Читать книгу Bis ins Hochland, dann nach links - Johanna Danneberg - Страница 3
Kapitel Eins
ОглавлениеErst viel später ist mir klar geworden, dass alle Menschen, die ich auf meiner Wanderung treffen sollte, schon an jenem ersten Spätnachmittag mit mir im Pub in Milngavie saßen. Bloß, dass ich die meisten von ihnen damals gar nicht beachtet hatte. Darin war ich ziemlich gut - niemanden zu beachten außer mir selbst.
Aber von vorne: angekommen in Schottland bin ich an einem Dienstagmittag im Mai, Flughafen Glasgow; von dort aus nahm ich einen Bus in die Innenstadt, um diese mit einem Nahverkehrszug wieder zu verlassen, und nur wenige Stunden nach der Landung des Flugzeugs fand ich mich in der Fußgängerzone einer Kleinstadt namens Milngavie wieder, und fragte mich zum wiederholten Male, wie man das eigentlich aussprach: „Milngavie“. Bei dem Schaffner im Zug hatte es geklungen wie ein Wort, das in einen Bottich Joghurt fällt.
Überhaupt, das schottische Englisch wies nur geringe Ähnlichkeit auf mit dem breit geknautschten Amerikanisch der Touristen, die in Berlin nach dem Weg zur „Wall“, zum Berghain oder zum nächsten Biosupermarkt fragen.
Berlin, meine Heimatstadt, war noch nie weiter weg gewesen. Stattdessen ein wohlwollender Nieselregen, die Fußgängerzone, und ein Wegweiser.
„Fort William: 96 miles“ stand dort. Dahinter führte eine Treppe hinunter zu einem Fußweg, der sich im regennassen Park verlor.
Über den Stufen der Treppe spann sich ein Schild, auf dem mit verschnörkelten Lettern stand: „West Highland Way“.
Das war er also, der Beginn des West Highland Way. Hätte durchaus ein bisschen dramatischer gestaltet sein können, fand ich. Mit Neonbuchstaben zum Beispiel. Oder einer Dudelsackkappelle - immerhin wandert man nicht alle Tage 96 Meilen durchs schottische Hochland.
Ich sah mich um. Dudelsäcke waren nicht in Sicht, und es trug auch niemand einen Schottenrock; dafür erledigten ganz normale Menschen ihre Feierabendeinkäufe.
Mit dem Handy filmte ich Wegweiser, Treppe, und zum Schluss mich selber, sah mir die Aufnahme an, und kam zu dem Schluss, dass ich der einzige Lichtblick in der trostlosen Szenerie war: meine hellblonden, fast weißen, kinnlangen Haare vom Wind zerzaust, ein paar Sommersprossen, die meinen Teint betonten, und natürlich hatte ich mein unwillkürliches Fotogesicht aufgesetzt: ein breites Grinsen ohne Zähne. Meine Schwester sagt, ich sähe dann aus wie ein Clown. Ich schickte das Filmchen an Falks Handy. Er würde es Lilly vorspielen, bevor er sie nachher ins Bett brachte. Nach kurzem Zögern sendete ich noch eine Textnachricht hinterher: „Bin gut angekommen. Gehe gleich los. Ein dicker Kuss an Lilly. Mella“
Danach steckte ich das Handy weg. Und ging nicht los. Feine Regentropfen wehten mir ins Gesicht, und ich zog den Fleecepulli über. Ein älterer Herr spazierte mit seinem Hund vorbei und nickte mir zu, als würden wir uns kennen.
„Wer früher losgeht, kommt eher an“, rief er mir mit rollendem „R“ zu.
