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Drittes Buch

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Der Neu­jahrs­tag ward zu je­ner Zeit durch den all­ge­mei­nen Um­lauf von per­sön­li­chen Glück­wün­schun­gen für die Stadt sehr be­le­bend. Wer sonst nicht leicht aus dem Hau­se kam, warf sich in sei­ne bes­ten Klei­der, um Gön­nern und Freun­den einen Au­gen­blick freund­lich und höf­lich zu sein. Für uns Kin­der war be­son­ders die Fest­lich­keit in dem Hau­se des Groß­va­ters an die­sem Tage ein höchst er­wünsch­ter Ge­nuss. Mit dem frühs­ten Mor­gen wa­ren die En­kel schon da­selbst ver­sam­melt, um die Trom­meln, die Ho­boen und Kla­ri­net­ten, die Po­sau­nen und Zin­ken, wie sie das Mi­li­tär, die Stadt­mu­si­ci und wer sonst al­les er­tö­nen ließ, zu ver­neh­men. Die ver­sie­gel­ten und über­schrie­be­nen Neu­jahrs­ge­schen­ke wur­den von den Kin­dern un­ter die ge­rin­gern Gra­tu­lan­ten aus­ge­teilt, und wie der Tag wuchs, so ver­mehr­te sich die An­zahl der Ho­no­ra­tio­ren. Erst er­schie­nen die Ver­trau­ten und Ver­wand­ten, dann die un­tern Staats­be­am­ten; die Her­ren vom Rate selbst ver­fehl­ten nicht, ih­ren Schult­heiß zu be­grü­ßen, und eine aus­er­wähl­te An­zahl wur­de abends in Zim­mern be­wir­tet, wel­che das gan­ze Jahr über kaum sich öff­ne­ten. Die Tor­ten, Bis­kuit­ku­chen, Mar­zi­pa­ne, der süße Wein übte den größ­ten Reiz auf die Kin­der aus, wozu noch kam, dass der Schult­heiß so wie die bei­den Bur­ge­meis­ter aus ei­ni­gen Stif­tun­gen jähr­lich et­was Sil­ber­zeug er­hiel­ten, wel­ches denn den En­keln und Pa­ten nach ei­ner ge­wis­sen Ab­stu­fung ver­ehrt ward; ge­nug, es fehl­te die­sem Fes­te im klei­nen an nichts, was die größ­ten zu ver­herr­li­chen pflegt.

Der Neu­jahrs­tag 1759 kam her­an, für uns Kin­der er­wünscht und ver­gnüg­lich wie die vo­ri­gen, aber den äl­tern Per­so­nen be­denk­lich und ah­nungs­voll. Die Durch­mär­sche der Fran­zo­sen war man zwar ge­wohnt, und sie er­eig­ne­ten sich öf­ters und häu­fig, aber doch am häu­figs­ten in den letz­ten Ta­gen des ver­gan­ge­nen Jah­res. Nach al­ter reichs­städ­ti­scher Sit­te po­saun­te der Tür­mer des Haupt­turms, so oft Trup­pen her­an­rück­ten, und an die­sem Neu­jahrs­ta­ge woll­te er gar nicht auf­hö­ren, wel­ches ein Zei­chen war, dass grö­ße­re Hee­res­zü­ge von meh­re­ren Sei­ten in Be­we­gung sei­en. Wirk­lich zo­gen sie auch in grö­ße­ren Mas­sen an die­sem Tage durch die Stadt; man lief, sie vor­bei­pas­sie­ren zu se­hen. Sonst war man ge­wohnt, dass sie nur in klei­nen Par­ti­en durch­mar­schier­ten; die­se aber ver­grö­ßer­ten sich nach und nach, ohne dass man es ver­hin­dern konn­te oder woll­te. Ge­nug, am 2ten Ja­nu­ar, nach­dem eine Ko­lon­ne durch Sach­sen­hau­sen über die Brücke durch die Fahr­gas­se bis an die Kon­sta­bler­wa­che ge­langt war, mach­te sie Halt, über­wäl­tig­te das klei­ne, sie durch­füh­ren­de Kom­man­do, nahm Be­sitz von ge­dach­ter Wa­che, zog die Zeil hin­un­ter, und nach ei­nem ge­rin­gen Wi­der­stand muss­te sich auch die Haupt­wa­che er­ge­ben. Au­gen­blicks wa­ren die fried­li­chen Stra­ßen in einen Kriegs­schau­platz ver­wan­delt. Dort ver­harr­ten und bi­voua­kier­ten die Trup­pen, bis durch re­gel­mä­ßi­ge Ein­quar­tie­rung für ihr Un­ter­kom­men ge­sorgt wäre.

Die­se un­er­war­te­te, seit vie­len Jah­ren un­er­hör­te Last drück­te die be­hag­li­chen Bür­ger ge­wal­tig, und nie­man­den konn­te sie be­schwer­li­cher sein als dem Va­ter, der in sein kaum vollen­de­tes Haus frem­de mi­li­tä­ri­sche Be­woh­ner auf­neh­men, ih­nen sei­ne wohl­auf­ge­putz­ten und meist ver­schlos­se­nen Staats­zim­mer ein­räu­men und das, was er so ge­nau zu ord­nen und zu re­gie­ren pfleg­te, frem­der Will­kür preis­ge­ben soll­te; er, oh­ne­hin preu­ßisch ge­sinnt, soll­te sich nun von Fran­zo­sen in sei­nen Zim­mern be­la­gert se­hen: es war das Trau­rigs­te, was ihm nach sei­ner Denk­wei­se be­geg­nen konn­te. Wäre es ihm je­doch mög­lich ge­we­sen, die Sa­che leich­ter zu neh­men, da er gut fran­zö­sisch sprach und im Le­ben sich wohl mit Wür­de und An­mut be­tra­gen konn­te, so hät­te er sich und uns man­che trü­be Stun­de er­spa­ren mö­gen: denn man quar­tier­te bei uns den Kö­nigs­leut­nant, der, ob­gleich Mi­li­tär­per­son, doch nur die Zi­vil­vor­fäl­le, die Strei­tig­kei­ten zwi­schen Sol­da­ten und Bür­gern, Schul­den­sa­chen und Hän­del zu schlich­ten hat­te. Es war Graf Tho­ra­ne, von Gras­se in der Pro­vence, un­weit An­ti­bes, ge­bür­tig, eine lan­ge, ha­g­re, erns­te Ge­stalt, das Ge­sicht durch die Blat­tern sehr ent­stellt, mit schwar­zen, feu­ri­gen Au­gen, und von ei­nem wür­di­gen, zu­sam­men­ge­nom­me­nen Be­tra­gen. Gleich sein Ein­tritt war für den Haus­be­woh­ner güns­tig. Man sprach von den ver­schie­de­nen Zim­mern, wel­che teils ab­ge­ge­ben wer­den, teils der Fa­mi­lie ver­blei­ben soll­ten, und als der Graf ein Ge­mäl­de­zim­mer er­wäh­nen hör­te, so er­bat er sich gleich, ob es schon Nacht war, mit Ker­zen die Bil­der we­nigs­tens flüch­tig zu be­se­hen. Er hat­te an die­sen Din­gen eine über­große Freu­de, be­zeig­te sich ge­gen den ihn be­glei­ten­den Va­ter auf das ver­bind­lichs­te, und als er ver­nahm, dass die meis­ten Künst­ler noch leb­ten, sich in Frank­furt und in der Nach­bar­schaft auf­hiel­ten, so ver­si­cher­te er, dass er nichts mehr wün­sche, als sie bal­digst ken­nen zu ler­nen und sie zu be­schäf­ti­gen.

Aber auch die­se An­nä­he­rung von Sei­ten der Kunst ver­moch­te nicht die Ge­sin­nung mei­nes Va­ters zu än­dern noch sei­nen Cha­rak­ter zu beu­gen. Er ließ ge­sche­hen, was er nicht ver­hin­dern konn­te, hielt sich aber in un­wirk­sa­mer Ent­fer­nung, und das Au­ßer­or­dent­li­che, was nun um ihn vor­ging, war ihm bis auf die ge­rings­te Klei­nig­keit un­er­träg­lich.

Graf Tho­ra­ne in­des­sen be­trug sich mus­ter­haft. Nicht ein­mal sei­ne Land­kar­ten woll­te er an die Wän­de ge­na­gelt ha­ben, um die neu­en Ta­pe­ten nicht zu ver­der­ben. Sei­ne Leu­te wa­ren ge­wandt, still und or­dent­lich; aber frei­lich, da den gan­zen Tag und einen Teil der Nacht nicht Ruhe bei ihm ward, da ein Kla­gen­der dem an­de­ren folg­te, Ar­re­stan­ten ge­bracht und fort­ge­führt, alle Of­fi­zie­re und Ad­ju­tan­ten vor­ge­las­sen wur­den, da der Graf noch über­dies täg­lich off­ne Ta­fel hielt, so gab es in dem mä­ßig großen, nur für eine Fa­mi­lie ein­ge­rich­te­ten Hau­se, das nur eine durch alle Stock­wer­ke un­ver­schlos­sen durch­ge­hen­de Trep­pe hat­te, eine Be­we­gung und ein Ge­sum­me wie in ei­nem Bie­nen­kor­be, ob­gleich al­les sehr ge­mä­ßigt, ernst­haft und streng zu­ging.

Zum Ver­mitt­ler zwi­schen ei­nem ver­drieß­li­chen, täg­lich mehr sich hy­po­chon­drisch quä­len­den Haus­herrn und ei­nem zwar wohl­wol­len­den, aber sehr erns­ten und ge­nau­en Mi­li­tär­gast fand sich glück­li­cher­wei­se ein be­hag­li­cher Dol­met­scher, ein schö­ner, wohl­be­leib­ter, heit­rer Mann, der Bür­ger von Frank­furt war und gut fran­zö­sisch sprach, sich in al­les zu schi­cken wuss­te und mit man­cher­lei klei­nen Unan­nehm­lich­kei­ten nur sei­nen Spaß trieb. Durch die­sen hat­te mei­ne Mut­ter dem Gra­fen ihre Lage bei dem Ge­müts­zu­stan­de ih­res Gat­ten vor­stel­len las­sen; er hat­te die Sa­che so klüg­lich aus­ge­malt, das neue, noch nicht ein­mal ganz ein­ge­rich­te­te Haus, die na­tür­li­che Zu­rück­ge­zo­gen­heit des Be­sit­zers, die Be­schäf­ti­gung mit der Er­zie­hung sei­ner Fa­mi­lie, und was sich al­les sonst noch sa­gen ließ, zu be­den­ken ge­ge­ben, so­dass der Graf, der an sei­ner Stel­le auf die höchs­te Ge­rech­tig­keit, Un­be­stech­lich­keit und eh­ren­vol­len Wan­del den größ­ten Stolz setz­te, auch hier sich als Ein­quar­tier­ter mus­ter­haft zu be­tra­gen vor­nahm und es wirk­lich die ei­ni­gen Jah­re sei­nes Da­blei­bens un­ter man­cher­lei Um­stän­den un­ver­brüch­lich ge­hal­ten hat.

Mei­ne Mut­ter be­saß ei­ni­ge Kennt­nis des Ita­liä­ni­schen, wel­che Spra­che über­haupt nie­man­den von der Fa­mi­lie fremd war: sie ent­schloss sich da­her so­gleich, Fran­zö­sisch zu ler­nen, zu wel­chem Zweck der Dol­met­scher, dem sie un­ter die­sen stür­mi­schen Er­eig­nis­sen ein Kind aus der Tau­fe ge­ho­ben hat­te und der nun auch als Ge­vat­ter zu dem Hau­se eine dop­pel­te Nei­gung spür­te, sei­ner Ge­vat­te­rin je­den ab­ge­mü­ßig­ten Au­gen­blick schenk­te (denn er wohn­te ge­ra­de ge­gen­über) und ihr vor al­len Din­gen die­je­ni­gen Phra­sen ein­lern­te, wel­che sie per­sön­lich dem Gra­fen vor­zu­tra­gen habe; wel­ches denn zum Bes­ten ge­riet. Der Graf war ge­schmei­chelt von der Mühe, wel­che die Haus­frau sich in ih­ren Jah­ren gab, und weil er einen hei­tern, geist­rei­chen Zug in sei­nem Cha­rak­ter hat­te, auch eine ge­wis­se trock­ne Galan­te­rie gern aus­üb­te, so ent­stand dar­aus das bes­te Ver­hält­nis, und die ver­bün­de­ten Ge­vat­tern konn­ten er­lan­gen, was sie woll­ten.

Wäre es, wie schon ge­sagt, mög­lich ge­we­sen, den Va­ter zu er­hei­tern, so hät­te die­ser ver­än­der­te Zu­stand we­nig Drücken­des ge­habt. Der Graf übte die strengs­te Unei­gen­nüt­zig­keit: selbst Ga­ben, die sei­ner Stel­le ge­bühr­ten, lehn­te er ab; das Ge­rings­te, was ei­ner Be­ste­chung hät­te ähn­lich se­hen kön­nen, wur­de mit Zorn, ja mit Stra­fe weg­ge­wie­sen; sei­nen Leu­ten war aufs strengs­te be­foh­len, dem Haus­be­sit­zer nicht die min­des­ten Un­kos­ten zu ma­chen. Da­ge­gen wur­de uns Kin­dern reich­lich vom Nach­ti­sche mit­ge­teilt. Bei die­ser Ge­le­gen­heit muss ich, um von der Un­schuld je­ner Zei­ten einen Be­griff zu ge­ben, an­füh­ren, dass die Mut­ter uns ei­nes Ta­ges höch­lich be­trüb­te, in­dem sie das Ge­fro­re­ne, das man uns von der Ta­fel sen­de­te, weg­goss, weil es ihr un­mög­lich vor­kam, dass der Ma­gen ein wahr­haf­tes Eis, wenn es auch noch so durch­zu­ckert sei, ver­tra­gen kön­ne.

