­fäl­lig ver­mehr­ten Na­tu­ra­li­en­samm­lung die bes­ten Stu­fen und Exem­pla­re her­aus­ge­sucht; al­lein, wie sol­che zu schich­ten und auf­zu­bau­en sein möch­ten, das war nun die Schwie­rig­keit. Der Va­ter hat­te einen schö­nen rot­la­ckier­ten gold­ge­blüm­ten Mu­sik­pult, in Ge­stalt ei­ner vier­sei­ti­gen Py­ra­mi­de mit ver­schie­de­nen Ab­stu­fun­gen, den man zu Quar­tet­ten sehr be­quem fand, ob er gleich in der letz­ten Zeit nur we­nig ge­braucht wur­de. Des­sen be­mäch­tig­te sich der Kna­be und bau­te nun stu­fen­wei­se die Ab­ge­ord­ne­ten der Na­tur über ein­an­der, so­dass es recht hei­ter und zu­gleich be­deu­tend ge­nug aus­sah. Nun soll­te bei ei­nem frü­hen Son­nen­auf­gang die ers­te Got­tes­ver­eh­rung an­ge­stellt wer­den; nur war der jun­ge Pries­ter nicht mit sich ei­nig, auf wel­che Wei­se er eine Flam­me her­vor­brin­gen soll­te, die doch auch zu glei­cher Zeit einen gu­ten Ge­ruch von sich ge­ben müs­se. End­lich ge­lang ihm ein Ein­fall, bei­des zu ver­bin­den, in­dem er Räu­cher­kerz­chen be­saß, wel­che, wo nicht flam­mend, doch glim­mend den an­ge­nehms­ten Ge­ruch ver­brei­te­ten. Ja die­ses ge­lin­de Ver­bren­nen und Ver­damp­fen schi­en noch mehr das, was im Ge­mü­te vor­geht, aus­zu­drücken als eine of­fe­ne Flam­me. Die Son­ne war schon längst auf­ge­gan­gen, aber Nach­bar­häu­ser ver­deck­ten den Os­ten. End­lich er­schi­en sie über den Dä­chern; so­gleich ward ein Brenn­glas zur Hand ge­nom­men und die in ei­ner schö­nen Por­zel­lan­scha­le auf dem Gip­fel ste­hen­den Räu­cher­ker­zen an­ge­zün­det. Al­les ge­lang nach Wunsch, und die An­dacht war voll­kom­men. Der Al­tar blieb als eine be­sond­re Zier­de des Zim­mers, das man ihm im neu­en Hau­se ein­ge­räumt hat­te, ste­hen. Je­der­mann sah dar­in nur eine wohl auf­ge­putz­te Na­tu­ra­li­en­samm­lung; der Kna­be hin­ge­gen wuss­te bes­ser, was er ver­schwieg. Er sehn­te sich nach der Wie­der­ho­lung je­ner Fei­er­lich­keit. Un­glück­li­cher­wei­se war eben, als die ge­le­gens­te Son­ne her­vor­stieg, die Por­zel­lan­tas­se nicht bei der Hand: er stell­te die Räu­cher­kerz­chen un­mit­tel­bar auf die obe­re Flä­che des Mu­sik­pul­tes; sie wur­den an­ge­zün­det, und die An­dacht war so groß, dass der Pries­ter nicht merk­te, wel­chen Scha­den sein Op­fer an­rich­te­te, als bis ihm nicht mehr ab­zu­hel­fen war. Die Ker­zen hat­ten sich näm­lich in den ro­ten Lack und in die schö­nen gold­nen Blu­men auf eine schmäh­li­che Wei­se ein­ge­brannt und, gleich als wäre ein bö­ser Geist ver­schwun­den, ihre schwar­zen, un­aus­lösch­li­chen Fuß­stap­fen zu­rück­ge­las­sen. Hier­über kam der jun­ge Pries­ter in die äu­ßers­te Ver­le­gen­heit. Zwar wuss­te er den Scha­den durch die größ­ten Pracht­stu­fen zu be­de­cken, al­lein der Mut zu neu­en Op­fern war ihm ver­gan­gen; und fast möch­te man die­sen Zu­fall als eine An­deu­tung und War­nung be­trach­ten, wie ge­fähr­lich es über­haupt sei, sich Gott auf der­glei­chen We­gen nä­hern zu wol­len.

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