Ob er hier wohl öfters Leute stehen sah, mit Wanderrucksack und Wanderstöcken, die sich vor dem Schild herumdrückten, als müssten sie gleich zur Matheprüfung? Ich sah an mir herunter, auf meine neuen lila Doc Martens, welche ich vergangene Woche extra eingelaufen hatte, ganz so, wie es im Reiseführer, „Der West Highland Way – Schottlands wildester Weg“, empfohlen wurde. Unter dem Pulli trug ich eine blau-weiß-gestreifte Bluse, und statt einer Hose schwarze Leggings und sandfarbene Shorts. Verzichtet hatte ich auf eine dieser Funktionshosen, die man in drei verschiedenen Höhen mittels Reißverschluss kürzen konnte, denn die fand ich furchtbar, da hatte ich mich geweigert, auch wenn meine Mutter mir dazu geraten hatte. Aber was wusste sie schon, ich hatte sie noch nie weiter wandern sehen als bis zum Italiener an der Ecke. Ekat hingegen, beste Freundin meiner Mutter und Patentante von mir und meiner Schwester, verfügte über mehr Expertise – Himalaya, Kilimandscharo, Elbsandsteingebirge und so weiter. Sie hatte gemeint, ich solle etwas Bequemes anzuziehen, worin ich mich wohl fühlte, denn ich würde das Zeug ja eine Woche lang ununterbrochen tragen. Ich hatte nachgehakt:
„Wie meinst du das, eine Woche ununterbrochen? Ich werde meine Klamotten ja auch mal wechseln.“, woraufhin sie mitleidig gelacht hatte. „Wenn du Zelt, Schlafsack, Isomatte, Gaskocher, Topf, Proviant, drei Liter Wasser, Zahnbürste und Zahnpasta, und den Wanderführer eingepackt hast, bleibt kein Platz mehr für Wechselklamotten. Mal abgesehen vom Gewicht. Mehr als 17, 18 Kilo sollten es nicht sein!“
Ekat hieß eigentlich Ekatarina, stammte aus Russland, und hatte mit meiner Mutter in den 1970er Jahren eine Wohngemeinschaft in Charlottenburg geteilt. Sie war eine Art moderne Schamanin, groß, hager, die Haare wuschelig kurz bis auf eine einzelne Dreadlocke, die hinter dem linken Ohr abstand. Sie schien immer in Bewegung zu sein und gleichzeitig alle Zeit der Welt zu haben. Ihrer Meinung nach lag das am Yoga und am Sex.
Ich hatte ihr nicht geglaubt, und noch zwei weitere Blusen (hellblau mit roten Sternen, waldgrün mit schwarzen Punkten), eine Skinny Jeans (wiegt ja fast nichts), mehrere Tops, eine leichte Strickjacke und ein Paar Turnschuhe auf den Haufen gepackt, auf dem ich letzte Woche alles gesammelt hatte, was mit sollte nach Schottland. Außerdem waren in meinem Rucksack noch sechs Unterhosen, dicke Socken und eine weitere Leggings gelandet, sowie Mütze und Regenjacke, Regenüberzug für den Rucksack, Taschenmesser und Kompass, eine karierte Campingdecke, rosa-weiß gepunktetes Plastikbesteck mit dazu passendem Teller und Schüssel, mein Tagebuch, Stift, Feuerzeug, Handy samt Ladekabel und Wechsel Akku, ein Paar Sandalen, ein Plastikbeutel mit dem nötigsten an Waschzeug (Shampoo, Conditioner, Duschbad) und Zahnpflegeartikeln, und ein echt kleines Handtuch. Das war's. Zusammen mit den beiden Wasserflaschen, sowie Haferflocken, Nudelgerichten, Instant Cappuccino und Müsliriegeln wog mein Rucksack nun genau 22 Kilo. Einzig das Pfefferspray hatten sie mir am Flughafen Berlin-Schönefeld bei der Gepäckkontrolle abgenommen. Das war wirklich ärgerlich gewesen, zumal sich der Vorfall, als ich gegen die Entscheidung protestiert hatte, ziemlich in die Länge gezogen hatte und ich am Ende, natürlich ohne das Pfefferspray, noch beinahe meinen Flug verpasst hätte.