Au­ßer die­sen Le­cke­rei­en, die wir denn doch all­mäh­lich ganz gut ge­nie­ßen und ver­tra­gen lern­ten, deuch­te es uns Kin­dern auch noch gar be­hag­lich, von ge­nau­en Lehr­stun­den und stren­ger Zucht ei­ni­ger­ma­ßen ent­bun­den zu sein. Des Va­ters üble Lau­ne nahm zu, er konn­te sich nicht in das Un­ver­meid­li­che er­ge­ben. Wie sehr quäl­te er sich, die Mut­ter und den Ge­vat­ter, die Rats­her­ren, alle sei­ne Freun­de, nur um den Gra­fen los­zu­wer­den! Ver­ge­bens stell­te man ihm vor, dass die Ge­gen­wart ei­nes sol­chen Man­nes im Hau­se, un­ter den ge­ge­be­nen Um­stän­den, eine wah­re Wohl­tat sei, dass ein ewi­ger Wech­sel, es sei nun von Of­fi­zie­ren oder Ge­mei­nen, auf die Um­quar­tie­rung des Gra­fen fol­gen wür­de. Keins von die­sen Ar­gu­men­ten woll­te bei ihm grei­fen. Das Ge­gen­wär­ti­ge schi­en ihm so un­er­träg­lich, dass ihn sein Un­mut ein Schlim­me­res, das fol­gen könn­te, nicht ge­wahr wer­den ließ.

Auf die­se Wei­se ward sei­ne Tä­tig­keit ge­lähmt, die er sonst haupt­säch­lich auf uns zu wen­den ge­wohnt war. Das, was er uns auf­gab, for­der­te er nicht mehr mit der sons­ti­gen Ge­nau­ig­keit, und wir such­ten, wie es nur mög­lich schi­en, un­se­re Neu­gier­de an mi­li­tä­ri­schen und an­de­ren öf­fent­li­chen Din­gen zu be­frie­di­gen, nicht al­lein im Hau­se, son­dern auch auf den Stra­ßen, wel­ches umso leich­ter an­ging, da die Tag und Nacht un­ver­schlos­se­ne Hau­stü­re von Schild­wa­chen be­setzt war, die sich um das Hin- und Wi­der­lau­fen un­ru­hi­ger Kin­der nichts be­küm­mer­ten.

Die man­cher­lei An­ge­le­gen­hei­ten, die vor dem Richter­stuh­le des Kö­nigs­leut­nants ge­schlich­tet wur­den, hat­ten da­durch noch einen ganz be­son­dern Reiz, dass er einen ei­ge­nen Wert dar­auf leg­te, sei­ne Ent­schei­dun­gen zu­gleich mit ei­ner wit­zi­gen, geist­rei­chen, hei­tern Wen­dung zu be­glei­ten. Was er be­fahl, war streng ge­recht; die Art, wie er es aus­drück­te, war lau­nig und pi­kant. Er schi­en sich den Her­zog von Os­suña zum Vor­bil­de ge­nom­men zu ha­ben. Es ver­ging kaum ein Tag, dass der Dol­met­scher nicht eine oder die an­de­re sol­che An­ek­do­te uns und der Mut­ter zur Auf­hei­te­rung er­zähl­te. Es hat­te die­ser mun­te­re Mann eine klei­ne Samm­lung sol­cher Sa­lo­mo­ni­schen Ent­schei­dun­gen ge­macht; ich er­in­ne­re mich aber nur des Ein­drucks im All­ge­mei­nen, ohne im Ge­dächt­nis ein Be­son­de­res wie­der­zu­fin­den.

Den wun­der­ba­ren Cha­rak­ter des Gra­fen lern­te man nach und nach im­mer mehr ken­nen. Die­ser Mann war sich selbst sei­ner Ei­gen­hei­ten aufs deut­lichs­te be­wusst, und weil er ge­wis­se Zei­ten ha­ben moch­te, wo ihn eine Art von Un­mut, Hy­po­chon­drie, oder wie man den bö­sen Dä­mon nen­nen soll, über­fiel, so zog er sich in sol­chen Stun­den, die sich manch­mal zu Ta­gen ver­län­ger­ten, in sein Zim­mer zu­rück, sah nie­man­den als sei­nen Kam­mer­die­ner und war selbst in drin­gen­den Fäl­len nicht zu be­we­gen, dass er Au­di­enz ge­ge­ben hät­te. So­bald aber der böse Geist von ihm ge­wi­chen war, er­schi­en er nach wie vor, mild, hei­ter und tä­tig. Aus den Re­den sei­nes Kam­mer­die­ners, Saint Jean, ei­nes klei­nen ha­gern Man­nes von mun­t­rer Gut­mü­tig­keit, konn­te man schlie­ßen, dass er in frü­hern Jah­ren, von sol­cher Stim­mung über­wäl­tigt, großes Un­glück an­ge­rich­tet und sich nun vor ähn­li­chen Ab­we­gen, bei ei­ner so wich­ti­gen, den Bli­cken al­ler Welt aus­ge­setz­ten Stel­le, zu hü­ten ernst­lich vor­neh­me.

Gleich in den ers­ten Ta­gen der An­we­sen­heit des Gra­fen wur­den die sämt­li­chen Frank­fur­ter Ma­ler, als Hirt, Schütz, Traut­mann, No­th­na­gel, Jun­cker, zu ihm be­ru­fen. Sie zeig­ten ihre fer­ti­gen Ge­mäl­de vor, und der Graf eig­ne­te sich das Ver­käuf­li­che zu. Ihm wur­de mein hüb­sches hel­les Gie­bel­zim­mer in der Man­sar­de ein­ge­räumt und so­gleich in ein Ka­bi­nett und Ate­lier um­ge­wan­delt: denn er war wil­lens, die sämt­li­chen Künst­ler, vor al­len aber See­katz in Darm­stadt, des­sen Pin­sel ihm be­son­ders bei na­tür­li­chen und un­schul­di­gen Vor­stel­lun­gen höch­lich ge­fiel, für eine gan­ze Zeit in Ar­beit zu set­zen. Er ließ da­her von Gras­se, wo sein äl­te­rer Bru­der ein schö­nes Ge­bäu­de be­sit­zen moch­te, die sämt­li­chen Maße al­ler Zim­mer und Ka­bi­net­te her­bei­kom­men, über­leg­te so­dann mit den Künst­lern die Wand­ab­tei­lun­gen und be­stimm­te die Grö­ße der hier­nach zu ver­fer­ti­gen­den an­sehn­li­chen Öl­bil­der, wel­che nicht in Rah­men ein­ge­fasst, son­dern als Ta­pe­tentei­le auf die Wand be­fes­tigt wer­den soll­ten. Hier ging nun die Ar­beit eif­rig an. See­katz über­nahm länd­li­che Sze­nen, worin die Grei­se und Kin­der, un­mit­tel­bar nach der Na­tur ge­malt, ganz herr­lich glück­ten; die Jüng­lin­ge woll­ten ihm nicht eben so ge­ra­ten, sie wa­ren meist zu ha­ger; und die Frau­en miss­fie­len aus der ent­ge­gen­ge­setz­ten Ur­sa­che. Denn da er eine klei­ne di­cke, gute aber un­an­ge­neh­me Per­son zur Frau hat­te, die ihm au­ßer sich selbst nicht wohl ein Mo­dell zuließ, so woll­te nichts Ge­fäl­li­ges zu stan­de kom­men. Zu­dem war er ge­nö­tigt ge­we­sen, über das Maß sei­ner Fi­gu­ren hin­aus­zu­ge­hen. Sei­ne Bäu­me hat­ten Wahr­heit, aber ein klein­li­ches Blät­ter­werk. Er war ein Schü­ler von Brink­mann, des­sen Pin­sel in Staf­fe­lei­ge­mäl­den nicht zu schel­ten ist.

Schütz, der Land­schaft­ma­ler, fand sich viel­leicht am bes­ten in die Sa­che. Die Rhein­ge­gen­den hat­te er ganz in sei­ner Ge­walt, so wie den son­ni­gen Ton, der sie in der schö­nen Jah­res­zeit be­lebt. Er war nicht ganz un­ge­wohnt, in ei­nem grö­ßern Maß­sta­be zu ar­bei­ten, und auch da ließ er es an Aus­füh­rung und Hal­tung nicht feh­len. Er lie­fer­te sehr heitre Bil­der.

Traut­mann rem­brand­tis­ter­te ei­ni­ge Au­fer­we­ckungs­wun­der des Neu­en Te­sta­ments und zün­de­te ne­ben­her Dör­fer und Müh­len an. Auch ihm war, wie ich aus den Au­fris­sen der Zim­mer be­mer­ken konn­te, ein ei­ge­nes Ka­bi­nett zu­ge­teilt wor­den. Hirt mal­te ei­ni­ge gute Ei­chen- und Bu­chen­wäl­der. Sei­ne Her­den wa­ren lo­bens­wert. Jun­cker, an die Nach­ah­mung der aus­führ­lichs­ten Nie­der­län­der ge­wöhnt, konn­te sich am we­nigs­ten in die­sen Ta­pe­ten­stil fin­den; je­doch be­quem­te er sich, für gute Zah­lung, mit Blu­men und Früch­ten man­che Ab­tei­lung zu ver­zie­ren.

Da ich alle die­se Män­ner von mei­ner frühs­ten Ju­gend an ge­kannt und sie oft in ih­ren Werk­stät­ten be­sucht hat­te, auch der Graf mich gern um sich lei­den moch­te, so war ich bei den Auf­ga­ben, Be­rat­schla­gun­gen und Be­stel­lun­gen, wie auch bei den Ab­lie­fe­run­gen ge­gen­wär­tig und nahm mir, zu­mal wenn Skiz­zen und Ent­wür­fe ein­ge­reicht wur­den, mei­ne Mei­nung zu er­öff­nen gar wohl her­aus. Ich hat­te mir schon frü­her bei Ge­mäl­de­lieb­ha­bern, be­son­ders aber auf Auk­tio­nen, de­nen ich flei­ßig bei­wohn­te, den Ruhm er­wor­ben, dass ich gleich zu sa­gen wis­se, was ir­gend ein his­to­ri­sches Bild vor­stel­le, es sei nun aus der bib­li­schen oder der Pro­fan-Ge­schich­te oder aus der My­tho­lo­gie ge­nom­men; und wenn ich auch den Sinn der al­le­go­ri­schen Bil­der nicht im­mer traf, so war doch sel­ten je­mand ge­gen­wär­tig, der es bes­ser ver­stand als ich. So hat­te ich auch öf­ters die Künst­ler ver­mocht, die­sen oder je­nen Ge­gen­stand vor­zu­stel­len, und sol­cher Vor­tei­le be­dien­te ich mich ge­gen­wär­tig mir Lust und Lie­be. Ich er­in­ne­re mich noch, dass ich einen um­ständ­li­chen Auf­satz ver­fer­tig­te, worin ich zwölf Bil­der be­schrieb, wel­che die Ge­schich­te Jo­se­phs dar­stel­len soll­ten: ei­ni­ge da­von wur­den aus­ge­führt.

Nach die­sen, für einen Kna­ben al­ler­dings löb­li­chen Ver­rich­tun­gen, will ich auch ei­ner klei­nen Be­schä­mung, die mir in­ner­halb die­ses Künst­ler­krei­ses be­geg­ne­te, Er­wäh­nung tun. Ich war näm­lich mir al­len Bil­dern wohl be­kannt, wel­che man nach und nach in je­nes Zim­mer ge­bracht hat­te. Mei­ne ju­gend­li­che Neu­gier­de ließ nichts un­ge­se­hen und un­un­ter­sucht. Einst fand ich hin­ter dem Ofen ein schwar­zes Käst­chen: ich er­man­gel­te nicht, zu for­schen, was dar­in ver­bor­gen sei, und ohne mich lan­ge zu be­sin­nen, zog ich den Schie­ber weg. Das dar­in ent­hal­te­ne Ge­mäl­de war frei­lich von der Art, die man den Au­gen nicht aus­zu­stel­len pflegt, und ob ich es gleich al­so­bald wie­der zu­zu­schie­ben An­stalt mach­te, so konn­te ich doch nicht ge­schwind ge­nug da­mit fer­tig wer­den. Der Graf trat her­ein und er­tapp­te mich. – »Wer hat Euch er­laubt, die­ses Käst­chen zu er­öff­nen?« sag­te er mit sei­ner Kö­nigs­leut­nants-Mie­ne. Ich hat­te nicht viel dar­auf zu ant­wor­ten, und er sprach so­gleich die Stra­fe sehr ernst­haft aus: »Ihr wer­det in acht Ta­gen«, sag­te er, »die­ses Zim­mer nicht be­tre­ten«. – Ich mach­te eine Ver­beu­gung und ging hin­aus. Auch ge­horch­te ich die­sem Ge­bot aufs pünkt­lichs­te, so­dass es dem gu­ten See­katz, der eben in dem Zim­mer ar­bei­te­te, sehr ver­drieß­lich war – denn er hat­te mich gern um sich –, und ich trieb aus ei­ner klei­nen Tücke den Ge­hor­sam so weit, dass ich See­kat­zen sei­nen Kaf­fee, den ich ihm ge­wöhn­lich brach­te, auf die Schwel­le setz­te; da er denn von sei­ner Ar­beit auf­ste­hen und ihn ho­len muss­te, wel­ches er so übel emp­fand, dass er mir fast gram ge­wor­den wäre.

Nun aber scheint es nö­tig, um­ständ­li­cher an­zu­zei­gen und be­greif­lich zu ma­chen, wie ich mir in sol­chen Fäl­len in der fran­zö­si­schen Spra­che, die ich doch nicht ge­lernt, mit mehr oder we­ni­ger Be­quem­lich­keit durch­ge­hol­fen. Auch hier kam mir die an­ge­bor­ne Gabe zu stat­ten, dass ich leicht den Schall und Klang ei­ner Spra­che, ihre Be­we­gung, ih­ren Ak­zent, den Ton und was sonst von äu­ßern Ei­gen­tüm­lich­kei­ten fas­sen konn­te. Aus dem La­tei­ni­schen wa­ren mir vie­le Wor­te be­kannt; das Ita­liä­ni­sche ver­mit­tel­te noch mehr, und so horch­te ich in kur­z­er Zeit von Be­dien­ten und Sol­da­ten, Schild­wa­chen und Be­su­chen so viel her­aus, dass ich mich, wo nicht ins Ge­spräch mi­schen, doch we­nigs­tens ein­zel­ne Fra­gen und Ant­wor­ten be­ste­hen konn­te. Aber die­ses war al­les nur we­nig ge­gen den Vor­teil, den mir das Thea­ter brach­te. Von mei­nem Groß­va­ter hat­te ich ein Frei­bil­let er­hal­ten, des­sen ich mich, mit Wi­der­wil­len mei­nes Va­ters, un­ter dem Bei­stand mei­ner Mut­ter, täg­lich be­dien­te. Hier saß ich nun im Par­terre vor ei­ner frem­den Büh­ne und pass­te umso mehr auf Be­we­gung, mi­mi­schen und Rede-Aus­druck, als ich we­nig oder nichts von dem ver­stand, was da oben ge­spro­chen wur­de, und also mei­ne Un­ter­hal­tung nur vom Ge­bär­den­spiel und Sprachton neh­men konn­te. Von der Ko­mö­die ver­stand ich am we­nigs­ten, weil sie ge­schwind ge­spro­chen wur­de und sich auf Din­ge des ge­mei­nen Le­bens be­zog, de­ren Aus­drücke mir gar nicht be­kannt wa­ren. Die Tra­gö­die kam selt­ner vor, und der ge­mes­se­ne Schritt, das Takt­ar­ti­ge der Alex­an­dri­ner, das All­ge­mei­ne des Aus­drucks mach­ten sie mir in je­dem Sin­ne fass­li­cher. Es dau­er­te nicht lan­ge, so nahm ich den Ra­ci­ne, den ich in mei­nes Va­ters Biblio­thek an­traf, zur Hand und de­kla­mier­te mir die Stücke nach thea­tra­li­scher Art und Wei­se, wie sie das Or­gan mei­nes Ohrs und das ihm so ge­nau ver­wand­te Spra­ch­or­gan ge­fasst hat­te, mit großer Leb­haf­tig­keit, ohne dass ich noch eine gan­ze Rede im Zu­sam­men­hang hät­te ver­ste­hen kön­nen. Ja ich lern­te gan­ze Stel­len aus­wen­dig und re­zi­tier­te sie, wie ein ein­ge­lern­ter Sprach­vo­gel; wel­ches mir umso leich­ter ward, als ich frü­her die für ein Kind meist un­ver­ständ­li­chen bib­li­schen Stel­len aus­wen­dig ge­lernt und sie in dem Ton der pro­tes­tan­ti­schen Pre­di­ger zu re­zi­tie­ren mich ge­wöhnt hat­te. Das ver­si­fi­zier­te fran­zö­si­sche Lust­spiel war da­mals sehr be­liebt: die Stücke von De­stou­ches, Ma­ri­vaux, La Chaus­sée ka­men häu­fig vor, und ich er­in­ne­re mich noch deut­lich man­cher cha­rak­te­ris­ti­schen Fi­gu­ren. Von den Mo­lièri­schen ist mir we­ni­ger im Sinn ge­blie­ben. Was am meis­ten Ein­druck auf mich mach­te, war die »Hy­per­m­ne­stra« von Le­mier­re, die als ein neu­es Stück mit Sorg­falt auf­ge­führt und wie­der­holt ge­ge­ben wur­de. Höchst an­mu­tig war der Ein­druck, den der »De­vin du Vil­la­ge«, »Rose et Calas«, »An­net­te et Lu­bin« auf mich mach­ten. Ich kann mir die be­bän­der­ten Bu­ben und Mäd­chen und ihre Be­we­gun­gen noch jetzt zu­rück­ru­fen. Es dau­er­te nicht lan­ge, so reg­te sich der Wunsch bei mir, mich auf dem Thea­ter selbst um­zu­se­hen, wozu sich mir so man­cher­lei Ge­le­gen­heit dar­bot. Denn da ich nicht im­mer die gan­zen Stücke aus­zu­hö­ren Ge­duld hat­te und man­che Zeit in den Kor­ri­dors, auch wohl bei ge­lin­de­rer Jahrs­zeit vor der Tür, mit an­de­ren Kin­dern mei­nes Al­ters al­ler­lei Spie­le trieb, so ge­sell­te sich ein schö­ner mun­te­rer Kna­be zu uns, der zum Thea­ter ge­hör­te und den ich in man­chen klei­nen Rol­len, ob­wohl nur bei­läu­fig, ge­se­hen hat­te. Mit mir konn­te er sich am bes­ten ver­stän­di­gen, in­dem ich mein Fran­zö­sisch bei ihm gel­tend zu ma­chen wuss­te; und er knüpf­te sich umso mehr an mich, als kein Kna­be sei­nes Al­ters und sei­ner Na­ti­on beim Thea­ter oder sonst in der Nähe war. Wir gin­gen auch au­ßer der Thea­ter­zeit zu­sam­men, und selbst wäh­rend der Vor­stel­lun­gen ließ er mich sel­ten in Ruhe. Er war ein al­ler­liebs­ter klei­ner Auf­schnei­der, schwätz­te schar­mant und un­auf­hör­lich und wuss­te so viel von sei­nen Aben­teu­ern, Hän­deln und an­de­ren Son­der­bar­kei­ten zu er­zäh­len, dass er mich au­ßer­or­dent­lich un­ter­hielt und ich von ihm, was Spra­che und Mit­tei­lung durch die­sel­be be­trifft, in vier Wo­chen mehr lern­te, als man sich hät­te vor­stel­len kön­nen; so­dass nie­mand wuss­te, wie ich auf ein­mal, gleich­sam durch In­spi­ra­ti­on, zu der frem­den Spra­che ge­langt war.

Gleich in den ers­ten Ta­gen un­se­rer Be­kannt­schaft zog er mich mit sich aufs Thea­ter und führ­te mich be­son­ders in die Foy­ers, wo die Schau­spie­ler und Schau­spie­le­rin­nen in der Zwi­schen­zeit sich auf­hiel­ten und sich an- und aus­klei­de­ten. Das Lo­kal war we­der güns­tig noch be­quem, in­dem man das Thea­ter in einen Kon­zert­saal hin­ein­ge­zwängt hat­te, so­dass für die Schau­spie­ler hin­ter der Büh­ne kei­ne be­son­de­ren Ab­tei­lun­gen statt­fan­den. In ei­nem ziem­lich großen Ne­ben­zim­mer, das ehe­dem zu Spiel­par­ti­en ge­dient hat­te, wa­ren nun bei­de Ge­schlech­ter meist bei­sam­men und schie­nen sich so we­nig un­ter ein­an­der selbst als vor uns Kin­dern zu scheu­en, wenn es beim An­le­gen oder Verän­dern der Klei­dungs­stücke nicht im­mer zum an­stän­digs­ten her­ging. Mir war der­glei­chen nie­mals vor­ge­kom­men, und doch fand ich es bald durch Ge­wohn­heit, bei wie­der­hol­tem Be­such, ganz na­tür­lich.

Es währ­te nicht lan­ge, so ent­spann sich aber für mich ein eig­nes und be­sondres In­ter­es­se. Der jun­ge De­ro­nes, so will ich den Kna­ben nen­nen, mir dem ich mein Ver­hält­nis im­mer fort­setz­te, war au­ßer sei­nen Auf­schnei­de­rei­en ein Kna­be von gu­ten Sit­ten und recht ar­ti­gem Be­tra­gen. Er mach­te mich mit sei­ner Schwes­ter be­kannt, die ein paar Jah­re äl­ter als wir und ein gar an­ge­neh­mes Mäd­chen war, gut ge­wach­sen, von ei­ner re­gel­mä­ßi­gen Bil­dung, brau­ner Far­be, schwar­zen Haa­ren und Au­gen; ihr gan­zes Be­tra­gen hat­te et­was Stil­les, ja Trau­ri­ges. Ich such­te ihr auf alle Wei­se ge­fäl­lig zu sein; al­lein ich konn­te ihre Auf­merk­sam­keit nicht auf mich len­ken. Jun­ge Mäd­chen dün­ken sich ge­gen jün­ge­re Kna­ben sehr weit vor­ge­schrit­ten und neh­men, in­dem sie nach den Jüng­lin­gen hin­schau­en, ein tan­ten­haf­tes Be­tra­gen ge­gen den Kna­ben an, der ih­nen sei­ne ers­te Nei­gung zu­wen­det. Mir ei­nem jün­gern Bru­der hat­te ich kein Ver­hält­nis.

Manch­mal, wenn die Mut­ter auf den Pro­ben oder in Ge­sell­schaft war, fan­den wir uns in ih­rer Woh­nung zu­sam­men, um zu spie­len oder uns zu un­ter­hal­ten. Ich ging nie­mals hin, ohne der Schö­nen eine Blu­me, eine Frucht oder sonst et­was zu über­rei­chen, wel­ches sie zwar je­der­zeit mit sehr gu­ter Art an­nahm und auf das höf­lichs­te dank­te; al­lein ich sah ih­ren trau­ri­gen Blick sich nie­mals er­hei­tern und fand kei­ne Spur, dass sie sonst auf mich ge­ach­tet hät­te. End­lich glaub­te ich ihr Ge­heim­nis zu ent­de­cken. Der Kna­be zeig­te mir hin­ter dem Bet­te sei­ner Mut­ter, das mit ele­gan­ten seid­nen Vor­hän­gen auf­ge­putzt war, ein Pas­tell­bild, das Por­trät ei­nes schö­nen Man­nes, und be­merk­te zu­gleich mit schlau­er Mie­ne: das sei ei­gent­lich nicht der Papa, aber eben so gut wie der Papa; und in­dem er die­sen Mann rühm­te und nach sei­ner Art um­ständ­lich und prah­le­risch man­ches er­zähl­te, so glaub­te ich her­aus­zu­fin­den, dass die Toch­ter wohl dem Va­ter, die bei­den an­de­ren Kin­der aber dem Haus­freund an­ge­hö­ren moch­ten. Ich er­klär­te mir nun ihr trau­ri­ges An­se­hen und hat­te sie nur um de­sto lie­ber. Die Nei­gung zu die­sem Mäd­chen half mir die Schwin­de­lei­en des Bru­ders über­tra­gen, der nicht im­mer in sei­nen Gren­zen blieb. Ich hat­te oft die weit­läuf­ti­gen Er­zäh­lun­gen sei­ner Groß­ta­ten aus­zu­hal­ten, wie er sich schon öf­ter ge­schla­gen, ohne je­doch dem an­de­ren scha­den zu wol­len: es sei al­les bloß der Ehre we­gen ge­sche­hen. Stets habe er ge­wusst, sei­nen Wi­der­sa­cher zu ent­waff­nen, und ihm als­dann ver­zie­hen: ja er ver­ste­he sich aufs Li­gie­ren so gut, dass er einst selbst in große Ver­le­gen­heit ge­ra­ten, als er den De­gen sei­nes Geg­ners auf einen ho­hen Baum ge­schleu­dert, so­dass man ihn nicht leicht wie­der hab­haft wer­den kön­nen.

Was mir mei­ne Be­su­che auf dem Thea­ter sehr er­leich­ter­te, war, dass mir mein Frei­bil­let, als aus den Hän­den des Schult­hei­ßen, den Weg zu al­len Plät­zen er­öff­ne­te und also auch zu den Sit­zen im Pro­sze­ni­um.