Glücklicherweise hatte ich nach meiner Landung in Glasgow mittels einer schnellen Internetrecherche einen Laden in der Innenstadt ausfindig machen können, der auf Notfallvorsorge, Überleben in der Wildnis und biologische Kleinkläranlagen spezialisiert war. Dort hatte ich nicht nur eine Gaskartusche für meinen Kocher bekommen, sondern auch eine neue Dose Pfefferspray.
So ausgerüstet stand ich immer noch in der Fußgängerzone von Milngavie, und sah dem Mann und seinem Hund hinterher.
Dann tat ich das, was ich immer tue, wenn mir jemand einen guten Rat gibt: nämlich genau das Gegenteil. In diesem Fall hieß das, dass ich meine Wanderstöcke packte und in Richtung Pub stiefelte.
***
Wie in jeder britischen Kleinstadt lag der Pub von Milngavie an zentraler Stelle im Ort. Er hieß „The Jacobite's Arms“, was auf die blutige Tradition schottischer Aufstände gegen die Engländer hindeutete. Das wusste ich, weil ich im Vorfeld meiner Reise zu Recherchezwecken eine Fernsehserie geschaut hatte, in der sich eine zeitreisende Frau unversehens inmitten einer Armee schottenrocktragender Hochlandkrieger, den Jakobiten, wieder findet, und sich selbstverständlich in einen von ihnen verliebt. Nach 28 Folgen hatte ich das Gefühl gehabt, mich bestens mit schottischer Geschichte und Lebensart auszukennen, was sich nun bestätigte, als ich den Namen des Pubs las.
Gerade öffnete sich die Tür. Ein Mann in Sakko und Anzughose trat heraus, klappte den Kragen hoch und zündete sich eine Zigarette an. Aus dem Inneren des Pubs drangen Gemurmel und Musik. Ich trat ein. Der dunkle Holzfußboden klebte ein wenig, in einer Ecke standen ein Billardtisch und ein Flipperautomat und auf dem kleinen Röhrenfernseher an der Wand lief Fußball.
Ich steuerte den Tisch unterhalb des Fernsehers an, da ich dort an der Wand eine Steckdose entdeckt hatte, kramte das Ladekabel aus dem Rucksack und steckte das Handy dran. Dann ging ich an den Tresen. Schräg gegenüber saß ein massiger Kerl und betrachtete sein leeres Glas, das winzig aussah in seinen großen Händen. Er hatte einen buschigen rötlichen Bart und trug die Haare in einer Art Dutt auf dem Hinterkopf; unauffällig lugte ich um den Tresen herum, um festzustellen, ob er einen Schottenrock trug. Das war nicht der Fall.
„Noch einen für dich?“, sprach ihn die Barkeeperin an.
Der Mann nickte und schob einen Schein rüber. Ich beobachtete, wie sie ihm einen Apfelsaft eingoss.
„So einen nehme ich auch“, sagte ich in meinem Schulenglisch, bezahlte, und erwähnte etwas lauter als nötig: „Ich wandere den West Highland Way.“
Die Frau, sie war deutlich jünger als ich, lächelte breit und antwortete mit australischem Akzent:
„Ihr Verrückten. Ich könnte das nicht. Die Kälte im Hochland, der ewige Wind... Und dann erst die Mücken!“
„Gestochen werden eh immer die anderen“, sagte ich.
Die Barfrau zog die Augenbrauen hoch, und stellte mir den Apfelsaft hin. Ich sah zu dem Rothaarigen hinüber, aber dessen Aufmerksamkeit war auf den Fernseher gerichtet.
„In Schottland trinkt man Bier“, sagte neben mir jemand auf Deutsch. Ein hagerer Typ mit schwarzem Basecap war an den Tresen getreten.
„Man sieht mir wohl an dass ich Deutsche bin?“, fragte ich.
„Man hört es.“
In akzentfreiem Oxford Englisch bestellte er drei Bier. „Streber“, sagte ich.