Die­ses war nach fran­zö­si­scher Art sehr tief und an bei­den Sei­ten mit Sit­zen ein­ge­fasst, die durch eine nied­ri­ge Bar­rie­re be­schränkt, sich in meh­re­ren Rei­hen hin­ter ein­an­der auf­bau­ten und zwar der­ge­stalt, dass die ers­ten Sit­ze nur we­nig über die Büh­ne er­ho­ben wa­ren. Das Gan­ze galt für einen be­son­dern Ehren­platz; nur Of­fi­zie­re be­dien­ten sich ge­wöhn­lich des­sel­ben, ob­gleich die Nähe der Schau­spie­ler, ich will nicht sa­gen jede Il­lu­si­on, son­dern ge­wis­ser­ma­ßen je­des Ge­fal­len auf­hob. So­gar je­nen Ge­brauch oder Miss­brauch, über den sich Vol­taire so sehr be­schwert, habe ich noch er­lebt und mit Au­gen ge­se­hen: Wenn bei sehr vol­lem Hau­se, und etwa zur­zeit von Durch­mär­schen, an­ge­se­he­ne Of­fi­zie­re nach je­nem Ehren­platz streb­ten, der aber ge­wöhn­lich schon be­setzt war, so stell­te man noch ei­ni­ge Rei­hen Bän­ke und Stüh­le ins Pro­sze­ni­um auf die Büh­ne selbst, und es blieb den Hel­den und Hel­din­nen nichts üb­rig, als in ei­nem sehr mä­ßi­gen Rau­me zwi­schen den Uni­for­men und Or­den ihre Ge­heim­nis­se zu ent­hül­len. Ich habe die »Hy­per­m­ne­stra« selbst un­ter sol­chen Um­stän­den auf­füh­ren se­hen.

Der Vor­hang fiel nicht zwi­schen den Ak­ten; und ich er­wäh­ne noch ei­nes selt­sa­men Ge­brauchs, den ich sehr auf­fal­lend fin­den muss­te, da mir, als ei­nem gu­tem deut­schen Kna­ben, das kunst­wid­ri­ge dar­an ganz un­er­träg­lich war. Das Thea­ter näm­lich ward als das größ­te Hei­lig­tum be­trach­tet, und eine vor­fal­len­de Stö­rung auf dem­sel­ben hät­te als das größ­te Ver­bre­chen ge­gen die Ma­je­stät des Pub­li­kums so­gleich müs­sen ge­rügt wer­den. Zwei Gre­na­die­re, das Ge­wehr beim Fuß, stan­den da­her in al­len Lust­spie­len ganz öf­fent­lich zu bei­den Sei­ten des hin­ters­ten Vor­hangs und wa­ren Zeu­gen von al­lem, was im In­ners­ten der Fa­mi­lie vor­ging. Da, wie ge­sagt, zwi­schen den Ak­ten der Vor­hang nicht nie­der­ge­las­sen wur­de, so lös­ten bei ein­fal­len­der Mu­sik zwei an­de­re der­ge­stalt ab, dass sie aus den Ku­lis­sen ganz strack vor jene hin­tra­ten, wel­che sich dann eben­so ge­mes­sent­lich zu­rück­zo­gen. Wenn nun eine sol­che An­stalt recht dazu ge­eig­net war, al­les, was man beim Thea­ter Il­lu­si­on nennt, auf­zu­he­ben, so fällt es umso mehr auf, dass die­ses zu ei­ner Zeit ge­sch­ah, wo nach Di­de­rots Grund­sät­zen und Bei­spie­len die na­tür­lichs­te Na­tür­lich­keit auf der Büh­ne ge­for­dert und eine voll­kom­me­ne Täu­schung als das ei­gent­li­che Ziel der thea­tra­li­schen Kunst an­ge­ge­ben wur­de. Von ei­ner sol­chen mi­li­tä­ri­schen Po­li­zei­an­stalt war je­doch die Tra­gö­die ent­bun­den, und die Hel­den des Al­ter­tums hat­ten das Recht, sich selbst zu be­wa­chen; die ge­dach­ten Gre­na­die­re stan­den in­des nahe ge­nug hin­ter den Ku­lis­sen.

So will ich denn auch noch an­füh­ren, dass ich Di­de­rots »Haus­va­ter« und die »Phi­lo­so­phen« von Pa­lis­sot ge­se­hen habe und mich im letz­tern Stück der Fi­gur des Phi­lo­so­phen, der auf al­len Vie­ren geht und in ein ro­hes Salat­haupt beißt, noch wohl er­inn­re.

Alle die­se thea­tra­li­sche Man­nig­fal­tig­keit konn­te je­doch uns Kin­der nicht im­mer im Schau­spiel­hau­se fest­hal­ten. Wir spiel­ten bei schö­nem Wet­ter vor dem­sel­ben und in der Nähe und be­gin­gen al­ler­lei Tor­hei­ten, wel­che be­son­ders an Sonn- und Fest­ta­gen kei­nes­wegs zu uns­rem Äu­ße­ren pass­ten: denn ich und mei­nes­glei­chen er­schie­nen als­dann, an­ge­zo­gen, wie man mich in je­nem Mär­chen ge­se­hen, den Hut un­term Arm, mit ei­nem klei­nen De­gen, des­sen Bü­gel mit ei­ner großen sei­de­nen Band­schlei­fe ge­ziert war. Einst, als wir eine gan­ze Zeit un­ser We­sen ge­trie­ben und De­ro­nes sich un­ter uns ge­mischt hat­te, fiel es die­sem ein, mir zu be­teu­ern, ich hät­te ihn be­lei­digt und müs­se ihm Sa­tis­fak­ti­on ge­ben. Ich be­griff zwar nicht, was ihm An­lass ge­ben konn­te, ließ mir aber sei­ne Aus­for­de­rung ge­fal­len und woll­te zie­hen. Er ver­si­cher­te mir aber, es sei in sol­chen Fäl­len ge­bräuch­lich, dass man an ein­sa­me Ör­ter gehe, um die Sa­che de­sto be­que­mer aus­ma­chen zu kön­nen. Wir ver­füg­ten uns des­halb hin­ter ei­ni­ge Scheu­nen und stell­ten uns in ge­hö­ri­ge Po­si­tur. Der Zwei­kampf er­folg­te auf eine et­was thea­tra­li­sche Wei­se, die Klin­gen klirr­ten, und die Stö­ße gin­gen ne­ben­aus; doch im Feu­er der Ak­ti­on blieb er mit der Spit­ze sei­nes De­gens an der Band­schlei­fe mei­nes Bü­gels han­gen. Sie ward durch­bohrt, und er ver­si­cher­te mir, dass er nun die voll­kom­mens­te Sa­tis­fak­ti­on habe, um­arm­te mich so­dann, gleich­falls recht thea­tra­lisch, und wir gin­gen in das nächs­te Kaf­fee­haus, um uns mit ei­nem Gla­se Man­del­milch von un­se­rer Ge­müts­be­we­gung zu er­ho­len und den al­ten Freund­schafts­bund nur de­sto fes­ter zu schlie­ßen.

Ein andres Aben­teu­er, das mir auch im Schau­spiel­hau­se, ob­gleich spä­ter, be­geg­net, will ich bei die­ser Ge­le­gen­heit er­zäh­len. Ich saß näm­lich mit ei­nem mei­ner Ge­spie­len ganz ru­hig im Par­terre, und wir sa­hen mit Ver­gnü­gen ei­nem So­lo­tan­ze zu, den ein hüb­scher Kna­be, un­ge­fähr von un­serm Al­ter, der Sohn ei­nes durch­rei­sen­den fran­zö­si­schen Tanz­meis­ters, mit vie­ler Ge­wandt­heit und An­mut auf­führ­te. Nach Art der Tän­zer war er mit ei­nem knap­pen Wämschen von ro­ter Sei­de be­klei­det, wel­ches, in einen kur­z­en Reif­rock aus­ge­hend, gleich den Lau­fer­schür­zen, bis über die Knie schweb­te. Wir hat­ten die­sem an­ge­hen­den Künst­ler mit dem gan­zen Pub­li­kum un­sern Bei­fall ge­zollt, als mir, ich weiß nicht wie, ein­fiel, eine mo­ra­li­sche Re­fle­xi­on zu ma­chen. Ich sag­te zu mei­nem Beglei­ter: »Wie schön war die­ser Kna­be ge­putzt, und wie gut nahm er sich aus; wer weiß, in was für ei­nem zer­ris­se­nen Jäck­chen er heu­te Nacht schla­fen mag!« – Al­les war schon auf­ge­stan­den, nur ließ uns die Men­ge noch nicht vor­wärts. Eine Frau, die ne­ben mir ge­ses­sen hat­te und nun hart an mir stand, war zu­fäl­li­ger­wei­se die Mut­ter die­ses jun­gen Künst­lers, die sich durch mei­ne Re­fle­xi­on sehr be­lei­digt fühl­te. Zu mei­nem Un­glück konn­te sie Deutsch ge­nug, um mich ver­stan­den zu ha­ben, und sprach es ge­ra­de so viel, als nö­tig war, um schel­ten zu kön­nen. Sie mach­te mich ge­wal­tig her­un­ter: wer ich denn sei, mein­te sie, dass ich Ur­sa­che hät­te, an der Fa­mi­lie und an der Wohl­ha­ben­heit die­ses jun­gen Men­schen zu zwei­feln. Auf alle Fäl­le dür­fe sie ihn für so gut hal­ten als mich, und sei­ne Ta­len­te könn­ten ihm wohl ein Glück be­rei­ten, wo­von ich mir nicht wür­de träu­men las­sen. Die­se Straf­pre­digt hielt sie mir im Ge­drän­ge und mach­te die Um­ste­hen­den auf­merk­sam, wel­che Wun­der dach­ten, was ich für eine Un­art müss­te be­gan­gen ha­ben. Da ich mich we­der ent­schul­di­gen noch von ihr ent­fer­nen konn­te, so war ich wirk­lich ver­le­gen, und als sie einen Au­gen­blick in­ne­hielt, sag­te ich, ohne et­was da­bei zu den­ken: »Nun, wozu der Lärm? heu­te rot, mor­gen tot!« – Auf die­se Wor­te schi­en die Frau zu ver­stum­men. Sie sah mich an und ent­fern­te sich von mir, so­bald es nur ei­ni­ger­ma­ßen mög­lich war. Ich dach­te nicht wei­ter an mei­ne Wor­te. Nur ei­ni­ge Zeit her­nach fie­len sie mir auf, als der Kna­be, an­statt sich noch­mals se­hen zu las­sen, krank ward und zwar sehr ge­fähr­lich. Ob er ge­stor­ben ist, weiß ich nicht zu sa­gen.

Der­glei­chen Vordeu­tun­gen durch ein un­zei­tig, ja un­schick­lich aus­ge­sproch­nes Wort stan­den bei den Al­ten schon in An­se­hen, und es bleibt höchst merk­wür­dig, dass die For­men des Glau­bens und Aber­glau­bens bei al­len Völ­kern und zu al­len Zei­ten im­mer die­sel­ben ge­blie­ben sind.

Nun fehl­te es von dem ers­ten Tage der Be­sitz­neh­mung un­se­rer Stadt, zu­mal Kin­dern und jun­gen Leu­ten, nicht an im­mer­wäh­ren­der Zer­streu­ung. Thea­ter und Bäl­le, Pa­ra­den und Durch­mär­sche zo­gen un­se­re Auf­merk­sam­keit hin und her. Die letz­tern be­son­ders nah­men im­mer zu, und das Sol­da­ten­le­ben schi­en uns ganz lus­tig und ver­gnüg­lich.

Der Auf­ent­halt des Kö­nigs­leut­nants in un­serm Hau­se ver­schaff­te uns den Vor­teil, alle be­deu­ten­den Per­so­nen der fran­zö­si­schen Ar­mee nach und nach zu se­hen und be­son­ders die Ers­ten, de­ren Name schon durch den Ruf zu uns ge­kom­men war, in der Nähe zu be­trach­ten. So sa­hen wir von Trep­pen und Po­des­ten, gleich­sam wie von Ga­le­ri­en, sehr be­quem die Ge­ne­ra­li­tät bei uns vor­über­gehn. Vor al­len er­in­ne­re ich mich des Prin­zen Sou­bi­se als ei­nes schö­nen, leut­se­li­gen Herrn; am deut­lichs­ten aber des Mar­schalls von Bro­glio als ei­nes jün­gern, nicht großen, aber wohl­ge­bau­ten, leb­haf­ten, geist­reich um sich bli­cken­den, be­hän­den Man­nes.

Er kam mehr­mals zum Kö­nigs­leut­nant, und man merk­te wohl, dass von wich­ti­gen Din­gen die Rede war. Wir hat­ten uns im ers­ten Vier­tel­jahr der Ein­quar­tie­rung kaum in die­sen neu­en Zu­stand ge­fun­den, als schon die Nach­richt sich dun­kel ver­brei­te­te: die Al­lier­ten sei­en im An­marsch, und Her­zog Fer­di­nand von Braun­schweig kom­me, die Fran­zo­sen vom Main zu ver­trei­ben. Man hat­te von die­sen, die sich kei­nes be­son­dern Kriegs­glückes rüh­men konn­ten, nicht die größ­te Vor­stel­lung, und seit der Schlacht von Ross­bach glaub­te man sie ver­ach­ten zu dür­fen; auf den Her­zog Fer­di­nand setz­te man das größ­te Ver­trau­en, und alle preu­ßisch Ge­sinn­ten er­war­te­ten mit Sehn­sucht ihre Be­frei­ung von der bis­he­ri­gen Last. Mein Va­ter war et­was hei­te­rer, mei­ne Mut­ter in Sor­gen. Sie war klug ge­nug, ein­zu­se­hen, dass ein ge­gen­wär­ti­ges ge­rin­ges Übel leicht mit ei­nem großen Un­ge­mach ver­tauscht wer­den kön­ne: denn es zeig­te sich nur all­zu deut­lich, dass man dem Her­zog nicht ent­ge­gen­ge­hen, son­dern einen An­griff in der Nähe der Stadt ab­war­ten wer­de. Eine Nie­der­la­ge der Fran­zo­sen, eine Flucht, eine Ver­tei­di­gung der Stadt, wäre es auch nur, um den Rück­zug zu de­cken und um die Brücke zu be­hal­ten, ein Bom­bar­de­ment, eine Plün­de­rung, al­les stell­te sich der er­reg­ten Ein­bil­dungs­kraft dar und mach­te bei­den Par­tei­en Sor­ge. Mei­ne Mut­ter, wel­che al­les, nur nicht die Sor­ge er­tra­gen konn­te, ließ durch den Dol­met­scher ihre Furcht bei dem Gra­fen an­brin­gen; wor­auf sie die in sol­chen Fäl­len ge­bräuch­li­che Ant­wort er­hielt: sie sol­le ganz ru­hig sein, es sei nichts zu be­fürch­ten, sich üb­ri­gens still hal­ten und mit nie­mand von der Sa­che spre­chen.

Meh­re­re Trup­pen zo­gen durch die Stadt; man er­fuhr, dass sie bei Ber­gen halt mach­ten. Das Kom­men und Ge­hen, das Rei­ten und Lau­fen ver­mehr­te sich im­mer, und un­ser Haus war Tag und Nacht in Aufruhr. In die­ser Zeit habe ich den Mar­schall Bro­glio öf­ter ge­se­hen, im­mer hei­ter, ein wie das an­de­re Mal an Ge­bär­den und Be­tra­gen völ­lig gleich, und es hat mich auch nach­her ge­freut, den Mann, des­sen Ge­stalt einen so gu­ten und dau­er­haf­ten Ein­druck ge­macht hat­te, in der Ge­schich­te rühm­lich er­wähnt zu fin­den.

So kam denn end­lich, nach ei­ner un­ru­hi­gen Kar­wo­che, 1759, der Kar­frei­tag her­an. Eine große Stil­le ver­kün­dig­te den na­hen Sturm. Uns Kin­dern war ver­bo­ten, aus dem Hau­se zu ge­hen; der Va­ter hat­te kei­ne Ruhe und ging aus. Die Schlacht be­gann; ich stieg auf den obers­ten Bo­den, wo ich zwar die Ge­gend zu se­hen ver­hin­dert war, aber den Don­ner der Ka­no­nen und das Mas­sen­feu­er des klei­nen Ge­wehrs recht gut ver­neh­men konn­te. Nach ei­ni­gen Stun­den sa­hen wir die ers­ten Zei­chen der Schlacht an ei­ner Rei­he Wa­gen, auf wel­chen Ver­wun­de­te in man­cher­lei trau­ri­gen Ver­stüm­me­lun­gen und Ge­bär­den sach­te bei uns vor­bei­ge­fah­ren wur­den, um in das zum La­za­rett um­ge­wan­del­te Lieb­frau­enklos­ter ge­bracht zu wer­den. So­gleich reg­te sich die Barm­her­zig­keit der Bür­ger. Bier, Wein, Brot, Geld ward den­je­ni­gen hin­ge­reicht, die noch et­was emp­fan­gen konn­ten. Als man aber ei­ni­ge Zeit dar­auf bles­sier­te und ge­fang­ne Deut­sche un­ter die­sem Zug ge­wahr wur­de, fand das Mit­leid kei­ne Gren­ze, und es schi­en, als woll­te je­der sich von al­lem ent­blö­ßen, was er nur Be­weg­li­ches be­saß, um sei­nen be­dräng­ten Lands­leu­ten bei­zu­ste­hen.

Die­se Ge­fan­ge­nen wa­ren je­doch An­zei­chen ei­ner für die Al­li­ier­ten un­glück­li­chen Schlacht. Mein Va­ter, in sei­ner Par­tei­lich­keit ganz si­cher, dass die­se ge­win­nen wür­den, hat­te die lei­den­schaft­li­che Ver­we­gen­heit, den ge­hoff­ten Sie­gern ent­ge­gen­zu­ge­hen, ohne zu be­den­ken, dass die ge­schla­ge­ne Par­tei erst über ihn weg­flie­hen müss­te. Erst be­gab er sich in sei­nen Gar­ten vor dem Fried­ber­ger Tore, wo er al­les ein­sam und ru­hig fand; dann wag­te er sich auf die Born­hei­mer Hei­de, wo er aber bald ver­schie­de­ne zer­streu­te Nach­züg­ler und Troß­knech­te an­sich­tig ward, die sich den Spaß mach­ten, nach den Grenz­stei­nen zu schie­ßen, so­dass dem neu­gie­ri­gen Wand­rer das ab­pral­len­de Blei um den Kopf saus­te. Er hielt es des­halb doch für ge­rat­ner, zu­rück­zu­ge­hen, und er­fuhr bei ei­ni­ger Nach­fra­ge, was ihm schon der Schall des Feu­erns hät­te klar ma­chen sol­len, dass al­les für die Fran­zo­sen gut ste­he und an kein Wei­chen zu den­ken sei. Nach Hau­se ge­kom­men, voll Un­mut, ge­riet er beim Er­bli­cken der ver­wun­de­ten und ge­fan­ge­nen Lands­leu­te ganz aus der ge­wöhn­li­chen Fas­sung. Auch er ließ den Vor­bei­zie­hen­den man­cher­lei Spen­de rei­chen; aber nur die Deut­schen soll­ten sie er­hal­ten, wel­ches nicht im­mer mög­lich war, weil das Schick­sal Freun­de und Fein­de zu­sam­men auf­ge­packt hat­te.

Die Mut­ter und wir Kin­der, die wir schon frü­her auf des Gra­fen Wort ge­baut und des­halb einen ziem­lich be­ru­hig­ten Tag hin­ge­bracht hat­ten, wa­ren höch­lich er­freut, und die Mut­ter dop­pelt ge­trös­tet, da sie des Mor­gens, als sie das Ora­kel ih­res Schatz­käst­leins durch einen Na­del­stich be­fragt, eine für die Ge­gen­wart so­wohl als für die Zu­kunft sehr tröst­li­che Ant­wort er­hal­ten hat­te. Wir wünsch­ten un­serm Va­ter glei­chen Glau­ben und glei­che Ge­sin­nung, wir schmei­chel­ten ihm, was wir konn­ten, wir ba­ten ihn, et­was Spei­se zu sich zu neh­men, die er den gan­zen Tag ent­behrt hat­te; er ver­wei­ger­te uns­re Lieb­ko­sun­gen und je­den Ge­nuss und be­gab sich auf sein Zim­mer. Uns­re Freu­de ward in­des­sen nicht ge­stört: die Sa­che war ent­schie­den; der Kö­nigs­leut­nant, der die­sen Tag ge­gen sei­ne Ge­wohn­heit zu Pfer­de ge­we­sen, kehr­te end­lich zu­rück, sei­ne Ge­gen­wart zu Hau­se war nö­ti­ger als je. Wir spran­gen ihm ent­ge­gen, küss­ten sei­ne Hän­de und be­zeig­ten ihm uns­re Freu­de. Es schi­en ihm sehr zu ge­fal­len. »Wohl!« sag­te er freund­li­cher als sonst, »ich hin auch um eu­ert­wil­len ver­gnügt, lie­be Kin­der!« Er be­fahl so­gleich, uns Zucker­werk, sü­ßen Wein, über­haupt das Bes­te zu rei­chen, und ging auf sein Zim­mer, schon von ei­ner großen Mas­se Drin­gen­der, For­dern­der und Bit­ten­der um­ge­ben.

Wir hiel­ten nun eine köst­li­che Kol­la­ti­on, be­dau­er­ten den gu­ten Va­ter, der nicht teil dar­an neh­men moch­te, und dran­gen in die Mut­ter, ihn her­bei­zu­ru­fen; sie aber, klü­ger als wir, wuss­te wohl, wie un­er­freu­lich ihm sol­che Ga­ben sein wür­den. In­des­sen hat­te sie et­was Abend­brot zu­recht ge­macht und hät­te ihm gern eine Por­ti­on auf das Zim­mer ge­schickt, aber eine sol­che An­ord­nung litt er nie, auch nicht in den äu­ßers­ten Fäl­len; und nach­dem man die sü­ßen Ga­ben bei­sei­te ge­schafft, such­te man ihn zu be­re­den, her­ab in das ge­wöhn­li­che Spei­se­zim­mer zu kom­men. End­lich ließ er sich be­we­gen, un­gern, und wir ahn­de­ten nicht, wel­ches Un­heil wir ihm und uns be­rei­te­ten. Die Trep­pe lief frei durchs gan­ze Haus an al­len Vor­sä­len vor­bei. Der Va­ter muss­te, in­dem er her­ab­stieg, un­mit­tel­bar an des Gra­fen Zim­mer vor­über­gehn. Sein Vor­saal stand so vol­ler Leu­te, dass der Graf sich ent­schloss, um Meh­rers auf ein­mal ab­zu­tun, her­aus­zu­tre­ten; und dies ge­sch­ah lei­der in dem Au­gen­blick, als der Va­ter her­ab­kam. Der Graf ging ihm hei­ter ent­ge­gen, be­grüß­te ihn und sag­te: »Ihr wer­det uns und Euch Glück wün­schen, dass die­se ge­fähr­li­che Sa­che so glück­lich ab­ge­lau­fen ist.« – »Kei­nes­wegs!« ver­setz­te mein Va­ter mit In­grimm: »ich woll­te, sie hät­ten Euch zum Teu­fel ge­jagt, und wenn ich hät­te mit­fah­ren sol­len.« – Der Graf hielt einen Au­gen­blick inne, dann aber fuhr er mit Wut auf: »Die­ses sollt Ihr bü­ßen!« rief er, »Ihr sollt nicht um­sonst der ge­rech­ten Sa­che und mir eine sol­che Be­lei­di­gung zu­ge­fügt ha­ben!«

Der Va­ter war in­des ge­las­sen her­un­ter­ge­stie­gen, setz­te sich zu uns, schi­en heit­rer als bis­her und fing an zu es­sen. Wir freu­ten uns dar­über und wuss­ten nicht, auf wel­che be­denk­li­che Wei­se er sich den Stein vom Her­zen ge­wälzt hat­te. Kurz dar­auf wur­de die Mut­ter her­aus­ge­ru­fen, und wir hat­ten große Lust, dem Va­ter aus­zu­plau­dern, was uns der Graf für Sü­ßig­kei­ten ver­ehrt habe. Die Mut­ter kam nicht zu­rück. End­lich trat der Dol­met­scher her­ein. Auf sei­nen Wink schick­te man uns zu Bet­te: es war schon spät, und wir ge­horch­ten gern. Nach ei­ner ru­hig durch­schla­fe­nen Nacht er­fuh­ren wir die ge­walt­sa­me Be­we­gung, die ges­tern Abend das Haus er­schüt­tert hat­te. Der Kö­nigs­leut­nant hat­te so­gleich be­foh­len, den Va­ter auf die Wa­che zu füh­ren. Die Su­bal­ter­nen wuss­ten wohl, dass ihm nie­mals zu wi­der­spre­chen war; doch hat­ten sie sich manch­mal Dank ver­dient, wenn sie mit der Aus­füh­rung zau­der­ten. Die­se Ge­sin­nung wuss­te der Ge­vat­ter Dol­metsch, den die Geis­tes­ge­gen­wart nie­mals ver­ließ, aufs leb­haf­tes­te bei ih­nen rege zu ma­chen. Der Tu­mult war oh­ne­hin so groß, dass eine Zö­ge­rung sich von selbst ver­steck­te und ent­schul­dig­te. Er hat­te mei­ne Mut­ter her­aus­ge­ru­fen und ihr den Ad­ju­tan­ten gleich­sam in die Hän­de ge­ge­ben, dass sie durch Bit­ten und Vor­stel­lun­gen nur ei­ni­gen Auf­schub er­lan­gen möch­te. Er selbst eil­te schnell hin­auf zum Gra­fen, der sich bei der großen Be­herr­schung sei­ner selbst so­gleich ins in­n­re Zim­mer zu­rück­ge­zo­gen hat­te und das drin­gends­te Ge­schäft lie­ber einen Au­gen­blick sto­cken ließ, als dass er den ein­mal in ihm er­reg­ten bö­sen Mut an ei­nem Un­schul­di­gen ge­kühlt und eine sei­ner Wür­de nach­tei­li­ge Ent­schei­dung ge­ge­ben hät­te.

Die An­re­de des Dol­met­schers an den Gra­fen, die Füh­rung des gan­zen Ge­sprächs hat uns der di­cke Ge­vat­ter, der sich auf den glück­li­chen Er­folg nicht we­nig zu gute tat, oft ge­nug wie­der­holt, so­dass ich sie aus dem Ge­dächt­nis wohl noch auf­zeich­nen kann.

Der Dol­metsch hat­te ge­wagt, das Ka­bi­nett zu er­öff­nen und hin­ein­zu­tre­ten, eine Hand­lung, die höchst ver­pönt war. »Was wollt Ihr?« rief ihm der Graf zor­nig ent­ge­gen. »Hin­aus mit Euch! Hier hat nie­mand das Recht her­ein­zu­tre­ten als Saint Jean.«

»So hal­tet mich einen Au­gen­blick für Saint Jean«, ver­setz­te der Dol­metsch.