„Nö. Englisch-Lehrer.“
Er bezahlte seine Pints und wendete sich mir mit einem Schmunzeln zu. Ich bemerkte einen tätowierten Drachen an seinem Hals. Zusammen mit dem Drei-Tage-Bart und dem schmalen Gesicht hatte er etwas Verlebtes an sich, wie von jahrelangem Schlafmangel. Ich schätzte ihn auf etwa mein Alter, wobei ich mich da auch täuschen konnte (ich selber zum Beispiel ging locker für 25 durch, obwohl ich letztes Jahr 31 geworden war). Mit geübtem Griff klemmte er die drei Biergläser zwischen die langen Finger, und ich sah, dass auch seine Hände mit Tattoos übersät waren.
„Ja klar, Englisch-Lehrer. Und ich bin die Queen.“
„Ach so? Ich dachte, Mary Poppins.“
Seine Augen wanderten kurz zu dem Bubikragen mit Schleife an meiner Bluse, bevor er mich wieder direkt fixierte. Er hatte hellbraune, wache Augen.
„Dann kannst du mir ja bestimmt auch sagen, wie man den Namen dieser Stadt ausspricht.“
„Klar. Milngavie.“ Es klang tatsächlich ziemlich authentisch. „Mach dir nichts draus. Ich hab den Vorteil, dass mein Vater aus Schottland stammt, deswegen komme ich gut mit dem Dialekt klar. Aber meine Kumpels dahinten, ick schwör dir, die verstehen kein Wort seit wir hier sind.“
Er deutete in Richtung Eingangstür, zu einem Tisch ein paar Meter von meinem entfernt, wo zwei Männer auf den Stühlen fläzten. Ich sah leere Pint Gläser auf ihrem Tisch und drei Wanderrucksäcke an der Wand neben ihnen.
Die Art, wie er „ick schwör dir“ gesagt hatte, ließ mich fragen:
„Seid ihr aus Berlin?“
„Neukölln“, bestätigte er, und ging mit dem wiegenden Schritt von trainierten Männern zu seinem Tisch. Na gut, dachte ich, ein mit Tattoos übersäter Englisch-Lehrer, das war in Berlin sogar halbwegs glaubhaft. Seine Kumpels nahmen die frischen Biere entgegen, und er rutschte auf einen freien Stuhl.
Als ich kurz darauf mit meinem Saft an ihnen vorbeiging, neigte der Typ mit Basecap den Kopf in einer ironischen Verbeugung und prostete mir zu, als wäre ich wirklich die Queen.
Ich nahm demonstrativ mein Handy zur Hand, um auch dem Rest meiner Familie – also Mama, Papa und meiner Schwester Laura – zu schreiben, dass ich gut angekommen sei. Aber die Anwesenheit des Halbschotten einige Tische weiter nahm ich wahr, als hätte die Luft dort einen anderen Aggregatzustand.
Die Tür zum Pub ging auf, ein Pärchen in farblich abgestimmten Wanderklamotten trat, einen kräftigen Windstoß mit sich bringend, ein; ihnen folgte eine Gruppe einheimischer Damen, die sofort zur Bar strebten und Gin Tonics bestellten. Zu ihnen gesellten sich kurz darauf ihre Männer, und während sich der Pub zusehends füllte, ließ meine Anspannung nach. Ich sah auf die Uhr. Kurz nach halb sechs. Es würde noch bis weit nach neun hell sein. Mein Plan war, heute noch ein oder zwei Kilometer aus Milngavie rauszukommen, irgendwo mein Zelt aufzuschlagen, um morgen früh frisch und ausgeruht die erste Etappe zu starten.