»Dazu ge­hört eine gute Ein­bil­dungs­kraft. Sei­ner zwei ma­chen noch nicht einen, wie Ihr seid. Ent­fernt Euch!«

»Herr Graf, Ihr habt eine große Gabe vom Him­mel emp­fan­gen, und an die ap­pel­lie­re ich.«

»Ihr denkt mir zu schmei­cheln! Glaubt nicht, dass es Euch ge­lin­gen wer­de.«

»Ihr habt die große Gabe, Herr Graf, auch in Au­gen­bli­cken der Lei­den­schaft, in Au­gen­bli­cken des Zorns die Ge­sin­nun­gen an­de­rer an­zu­hö­ren.«

»Wohl, wohl! Von Ge­sin­nun­gen ist eben die Rede, die ich zu lan­ge an­ge­hört habe. Ich weiß nur zu gut, dass man uns hier nicht liebt, dass uns die­se Bür­ger scheel an­sehn.«

»Nicht alle!«

»Sehr vie­le! Was! die­se Städ­ter, Reichs­städ­ter wol­len sie sein? Ihren Kai­ser ha­ben sie wäh­len und krö­nen se­hen, und wenn die­ser, un­ge­recht an­ge­grif­fen, sei­ne Län­der zu ver­lie­ren und ei­nem Usur­pa­tor zu un­ter­lie­gen Ge­fahr läuft, wenn er glück­li­cher­wei­se ge­treue Al­li­ier­te fin­det, die ihr Geld, ihr Blut zu sei­nem Vor­teil ver­wen­den, so wol­len sie die ge­rin­ge Last nicht tra­gen, die zu ih­rem Teil sie trifft, dass der Reichs­feind ge­de­mü­tigt wer­de.«

»Frei­lich kennt Ihr die­se Ge­sin­nun­gen schon lan­ge und habt sie als ein wei­ser Mann ge­dul­det; auch ist es nur die ge­rin­ge­re Zahl. We­ni­ge, ver­blen­det durch die glän­zen­den Ei­gen­schaf­ten des Fein­des, den Ihr ja selbst als einen au­ßer­or­dent­li­chen Mann schätzt, we­ni­ge nur, Ihr wisst es!«

»Ja­wohl! zu lan­ge habe ich es ge­wusst und ge­dul­det, sonst hät­te die­ser sich nicht un­ter­stan­den, mir in den be­deu­tends­ten Au­gen­bli­cken sol­che Be­lei­di­gun­gen ins Ge­sicht zu sa­gen. Es mö­gen sein, so viel ih­rer wol­len, sie sol­len in die­sem ih­ren küh­nen Re­prä­sen­tan­ten ge­straft wer­den und sich mer­ken, was sie zu er­war­ten ha­ben.«

»Nur Auf­schub, Herr Graf!«

»In ge­wis­sen Din­gen kann man nicht zu ge­schwind ver­fah­ren.«

»Nur einen kur­z­en Auf­schub!«

»Nach­bar! Ihr denkt mich zu ei­nem falschen Schritt zu ver­lei­ten: es soll Euch nicht ge­lin­gen.«

»We­der ver­lei­ten will ich Euch zu ei­nem falschen Schritt, noch von ei­nem falschen zu­rück­hal­ten. Euer Ent­schluss ist ge­recht: er ge­ziemt dem Fran­zo­sen, dem Kö­nigs­leut­nant; aber be­denkt, dass Ihr auch Graf Tho­ra­ne seid.«

»Der hat hier nicht mit­zu­spre­chen.«

»Man soll­te den bra­ven Mann doch auch hö­ren.«

»Nun, was wür­de er denn sa­gen?«

»Herr Kö­nigs­leut­nant! wür­de er sa­gen, Ihr habt so lan­ge mit so viel dunklen, un­wil­li­gen, un­ge­schick­ten Men­schen Ge­duld ge­habt, wenn sie es Euch nur nicht gar zu arg mach­ten. Die­ser hat’s frei­lich sehr arg ge­macht; aber ge­winnt es über Euch, Herr Kö­nigs­leut­nant! und je­der­mann wird Euch des­we­gen lo­ben und prei­sen.«

»Ihr wisst, dass ich Eure Pos­sen manch­mal lei­den kann; aber miss­braucht nicht mein Wohl­wol­len. Die­se Men­schen, sind sie denn ganz ver­blen­det? Hät­ten wir die Schlacht ver­lo­ren, in die­sem Au­gen­blick, was wür­de ihr Schick­sal sein? Wir schla­gen uns bis vor die Tore, wir sper­ren die Stadt, wir hal­ten, wir ver­tei­di­gen uns, um un­se­re Re­ti­ra­de über die Brücke zu de­cken. Glaubt Ihr, dass der Feind die Hän­de in den Schoß ge­legt hät­te? Er wirft Gra­na­ten und was er bei der Hand hat, und sie zün­den, wo sie kön­nen. Die­ser Haus­be­sit­zer da, was will er? In die­sen Zim­mern hier platz­te jetzt wohl eine Feu­er­ku­gel, und eine an­de­re folg­te hin­ter­drein; in die­sen Zim­mern, de­ren ver­ma­le­dei­te Pe­king­ta­pe­ten ich ge­schont, mich ge­niert habe, mei­ne Land­kar­ten nicht auf­zu­na­geln! Den gan­zen Tag hät­ten sie auf den Kni­en lie­gen sol­len.«

»Wie vie­le ha­ben das ge­tan!«

»Sie hät­ten sol­len den Se­gen für uns er­fle­hen, den Ge­ne­ra­len und Of­fi­zie­ren mit Ehren- und Freu­den­zei­chen, den er­mat­te­ten Ge­mei­nen mit Er­qui­ckung ent­ge­gen­ge­hen. An­statt des­sen verdirbt mir der Gift die­ses Par­t­ei­geis­tes die schöns­ten, glück­lichs­ten, durch so viel Sor­gen und An­stren­gun­gen er­wor­be­nen Au­gen­bli­cke mei­nes Le­bens!«

»Es ist ein Par­t­ei­geist; aber Ihr wer­det ihn durch die Be­stra­fung die­ses Man­nes nur ver­meh­ren. Die mit ihm gleich Ge­sinn­ten wer­den Euch als einen Ty­ran­nen, als einen Bar­ba­ren aus­schrei­en; sie wer­den ihn als einen Mär­ty­rer be­trach­ten, der für die gute Sa­che ge­lit­ten hat; und selbst die an­ders Ge­sinn­ten, die jetzt sei­ne Geg­ner sind, wer­den in ihm nur den Mit­bür­ger se­hen, wer­den ihn be­dau­ern und, in­dem sie Euch Recht ge­ben, den­noch fin­den, dass Ihr zu hart ver­fah­ren seid.«

»Ich habe Euch schon zu lan­ge an­ge­hört; macht, dass Ihr fort­kommt!«

»So hört nur noch die­ses! Be­denkt, dass es das Un­er­hör­tes­te ist, was die­sem Man­ne, was die­ser Fa­mi­lie be­geg­nen könn­te. Ihr hat­tet nicht Ur­sa­che, von dem gu­ten Wil­len des Haus­herrn er­baut zu sein; aber die Haus­frau ist al­len Eu­ren Wün­schen zu­vor­ge­kom­men, und die Kin­der ha­ben Euch als ih­ren Oheim be­trach­tet. Mit die­sem ein­zi­gen Schlag wer­det Ihr den Frie­den und das Glück die­ser Woh­nung auf ewig zer­stö­ren. Ja ich kann wohl sa­gen, eine Bom­be, die ins Haus ge­fal­len wäre, wür­de nicht grö­ße­re Ver­wüs­tun­gen dar­in an­ge­rich­tet ha­ben. Ich habe Euch so oft über Eure Fas­sung be­wun­dert, Herr Graf; gebt mir dies­mal Ge­le­gen­heit, Euch an­zu­be­ten. Ein Krie­ger ist ehr­wür­dig, der sich selbst in Fein­des Haus als einen Gast­freund be­trach­tet; hier ist kein Feind, nur ein Ver­irr­ter. Ge­winnt es über Euch, und es wird Euch zu ewi­gem Ruh­me ge­rei­chen!«

»Das müss­te wun­der­lich zu­ge­hen«, ver­setz­te der Graf mit ei­nem Lä­cheln.

»Nur ganz na­tür­lich«, er­wi­der­te der Dol­met­scher. »Ich habe die Frau, die Kin­der nicht zu Eu­ren Fü­ßen ge­schickt: denn ich weiß, dass Euch sol­che Sze­nen ver­drieß­lich sind; aber ich will Euch die Frau, die Kin­der schil­dern, wie sie Euch dan­ken, ich will sie Euch schil­dern, wie sie sich zeit­le­bens von dem Tage der Schlacht bei Ber­gen und von Eu­rer Groß­mut an die­sem Tage un­ter­hal­ten, wie sie es Kin­dern und Kin­des­kin­dern er­zäh­len und auch Frem­den ihr In­ter­es­se für Euch ein­zu­flö­ßen wis­sen: eine Hand­lung die­ser Art kann nicht un­ter­ge­hen!«

»Ihr trefft mei­ne schwa­che Sei­te nicht, Dol­met­scher. An den Nachruhm pfleg ich nicht zu den­ken, der ist für an­de­re, nicht für mich; aber im Au­gen­blick Recht zu tun, mei­ne Pf­licht nicht zu ver­säu­men, mei­ner Ehre nichts zu ver­ge­ben, das ist mei­ne Sor­ge. Wir ha­ben schon zu viel Wor­te ge­macht; jetzt geht hin – und lasst Euch von den Un­dank­ba­ren dan­ken, die ich ver­scho­ne!«

Der Dol­metsch, durch die­sen un­er­war­tet glück­li­chen Aus­gang über­rascht und be­wegt, konn­te sich der Trä­nen nicht ent­hal­ten und woll­te dem Gra­fen die Hän­de küs­sen; der Graf wies ihn ab und sag­te streng und ernst: »Ihr wisst, dass ich der­glei­chen nicht lei­den kann!« Und mit die­sen Wor­ten trat er auf den Vor­saal, um die an­drin­gen­den Ge­schäf­te zu be­sor­gen und das Be­geh­ren so vie­ler war­ten­den Men­schen zu ver­neh­men. So ward die Sa­che bei­ge­legt, und wir fei­er­ten den an­de­ren Mor­gen bei den Über­bleib­seln der gest­ri­gen Zucker­ge­schen­ke das Vor­über­ge­hen ei­nes Übels, des­sen An­dro­hen wir glück­lich ver­schla­fen hat­ten.

Ob der Dol­metsch wirk­lich so wei­se ge­spro­chen, oder ob er sich die Sze­ne nur so aus­ge­malt, wie man es wohl nach ei­ner gu­ten und glück­li­chen Hand­lung zu tun pflegt, will ich nicht ent­schei­den; we­nigs­tens hat er bei Wie­der­er­zäh­lung der­sel­ben nie­mals va­ri­iert. Ge­nug, die­ser Tag dünk­te ihm, so wie der sor­gen­volls­te, so auch der glor­reichs­te sei­nes Le­bens.

Wie sehr üb­ri­gens der Graf al­les falsche Ze­re­mo­ni­ell ab­ge­lehnt, kei­nen Ti­tel, der ihm nicht ge­bühr­te, je­mals an­ge­nom­men, und wie er in sei­nen hei­tern Stun­den im­mer geist­reich ge­we­sen, da­von soll eine klei­ne Be­ge­ben­heit ein Zeug­nis ab­le­gen.

Ein vor­neh­mer Mann, der aber auch un­ter die ab­stru­sen ein­sa­men Frank­fur­ter ge­hör­te, glaub­te sich über sei­ne Ein­quar­tie­rung be­kla­gen zu müs­sen. Er kam per­sön­lich, und der Dol­metsch bot ihm sei­ne Diens­te an; je­ner aber mein­te der­sel­ben nicht zu be­dür­fen. Er trat vor den Gra­fen mit ei­ner an­stän­di­gen Ver­beu­gung und sag­te: »Ex­zel­lenz!« Der Graf gab ihm die Ver­beu­gung zu­rück, so wie die Ex­zel­lenz. Be­trof­fen von die­ser Ehren­be­zei­gung, nicht an­ders glau­bend, als der Ti­tel sei zu ge­ring, bück­te er sich tiefer und sag­te: »Mons­eigneur!« – »Mein Herr«, sag­te der Graf ganz ernst­haft, »wir wol­len nicht wei­ter ge­hen, denn sonst könn­ten wir es leicht bis zur Ma­je­stät brin­gen.« – Der an­de­re war äu­ßerst ver­le­gen und wuss­te kein Wort zu sa­gen. Der Dol­metsch, in ei­ni­ger Ent­fer­nung ste­hend und von der gan­zen Sa­che un­ter­rich­tet, war bos­haft ge­nug, sich nicht zu rüh­ren; der Graf aber, mit großer Hei­ter­keit, fuhr fort: »Zum Bei­spiel, mein Herr, wie hei­ßen Sie?« – »Span­gen­berg«, ver­setz­te je­ner. – »Und ich«, sag­te der Graf, »hei­ße Tho­ra­ne. Span­gen­berg, was wollt Ihr von Tho­ra­ne? Und nun set­zen wir uns, die Sa­che soll gleich ab­ge­tan sein.«

Und so wur­de die Sa­che auch gleich zu großer Zufrie­den­heit des­je­ni­gen ab­ge­tan, den ich hier Span­gen­berg ge­nannt habe, und die Ge­schich­te noch an sel­bi­gem Abend von dem scha­den­fro­hen Dol­metsch in un­serm Fa­mi­li­en­krei­se nicht nur er­zählt, son­dern mit al­len Um­stän­den und Ge­bär­den auf­ge­führt.

Nach sol­chen Ver­wir­run­gen, Un­ru­hen und Be­dräng­nis­sen fand sich gar bald die vo­ri­ge Si­cher­heit und der Leicht­sinn wie­der, mit wel­chem be­son­ders die Ju­gend von Tag zu Tage lebt, wenn es nur ei­ni­ger­ma­ßen an­ge­hen will. Mei­ne Lei­den­schaft zu dem fran­zö­si­schen Thea­ter wuchs mit je­der Vor­stel­lung; ich ver­säum­te kei­nen Abend, ob ich gleich je­des Mal, wenn ich nach dem Schau­spiel mich zur spei­sen­den Fa­mi­lie an den Tisch setz­te und mich gar oft nur mit ei­ni­gen Res­ten be­gnüg­te, die ste­ten Vor­wür­fe des Va­ters zu dul­den hat­te: das Thea­ter sei zu gar nichts nüt­ze und kön­ne zu gar nichts füh­ren. Ich rief in sol­chem Fal­le ge­wöhn­lich alle und jede Ar­gu­men­te her­vor, wel­che den Ver­tei­di­gern des Schau­spiels zur Hand sind, wenn sie in eine glei­che Not wie die mei­ni­ge ge­ra­ten. Das Las­ter im Glück, die Tu­gend im Un­glück wur­den zu­letzt durch die poe­ti­sche Ge­rech­tig­keit wie­der ins Gleich­ge­wicht ge­bracht. Die schö­nen Bei­spie­le von be­straf­ten Ver­ge­hun­gen, »Miss Sara Samp­son« und der »Kauf­mann von Lon­don«, wur­den sehr leb­haft von mir her­vor­ge­ho­ben; aber ich zog da­ge­gen öf­ters den kür­zern, wenn die »Schelm­strei­che Sca­pins« und der­glei­chen auf dem Zet­tel stan­den und ich mir das Be­ha­gen muss­te vor­wer­fen las­sen, das man über die Be­trü­ge­rei­en rän­ke­vol­ler Knech­te und über den gu­ten Er­folg der Tor­hei­ten aus­ge­las­se­ner Jüng­lin­ge im Pub­li­kum emp­fin­de. Bei­de Par­tei­en über­zeug­ten ein­an­der nicht; doch wur­de mein Va­ter sehr bald mit der Büh­ne aus­ge­söhnt, als er sah, dass ich mit un­glaub­li­cher Schnel­lig­keit in der fran­zö­si­schen Spra­che zu­nahm.

Die Men­schen sind nun ein­mal so, dass je­der, was er tun sieht, lie­ber selbst vornäh­me, er habe nun Ge­schick dazu oder nicht. Ich hat­te nun bald den gan­zen Kur­sus der fran­zö­si­schen Büh­ne durch­ge­macht: meh­re­re Stücke ka­men schon zum zwei­ten und drit­ten Mal, von der wür­digs­ten Tra­gö­die bis zum leicht­fer­tigs­ten Nach­spiel war mir al­les vor Au­gen und Geist vor­bei­ge­gan­gen. Und wie ich als Kind den Te­renz nach­zuah­men wag­te, so ver­fehl­te ich nun­mehr nicht als Kna­be, bei ei­nem viel leb­haf­ter drin­gen­den An­lass, auch die fran­zö­si­schen For­men nach mei­nem Ver­mö­gen und Un­ver­mö­gen zu wie­der­ho­len. Es wur­den da­mals ei­ni­ge halb my­tho­lo­gi­sche, halb al­le­go­ri­sche Stücke im Ge­schmack des Pi­ron ge­ge­ben; sie hat­ten et­was von der Par­odie und ge­fie­len sehr. Die­se Vor­stel­lun­gen zo­gen mich be­son­ders an: die gold­nen Flü­gel­chen ei­nes hei­tern Mer­kur, der Don­ner­keil des ver­kapp­ten Ju­pi­ter, eine ga­lan­te Da­nae, oder wie eine von Göt­tern be­such­te Schö­ne hei­ßen moch­te, wenn es nicht gar eine Schä­fe­rin oder Jä­ge­rin war, zu der sie sich her­un­ter­lie­ßen. Und da mir der­glei­chen Ele­men­te aus Ovids »Ver­wand­lun­gen« und Po­meys »Pan­the­on My­thi­cum« sehr häu­fig im Kop­fe her­um­summ­ten, so hat­te ich bald ein sol­ches Stück­chen in mei­ner Fan­ta­sie zu­sam­men­ge­stellt, wo­von ich nur so viel zu sa­gen weiß, dass die Sze­ne länd­lich war, dass es aber doch dar­in we­der an Kö­nigs­töch­tern, noch Prin­zen, noch Göt­tern fehl­te. Der Mer­kur be­son­ders war mir da­bei so leb­haft im Sin­ne, dass ich noch schwö­ren woll­te, ich hät­te ihn mit Au­gen ge­se­hen.

Eine von mir selbst sehr rein­lich ge­fer­tig­te Ab­schrift leg­te ich mei­nem Freun­de De­ro­nes vor, wel­cher sie mit ganz be­son­de­rem An­stand und ei­ner wahr­haf­ten Gön­ner­mie­ne auf­nahm, das Ma­nu­skript flüch­tig durch­sah, mir ei­ni­ge Sprach­feh­ler nach­wies, ei­ni­ge Re­den zu lang fand und zu­letzt ver­sprach, das Werk bei ge­hö­ri­ger Muße nä­her zu be­trach­ten und zu be­ur­tei­len. Auf mei­ne be­schei­de­ne Fra­ge, ob das Stück wohl auf­ge­führt wer­den kön­ne, ver­si­cher­te er mir, dass es gar­nicht un­mög­lich sei. Sehr vie­les kom­me beim Thea­ter auf Gunst an, und er be­schüt­ze mich von gan­zem Her­zen; nur müs­se man die Sa­che ge­heim hal­ten: denn er habe selbst ein­mal mir ei­nem von ihm ver­fer­tig­ten Stück die Di­rek­ti­on über­rascht, und es wäre ge­wiss auf­ge­führt wor­den, wenn man nicht zu früh ent­deckt hät­te, dass er der Ver­fas­ser sei. Ich ver­sprach ihm al­les mög­li­che Still­schwei­gen und sah schon im Geist den Ti­tel mei­ner Pie­ce an den Ecken der Stra­ßen und Plät­ze mit großen Buch­sta­ben an­ge­schla­gen.

So leicht­sin­nig üb­ri­gens der Freund war, so schi­en ihm doch die Ge­le­gen­heit, den Meis­ter zu spie­len, all­zu er­wünscht. Er las das Stück mit Auf­merk­sam­keit durch, und in­dem er sich mit mir hin­setz­te, um ei­ni­ge Klei­nig­kei­ten zu än­dern, kehr­te er im Lau­fe der Un­ter­hal­tung das gan­ze Stück um und um, so­dass auch kein Stein auf dem an­de­ren blieb. Er strich aus, setz­te zu, nahm eine Per­son weg, sub­sti­tu­ier­te eine an­de­re, ge­nug, er ver­fuhr mit der tolls­ten Will­kür von der Welt, dass mir die Haa­re zu Ber­ge stan­den. Mein Vor­ur­teil, dass er es doch ver­ste­hen müs­se, ließ ihn ge­wäh­ren: denn er hat­te mir schon öf­ter von den drei Ein­hei­ten des Ari­sto­te­les, von der Re­gel­mä­ßig­keit der fran­zö­si­schen Büh­ne, von der Wahr­schein­lich­keit, von der Har­mo­nie der Ver­se und al­lem, was dar­an hängt, so viel vor­er­zählt, dass ich ihn nicht nur für un­ter­rich­tet, son­dern auch für be­grün­det hal­ten muss­te. Er schalt auf die Eng­län­der und ver­ach­te­te die Deut­schen; ge­nug, er trug mir die gan­ze dra­ma­tur­gi­sche Li­ta­nei vor, die ich in mei­nem Le­ben so oft muss­te wie­der­ho­len hö­ren.

Ich nahm, wie der Kna­be in der Fa­bel, mei­ne zer­fetz­te Ge­burt mir nach Hau­se und such­te sie wie­der her­zu­stel­len, aber ver­ge­bens. Weil ich sie je­doch nicht ganz auf­ge­ben woll­te, so ließ ich aus mei­nem ers­ten Ma­nu­skript, nach we­ni­gen Ver­än­de­run­gen, eine sau­be­re Ab­schrift durch un­sern Schrei­ben­den an­fer­ti­gen, die ich denn mei­nem Va­ter über­reich­te und da­durch so viel er­lang­te, dass er mich nach vollen­de­tem Schau­spiel mei­ne Abend­kost eine Zeit lang ru­hig ver­zeh­ren ließ.

Die­ser miss­lun­ge­ne Ver­such hat­te mich nach­denk­lich ge­macht, und ich woll­te nun­mehr die­se Theo­ri­en, die­se Ge­set­ze, auf die sich je­der­mann be­rief und die mir be­son­ders durch die Un­art mei­nes an­maß­li­chen Meis­ters ver­däch­tig ge­wor­den wa­ren, un­mit­tel­bar an den Quel­len ken­nen ler­nen, wel­ches mir zwar nicht schwer, doch müh­sam wur­de. Ich las zu­nächst Cor­neil­les »Ab­hand­lung über die drei Ein­hei­ten« und er­sah wohl dar­aus, wie man es ha­ben woll­te; warum man es aber so ver­lang­te, ward mir kei­nes­wegs deut­lich, und was das Schlimms­te war, ich ge­riet so­gleich in noch grö­ße­re Ver­wir­rung, in­dem ich mich mit den Hän­deln über den »Cid« be­kannt mach­te und die Vor­re­den las, in wel­chen Cor­neil­le und Ra­ci­ne sich ge­gen Kri­ti­ker und Pub­li­kum zu ver­tei­di­gen ge­nö­tigt sind. Hier sah ich we­nigs­tens auf das deut­lichs­te, dass kein Mensch wuss­te, was er woll­te; dass ein Stück wie »Cid«, das die herr­lichs­te Wir­kung her­vor­ge­bracht, auf Be­fehl ei­nes all­mäch­ti­gen Kar­di­nals ab­so­lut soll­te für schlecht er­klärt wer­den; dass Ra­ci­ne, der Ab­gott der zu mei­ner Zeit le­ben­den Fran­zo­sen, der nun auch mein Ab­gott ge­wor­den war (denn ich hat­te ihn nä­her ken­nen ler­nen, als Schöff von Olen­schla­ger durch uns Kin­der den »Bri­tan­ni­cus« auf­füh­ren ließ, worin mir die Rol­le des Nero zu teil ward), dass Ra­ci­ne, sage ich, auch zu sei­ner Zeit we­der mit Lieb­ha­bern noch Kun­strich­tern fer­tig wer­den kön­nen. Durch al­les die­ses ward ich ver­worr­ner als je­mals, und nach­dem ich mich lan­ge mit die­sem Hin- und Her­re­den, mit die­ser theo­re­ti­schen Sal­ba­de­rei des vo­ri­gen Jahr­hun­derts ge­quält hat­te, schüt­te­te ich das Kind mit dem Bade aus und warf den gan­zen Plun­der de­sto ent­schie­de­ner von mir, je mehr ich zu be­mer­ken glaub­te, dass die Au­to­ren selbst, wel­che vor­treff­li­che Sa­chen her­vor­brach­ten, wenn sie dar­über zu re­den an­fin­gen, wenn sie den Grund ih­res Han­delns an­ga­ben, wenn sie sich ver­tei­di­gen, ent­schul­di­gen, be­schö­ni­gen woll­ten, doch auch nicht im­mer den rech­ten Fleck zu tref­fen wuss­ten. Ich eil­te da­her wie­der zu dem le­ben­dig Vor­han­de­nen, be­such­te das Schau­spiel weit eif­ri­ger, las ge­wis­sen­haf­ter und un­un­ter­broch­ner, so­dass ich in die­ser Zeit Ra­ci­ne und Mo­liè­re ganz und von Cor­neil­le einen großen Teil durch­zu­ar­bei­ten die An­halt­sam­keit hat­te.