***
Eine halbe Stunde später saß ich immer noch in meiner Ecke. Ich hatte mich über die Messenger App auf dem Handy festgequatscht mit meinem besten Freund Heinrich. Er befand sich grundsätzlich in einer anderen Zeitzone als ich, aber als ich ihm vorhin eine Nachricht geschickt hatte mit meinem Standort und meinem Vorhaben, war er zufällig gerade online gewesen und hatte sofort reagiert: „Schottland, Mella?! Ernsthaft? Haben die da überhaupt Cappuccino?“
Wir hatten uns im Hörsaal 1 der Humboldt-Universität Berlin kennengelernt, Studiengang Kunstgeschichte, erste Vorlesung, „Einführung in die Formanalyse und Grundlagen der Bildgeschichte“. Ich hatte mindestens zehn Minuten lang aufmerksam gelauscht, Notizen gemacht und mich angemessen verhalten. Dann, als ein anderer Student sich bei einer Frage der Professorin schnipsend wie ein Erstklässler gemeldet hatte, war mir halblaut herausgerutscht: „Die Gemüselasagne hat einen Haken“. Mein Sitznachbar hatte sich erkundigt, ob er mir irgendwie helfen könne. Ich hatte geantwortet, dass er sich keine Sorgen machen müsse, das sei nicht ansteckend. Nach der Vorlesung waren wir einen Cappuccino trinken gegangen, und seither unzertrennlich. Als ich nach drei Semestern das Studium schmiss, mein Kinderzimmer in der Wohnung meiner Mutter räumte, und in eine WG in Kreuzberg zog, half Heinrich mir beim Umzug – wobei er eigentlich mehr in einer Ecke stand und darauf achtete, mit seinem Vintage Hugo Boss Sakko keine der Wände zu berühren, als dass er wirklich mit anpackte. Als einige Jahre später meine erste richtig erwachsene Beziehung in die Brüche ging, schaute er sich nächtelang mit mir Julia-Roberts-Filme an. Er kaufte regelmäßig ein Stück Kuchen in dem Backshop, in dem ich jobbte, und obwohl er mich immer bestärkt hatte in meinem Vorhaben, mich eines Tages an der Universität der Künste zu bewerben, war er es schließlich gewesen, der ohne mein Wissen eine Bewerbung in meinem Namen losgeschickt hatte. So war ich damals zu einem „richtigen“ Job gekommen – als Sachbearbeiterin für Kommunikation am Schloss Charlottenburg, bei der Stiftung Preußische Schlösser.
Es war ein guter Job gewesen. Bis vor zwei Monaten, als ich gekündigt hatte.
***
Ich verabschiedete mich mit einem Kuss-Smiley von Heinrich. Es war kurz nach sechs.
Auf der Toilette betrachtete sich gerade eine blonde junge Frau, die noch kleiner war als ich, und ein hautenges rosa T-Shirt zu einer roten Funktionshose trug, mit dem selbstkritischen Blick von gutaussehenden Menschen im Spiegel. Als ich aus der Kabine trat, stand sie immer noch da. Auf meine lila Stiefel deutend sagte sie in schottischem Englisch:
„Die sind ja ganz entzückend!“
„Endlich bemerkt das mal jemand.“
Beide musterten wir daraufhin ihre eigenen braun-grünen Wanderschuhe. Sie waren knöchelhoch, aus Goretex, und potthässlich. Sie schien drauf und dran, sich dafür zu entschuldigen, und wir mussten beide grinsen.
So kamen wir ins Gespräch. Juliette stammte aus Inverness, oben im Norden, und wollte den West Highland Way gemeinsam mit einer Freundin und ihrer Mutter laufen, die beide noch auf dem Weg hierher seien, aber in Kürze im Pub eintreffen würden. Heute Nacht würden sie alle drei in einem der Bed & Breakfasts in Milngavie übernachten, um dann morgen früh zu starten.
„Aber ich schaff das sowieso nie im Leben“, vertraute sie mir an.
Und wieso machst du es dann?, wollte ich fragen, aber sie redete schon weiter, und zwar über die Wetterprognose, die keinen Regen für die nächsten drei Tage vorausgesagt habe, aber dass man in Schottland genau genommen nur die nächsten drei Stunden halbwegs verlässlich voraussagen könne.