Der Kö­nigs­leut­nant wohn­te noch im­mer in un­serm Hau­se. Er hat­te sein Be­tra­gen in nichts ge­än­dert, be­son­ders ge­gen uns; al­lein es war merk­lich, und der Ge­vat­ter Dol­metsch wuss­te es uns noch deut­li­cher zu ma­chen, dass er sein Amt nicht mehr mit der Hei­ter­keit, nicht mehr mit dem Ei­fer ver­wal­te­te wie an­fangs, ob­gleich im­mer mit der­sel­ben Recht­schaf­fen­heit und Treue. Sein We­sen und Be­tra­gen, das eher einen Spa­nier als einen Fran­zo­sen an­kün­dig­te, sei­ne Lau­nen, die doch mit­un­ter Ein­fluss auf ein Ge­schäft hat­ten, sei­ne Un­bieg­sam­keit ge­gen die Um­stän­de, sei­ne Reiz­bar­keit ge­gen al­les, was sei­ne Per­son oder Cha­rak­ter be­rühr­te, die­ses zu­sam­men moch­te ihn doch zu­wei­len mit sei­nen Vor­ge­setz­ten in Kon­flikt brin­gen. Hie­zu kam noch, dass er in ei­nem Duell, wel­ches sich im Schau­spiel ent­s­pon­nen hat­te, ver­wun­det wur­de und man dem Kö­nigs­leut­nant übel nahm, dass er selbst eine ver­pön­te Hand­lung als obers­ter Po­li­zei­meis­ter be­gan­gen. Al­les die­ses moch­te, wie ge­sagt, dazu bei­tra­gen, dass er in sich ge­zo­gner leb­te und hier und da viel­leicht we­ni­ger ener­gisch ver­fuhr.

In­des­sen war nun schon eine an­sehn­li­che Par­tie der be­stell­ten Ge­mäl­de ab­ge­lie­fert. Graf Tho­ra­ne brach­te sei­ne Frei­stun­den mit der Be­trach­tung der­sel­ben zu, in­dem er sie in ge­dach­tem Gie­bel­zim­mer Bah­ne für Bah­ne, brei­ter und schmä­ler, ne­ben ein­an­der und, weil es an Platz man­gel­te, so­gar über ein­an­der na­geln, wie­der ab­neh­men und auf­rol­len ließ. Im­mer wur­den die Ar­bei­ten aufs neue un­ter­sucht, man er­freu­te sich wie­der­holt an den Stel­len, die man für die ge­lun­gens­ten hielt; aber es fehl­te auch nicht an Wün­schen, die­ses oder je­nes an­ders ge­leis­tet zu se­hen.

Hieraus ent­sprang eine neue und ganz wun­der­sa­me Ope­ra­ti­on. Da näm­lich der eine Ma­ler Fi­gu­ren, der an­de­re die Mit­tel­grün­de und Fer­nen, der drit­te die Bäu­me, der vier­te die Blu­men am bes­ten ar­bei­te­te, so kam der Graf auf den Ge­dan­ken, ob man nicht die­se Ta­len­te in den Bil­dern ver­ei­ni­gen und auf die­sem Wege voll­kom­me­ne Wer­ke her­vor­brin­gen kön­ne. Der An­fang ward so­gleich da­mit ge­macht, dass man z. B. in eine fer­ti­ge Land­schaft noch schö­ne Her­den hin­ein­ma­len ließ. Weil nun aber nicht im­mer der ge­hö­ri­ge Platz dazu da war, es auch dem Tier­ma­ler auf ein paar Scha­fe mehr oder we­ni­ger nicht an­kam, so war end­lich die wei­tes­te Land­schaft zu enge. Nun hat­te der Men­schen­ma­ler auch noch die Hir­ten und ei­ni­ge Wand­rer hin­ein­zu­brin­gen; die­se nah­men sich wie­der­um ein­an­der gleich­sam die Luft, und man war ver­wun­dert, wie sie nicht sämt­lich in der frei­es­ten Ge­gend er­stick­ten. Man konn­te nie­mals vor­aus­se­hen, was aus der Sa­che wer­den wür­de, und wenn sie fer­tig war, be­frie­dig­te sie nicht. Die Ma­ler wur­den ver­drieß­lich. Bei den ers­ten Be­stel­lun­gen hat­ten sie ge­won­nen, bei die­sen Nach­ar­bei­ten ver­lo­ren sie, ob­gleich der Graf auch die­se sehr groß­mü­tig be­zahl­te. Und da die von meh­rern auf ei­nem Bil­de durch ein­an­der ge­ar­bei­te­ten Tei­le, bei al­ler Mühe, kei­nen gu­ten Ef­fekt her­vor­brach­ten, so glaub­te zu­letzt ein je­der, dass sei­ne Ar­beit durch die Ar­bei­ten der an­de­ren ver­dor­ben und ver­nich­tet wor­den; da­her we­nig fehl­te, die Künst­ler hät­ten sich hier­über ent­zweit, und wä­ren in un­ver­söhn­li­che Feind­schaft ge­ra­ten. Der­glei­chen Ver­än­de­run­gen oder viel­mehr Zuta­ten wur­den in ge­dach­tem Ate­lier, wo ich mit den Künst­lern ganz al­lein blieb, aus­ge­fer­ti­get, und es un­ter­hielt mich, aus den Stu­di­en, be­son­ders der Tie­re, die­ses und je­nes Ein­zel­ne, die­se oder jene Grup­pe aus­zu­su­chen und sie für die Nähe oder die Fer­ne in Vor­schlag zu brin­gen; worin man mir denn manch­mal aus Über­zeu­gung oder Ge­neigt­heit zu will­fah­ren pfleg­te.

Die Teil­neh­men­den an die­sem Ge­schäft wur­den also höchst mut­los, be­son­ders See­katz, ein sehr hy­po­chon­dri­scher und in sich ge­zo­gner Mann, der zwar un­ter Freun­den durch eine un­ver­gleich­lich heitre Lau­ne sich als den bes­ten Ge­sell­schaf­ter be­wies, aber wenn er ar­bei­te­te, al­lein, in sich ge­kehrt und völ­lig frei wir­ken woll­te. Die­ser soll­te nun, wenn er schwe­re Auf­ga­ben ge­löst, sie mit dem größ­ten Fleiß und der wärms­ten Lie­be, de­ren er im­mer fä­hig war, vollen­det hat­te, zu wie­der­hol­ten Ma­len von Darm­stadt nach Frank­furt rei­sen, um ent­we­der an sei­nen ei­ge­nen Bil­dern et­was zu ver­än­dern, oder frem­de zu staf­fie­ren, oder gar un­ter sei­nem Bei­stand durch einen drit­ten sei­ne Bil­der ins Bunt­sche­cki­ge ar­bei­ten zu las­sen. Sein Miss­mut nahm zu, sein Wi­der­stand ent­schied sich, und es brauch­te großer Be­mü­hun­gen von un­se­rer Sei­te, um die­sen Ge­vat­ter – denn auch er war’s ge­wor­den – nach des Gra­fen Wün­schen zu len­ken. Ich er­in­ne­re mich noch, dass, als schon die Kas­ten be­reit stan­den, um die sämt­li­chen Bil­der in der Ord­nung ein­zu­pa­cken, in wel­cher sie an dem Ort ih­rer Be­stim­mung der Ta­pe­zie­rer ohne wei­te­res auf­hef­ten konn­te, dass, sage ich, nur eine klei­ne, doch un­um­gäng­li­che Nach­ar­beit er­for­dert wur­de, See­katz aber nicht zu be­we­gen war, her­über­zu­kom­men. Er hat­te frei­lich noch zu gu­ter Letzt das Bes­te ge­tan, was er ver­moch­te, in­dem er die vier Ele­men­te in Kin­dern und Kna­ben, nach dem Le­ben, in Tür­stücken dar­ge­stellt und nicht al­lein auf die Fi­gu­ren, son­dern auch auf die Bei­wer­ke den größ­ten Fleiß ge­wen­det hat­te. Die­se wa­ren ab­ge­lie­fert, be­zahlt, und er glaub­te auf im­mer aus der Sa­che ge­schie­den zu sein; nun aber soll­te er wie­der her­über, um ei­ni­ge Bil­der, de­ren Maße et­was zu klein ge­nom­men wor­den, mit we­ni­gen Pin­sel­zü­gen zu er­wei­tern. Ein an­de­rer, glaub­te er, kön­ne das auch tun; er hat­te sich schon zu neu­er Ar­beit ein­ge­rich­tet: kurz, er woll­te nicht kom­men. Die Ab­sen­dung war vor der Türe, trock­nen soll­te es auch noch, je­der Ver­zug war miss­lich; der Graf, in Verzweif­lung, woll­te ihn mi­li­tä­risch ab­ho­len las­sen. Wir alle wünsch­ten, die Bil­der end­lich fort zu se­hen, und fan­den zu­letzt kei­ne Aus­kunft, als dass der Ge­vat­ter Dol­metsch sich in einen Wa­gen setz­te und den Wi­der­spens­ti­gen mit Frau und Kind her­über­hol­te, der dann von dem Gra­fen freund­lich emp­fan­gen, wohl ge­pflegt und zu­letzt reich­lich be­schenkt ent­las­sen wur­de. Nach den fort­ge­schaff­ten Bil­dern zeig­te sich ein großer Frie­de im Hau­se. Das Gie­bel­zim­mer im Man­sard wur­de ge­rei­nigt und mir über­ge­ben, und mein Va­ter, wie er die Kas­ten fort­schaf­fen sah, konn­te sich des Wun­sches nicht er­weh­ren, den Gra­fen hin­ter­drein zu schi­cken. Denn wie sehr die Nei­gung des Gra­fen auch mit der sei­ni­gen über­ein­stimm­te; wie sehr es den Va­ter freu­en muss­te, sei­nen Grund­satz, für le­ben­de Meis­ter zu sor­gen, durch einen Rei­che­ren so frucht­bar be­folgt zu se­hen; wie sehr es ihm schmei­cheln konn­te, dass sei­ne Samm­lung An­lass ge­ge­ben, ei­ner An­zahl bra­ver Künst­ler in be­dräng­ter Zeit einen so an­sehn­li­chen Er­werb zu ver­schaf­fen: so fühl­te er doch eine sol­che Ab­nei­gung ge­gen den Frem­den, der in sein Haus ein­ge­drun­gen, dass ihm an des­sen Hand­lun­gen nichts recht dün­ken konn­te. Man sol­le Künst­ler be­schäf­ti­gen, aber nicht zu Ta­pe­ten­ma­lern er­nied­ri­gen; man sol­le mit dem, was sie nach ih­rer Über­zeu­gung und Fä­hig­keit ge­leis­tet, wenn es ei­nem auch nicht durch­gän­gig be­ha­ge, zu­frie­den sein und nicht im­mer dar­an mark­ten und mä­keln: ge­nug, es gab, un­ge­ach­tet des Gra­fen eig­ner li­be­ra­len Be­mü­hung, ein für al­le­mal kein Ver­hält­nis. Mein Va­ter be­such­te je­nes Zim­mer bloß, wenn sich der Graf bei Ta­fel be­fand, und ich er­in­ne­re mich nur ein ein­zi­ges Mal, als See­katz sich selbst über­trof­fen hat­te und das Ver­lan­gen, die­se Bil­der zu se­hen, das gan­ze Haus her­bei­trieb, dass mein Va­ter und der Graf zu­sam­men­tref­fend an die­sen Kunst­wer­ken ein ge­mein­sa­mes Ge­fal­len be­zeig­ten, das sie an ein­an­der selbst nicht fin­den konn­ten.

Kaum hat­ten also die Kis­ten und Kas­ten das Haus ge­räumt, als der frü­her ein­ge­lei­te­te, aber un­ter­broch­ne Be­trieb, den Gra­fen zu ent­fer­nen, wie­der an­ge­knüpft wur­de. Man such­te durch Vor­stel­lun­gen die Ge­rech­tig­keit, die Bil­lig­keit durch Bit­ten, durch Ein­fluss die Nei­gung zu ge­win­nen und brach­te es end­lich da­hin, dass die Quar­tier­her­ren den Be­schluss fass­ten: es sol­le der Graf um­lo­giert und un­ser Haus, in Be­tracht der seit ei­ni­gen Jah­ren un­aus­ge­setzt Tag und Nacht ge­trag­nen Last, künf­tig mit Ein­quar­tie­rung ver­schont wer­den. Da­mit sich aber hier­zu ein schein­ba­rer Vor­wand fin­de, so sol­le man in eben den ers­ten Stock, den bis­her der Kö­nigs­leut­nant be­setzt ge­habt, Miet­leu­te ein­neh­men und da­durch eine neue Be­quar­tie­rung gleich­sam un­mög­lich ma­chen. Der Graf, der nach der Tren­nung von sei­nen ge­lieb­ten Ge­mäl­den kein be­son­de­res In­ter­es­se mehr am Hau­se fand, auch oh­ne­hin bald ab­ge­ru­fen und ver­setzt zu wer­den hoff­te, ließ es sich ohne Wi­der­re­de ge­fal­len, eine an­de­re gute Woh­nung zu be­zie­hen, und schied von uns in Frie­den und gu­tem Wil­len. Auch ver­ließ er bald dar­auf die Stadt und er­hielt stu­fen­wei­se noch ver­schie­de­ne Char­gen, doch, wie man hör­te, nicht zu sei­ner Zufrie­den­heit. Er hat­te in­des das Ver­gnü­gen, jene so em­sig von ihm be­sorg­ten Ge­mäl­de in dem Schlos­se sei­nes Bru­ders glück­lich an­ge­bracht zu se­hen, schrieb ei­ni­ge Male, sen­de­te Maße und ließ von den mehr ge­nann­ten Künst­lern ver­schie­de­nes nach­ar­bei­ten. End­lich ver­nah­men wir nichts wei­ter von ihm, au­ßer dass man uns nach meh­re­ren Jah­ren ver­si­chern woll­te, er sei in West­in­di­en, auf ei­ner der fran­zö­si­schen Ko­lo­ni­en, als Gou­ver­neur ge­stor­ben.

Dichtung und Wahrheit

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