„Jeder weiß das, trotzdem reden alle über die Drei-Tages-Prognose“, erklärte sie. Wir hatten unterdessen die Toilette verlassen. Juliette ging zur Bar und bestellte einen Cider. Während sie auf das Getränk wartete, lehnte sie sich mit dem Rücken an den Tresen, die Ellenbogen darauf gestützt, und ließ ihren Blick im Pub umherwandern. Um mich herum schnappte ich Gesprächsfetzen auf von amerikanischem Englisch, aber auch Französisch und Spanisch. Die Gruppe schottischer Frauen von vorhin lachte schrill über eine Bemerkung, die einer der Männer gemacht hatte, und die Barkeeperin hatte Verstärkung hinter der Theke bekommen. Ein paar mehr Anzugträger hatten sich zu dem Raucher von vorhin gesellt, aber auffällig viele Leute trugen Wanderklamotten. An einem der hinteren Tische putzte eine grauhaarige Frau völlig ungerührt von dem ganzen Gewusel um sie herum ihre Wanderschuhe. Der Fernseher übertönte die Geräuschkulisse. Juliette zog mich zu sich heran.
„Hey schau mal, wie findest du den da hinten, mit den dunklen Haaren? Ich steh ja irgendwie auf diese südländischen Kerle...“
Sie deutete zu dem Tisch, an dem die drei Berliner saßen. Der eine war tatsächlich ein eher dunkler Typ, ich vermutete türkischstämmig. Ich nickte unverbindlich und beobachtete den hageren Halbschotten mit Basecap, der gerade lauthals lachte, während Juliette sich zur Bar umdrehte, um ihren Cider entgegen zu nehmen.
„Trinkst du gar nichts?“, wollte sie wissen.
„Sie nimmt einen Apfelsaft“, sagte der Halbschotte, der plötzlich neben uns am Tresen stand, in Richtung Barkeeperin, und dann, formvollendet, zu Juliette und mir: „Ladys, die Runde geht auf mich.“
Ich wechselte einen Blick mit Juliette, die natürlich registriert hatte, von welchem Tisch er gekommen war. Mein Rucksack lehnte ein Stück weiter an der Wand und sah tonnenschwer aus.
„Gut, auf deine Rechnung, Professor Snape“, sagte ich.
Sie kamen alle drei aus Neukölln. Der Halbschotte hieß Craig, wurde aber von seinem Kumpels Mackie genannt, und war in Dumfries, Schottland geboren. Mit 14 hatte es ihn zusammen mit seiner Mutter, einer gebürtigen Deutschen, nach Berlin verschlagen. Auf dem Gymnasium in Neukölln hatte er dann Mesut kennengelernt – das war der „südländische Typ“, der nun rechts neben ihm saß. Mesut hatte einen Fußballerhaarschnitt mit rasierten Schläfen und längerem Deckhaar, arbeitete bei dem Saturn Markt am Alexanderplatz als „Junior Manager Operations“, und trug eine brandneu aussehende Funktionshose, anders als Mackie, dessen Wanderklamotten aus Jogginghose und Kapuzenpulli bestanden. Gleich, nachdem Mackie ihn Juliette und mir vorgestellt hatte, verschwand Mesut mit seinem Handy und einer Packung Kippen nach draußen.
Der dritte im Bunde hieß Basti, hatte volle Lippen, dichtes dunkelblondes Haar, und war vollkommen bartlos, was ihn seltsam jugendlich aussehen ließ. Er sei selbstständig, „E-Roller, ihr wisst schon“, sagte er. In der Zeit, in der Mackie einen Schluck Bier trank, leerte Basti sein ganzes Glas, machte aber einen nüchternen Eindruck. Er trug eine Brille mit getönten Gläsern, und ich hatte den Verdacht, dass er dahinter auf Juliettes und meine Brüste starrte; bekleidet war er mit einem Bundeswehroutfit samt Springerstiefeln.
Die drei gaben eine ziemlich schräge Truppe ab.
Mackie bestritt in seinem gepflegten Englisch den größten Teil der Unterhaltung. Gerade tauschte er sich mit Juliette über die Unterkünfte auf der Tour aus.
„Also wir haben alles schon letztes Jahr gebucht“, erzählte sie. „So sind wir gezwungen, jeden Tag zu wandern, und können uns nicht drücken. Wir planen 6 Tage, jeden Tag im Schnitt etwa 16 Meilen, wobei die Tagesetappen natürlich unterschiedlich lang sind.“
Das entsprach dem, was in meinem Buch über den West Highland Way stand. Die meisten Wanderer gingen den Weg in 6 Tagen.
„Wir brauchten nichts buchen“, erklärte Mackie. „Haben unsere Unterkunft dabei.“
„Genau wie ich“, warf ich ein.
„Ist das nicht kalt im Zelt?“, fragte Juliette.
„Vielleicht finde ich ja jemanden, der mich wärmt“, sagte ich.
„Gerne!“, meldete sich Basti. Ich sagte:
„Schafe. Ich meinte Schafe. Ich kuschel mich einfach an ein wolliges Lämmchen.“
Basti verzog den Mund zu einem Grinsen. Er wirkte auf mich wie jemand, der in seiner Kindheit Käfer gequält hatte. Oder Kätzchen.
Mesut kam zurück.
„Nur Weiße hier“, maulte er. „Lauter weiße Wanderer. Was mach ich hier eigentlich, scheiße.“
„Uns den Weg weisen. Dein Handy hält dreimal so lange wie meins“, sagte Mackie, der in sein Telefon vertieft gewesen war, und nun aufblickte. „Und weil Basti sein Navi nur anmacht, um der Frau mit der sexy Stimme zuzuhören, kann man ihn als Navigator genauso wenig gebrauchen.“
Basti nahm seine Sonnenbrille ab, um die Gläser zu putzen. Er grinste immer noch. Kaum hatte er die Brille abgesetzt, kniff er die Augen zusammen, als würde ihn das schummrige Licht im Pub blenden.
„Ohne Scheiß, Basti ist verliebt in sein Handy-Navi“, sagte Mackie zu Juliette, die zwischen den beiden hin- und herschaute.
„Man braucht doch auf dem West Highland Way kein Navi“, sagte sie schließlich wahrheitsgemäß. „Der Weg ist gut ausgeschildert. Ihr müsst nur Ausschau halten nach dem weißen Sechseck mit dem Kreis in der Mitte.“
„Wir bewegen uns gern auch mal abseits der gewohnten Pfade“, sagte Mackie.
„Ja klar. So nach dem Motto – bis ins Hochland, dann nach links, oder was?“, sagte ich.
Er lachte lauthals.
„So ungefähr.“
Juliette warf ein:
„Ihr solltet das ernst nehmen. Wenn ihr den Weg verlasst, könnt ihr euch leicht verirren. Im Hochland sind schon Menschen verschwunden.“
„Wir sind auf alles vorbereitet“, versicherte Mackie, und klopfte sich an den Oberschenkel, wo der Griff eines langen Messers aus einer schwarzen Scheide lugte.
„Wie kommt's eigentlich, dass du jetzt Urlaub hast?“, fragte ich. „Es sind doch keine Ferien in Berlin.“
Ich wusste das, weil meine Mutter als Hortleiterin in einer Grundschule arbeitete.
„Du glaubst mir wirklich nicht, dass ich Lehrer bin, oder?“, fragte er, und hob theatralisch die Hände, mit den Handflächen nach oben.
„Meine Stelle lief zum letzten Halbjahr aus“, erklärte er dann. „Eine Elternzeitvertretung. Ich bin also gerade arbeitslos. Und ich hatte schon lange mal meinen Vater besuchen wollen. Tja, und weil Mesut Stress mit seiner Freundin hatte, und Basti seit ungefähr zwei Jahren keinen Urlaub, haben wir kurzerhand die Flüge gebucht. Nachher kommt mein alter Herr, er hat mir gerade geschrieben, Jungs. Und morgen wandern wir los. Wir brauchten einfach mal ne Luftveränderung.“
Die anderen beiden nickten eifrig.
„Ich finde, ihr seht eher aus, als würdet ihr einen Junggesellenabschied feiern, hättet aber den Bräutigam vergessen.“
Wir unterhielten uns immer noch auf Englisch. Alle lachten, bis auf Basti, der die Sprache anscheinend nicht so gut beherrschte.
„Du bist witzig, Mella“, sagte Mackie. „Witzige Frauen find ich sexy.“ Er machte eine Pause. „Und du trinkst wirklich nur Apfelsaft?“
„Ich muss noch fahren“, sagte ich.
„Gibt es einen Grund, warum du so ganz alleine wanderst?“, fragte Juliette. „Ich hätte eine Höllenangst!“
„Eigentlich wollte ein Freund mitkommen“, log ich. „Aber der ist leider krank geworden.“
Mein Handy, das ich vor mir auf den Tisch gelegt hatte, vibrierte mit einer eingehenden Nachricht. Ich wollte es schnell wegpacken, aber es war zu spät, auf dem Bildschirm leuchtete ein Bild von Lilly und mir auf.
„Hey, ist das deine Tochter?“, rief Juliette.
„Sie ist vier“, antwortete ich.
„Kann ich mal sehen?“
Wiederstrebend zeigte ich ihr das Foto. Lilly war eines dieser Kinder, bei denen man nicht sagen konnte, ob sie ein Junge oder Mädchen war, mit ihren halblangen blonden Strähnen, dem klaren Gesicht, immer in Shorts und T-Shirt, und meistens barfuß.
„Voll süß. Sieht dir echt ähnlich, die Kleine.“
Kann gar nicht sein, dachte ich, hielt aber den Mund. Viel zu kompliziert alles. Ich erwischte Craig dabei, wie er mich mit einem Blick musterte, als wäre ich ein Gebrauchtwagen, den es auf versteckte Mängel zu prüfen galt.
Juliette erhob sich, irgendwo in Richtung Tresen deutend.
„Da ist meine Mom“, sagte sie, bevor sie zu mir gewandt noch hinzufügte: „Echt mutig, dass du das durchziehst, Mella.“
Sie drückte mich kurz, nickte Mackie und Basti zu, und verschwand in der dichter werdenden Menschenmenge im Pub. Basti stand ebenfalls auf, die leeren Gläser in der Hand, um Nachschub zu holen. Craig und ich blieben am Tisch zurück.
„Bist du noch mit ihm zusammen?“
„Wem?“
„Dem Vater deiner Tochter?“
„Nein.“ Ich musterte ihn. „Was ist mit dir? Frau und Kinder zu Hause?“
„Nö. Nur ne kleine Schwester, die verdammt nervt.“
In der darauffolgenden Pause musterten wir uns gegenseitig.
„Warum wanderst du wirklich den West Highland Way?“, fragte er unvermittelt.
Ich zuckte mit den Schultern:
„Aus demselben Grund wie ihr: ich brauchte ne Luftveränderung.“
Er sah mich aus seinen hellbraunen Augen an.
„Dann viel Glück Mella. Ich hoffe, du findest, was du suchst.“
Ich stand auf.
„Man sieht sich“, sagte ich.
„Hoffentlich“, antwortete er grinsend.
Aus dem Kerl sollte man schlau werden.
Zurück an meinem Tisch wuchtete ich meinen Rucksack über die Schulter und machte, dass ich raus kam. Die Tür des Pubs schloss sich mit leisem Bimmeln hinter mir. Ich sah Mesut, der abseits von den anderen Rauchern mürrisch den wolkenverhangenen Himmel studierte, und entfernte mich zügig. Je weiter ich heute kam, umso mehr Vorsprung hatte ich vor diesen drei merkwürdigen Typen, dachte ich, während ich an den mittlerweile geschlossenen Geschäften wieder in Richtung des Wegweisers lief.
Ich erreichte die Treppe, und setzte endlich meinen Stiefel auf den West Highland Way.