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Kapitel Vier

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Am nächsten Morgen wachte ich sehr früh auf, mit klammen Klamotten, aber erstaunlich ausgeruht. Draußen war es ganz ruhig, bis auf das beständige Rauschen der Blätter im Wind. Wahrscheinlich wäre ich noch eine Weile im warmen Schlafsack liegen geblieben, wenn ich nicht dringend pinkeln gemusst hätte.

Ich wühlte mich aus dem Zelt, und als ich mich hinter einem Busch ein paar Meter weiter hinhockte, stellte ich fest, dass ich von der kurzen Strecke gestern einen unvorstellbaren Muskelkater im Hintern hatte. Irgendwie kam ich wieder auf die Beine. Mein Magen knurrte vernehmlich. Abgesehen davon fühlte ich mich blendend.

Die Luft war klar und nicht zu kalt, und durch das Blätterdach sah ich kleine Flecken blauen Himmels. Erste Strahlen der Morgensonne fanden ihren Weg hindurch. Ich wusste, dass der Weg nur ein paar Meter von mir entfernt vorbeiführte, dennoch fühlte ich mich hier in meiner kleinen Kuhle mitten im Wald so sicher und geborgen wie in einer Höhle.

Ich entdeckte einen kleinen Teich mit silbrig glänzendem Wasser, auf dem ein paar Blätter schwammen. Ein Bächlein schlängelte sich zwischen den Bäumen oberhalb durch dunkelgrünes Gras und speiste das Wasserloch.

Kurzerhand zog ich mich aus und watete hinein. Meine Füße versanken in einer weichen Schicht aus Blättern, Schlamm stieg hoch, doch das Wasser was erfrischend und irgendwie sanft.

Hinterher stand ich am Rand, trocknete mich ab und lachte laut, was sich seltsam anhörte im stillen Wald. Meine Klamotten von gestern waren immer noch klamm, rochen aber nicht unangenehm, obwohl ich ja sogar darin geschlafen hatte. Ein Deo hatte ich nicht mehr, seit die missmutige Linda es mir weggenommen hatte, aber das fand ich gar nicht mehr so schlimm.

Ich kochte eine riesige Portion Haferflocken zu Porridge auf, verspeiste dazu den Apfel, den ich noch vom Flug dabei hatte, und trank zwei große Becher heißen süßen Cappuccino. Dazu hörte ich Katy Perry auf meinem Handy. Dann verstaute ich meinen Kram im Rucksack, diesmal so, dass ich überall gut würde dran kommen können, und kämpfte mich durchs Dickicht zurück auf den Weg.

Vor mir lag der West Highland Way als breiter Trampelpfad, der weiterführte durch diesen dichten grünen Farnwald. In der Ferne war zwar noch das leise Brummen des Verkehrs aus Milngavie zu hören, aber trotzdem schien die Zivilisation schon sehr weit weg, obwohl ich gestern bloß zwanzig Minuten, maximal eine halbe Stunde gelaufen war.

Der Kuckuck rief zweimal, als wolle er „Los geht’s, los geht‘s!“ sagen.

***

Die nächsten paar Stunden wanderte ich stetig ohne größere Pause, und gewöhnte mich an eine gleichmäßige Bewegung von Armen und Beinen. Das Klacken der Stöcke auf dem Boden und das Knirschen kleiner Steinchen unter meinen Stiefeln bildeten den Takt, während sich die Landschaft langsam öffnete und die Sonne höher stieg. Wiesen und Felder wechselten sich mit kleineren Waldstücken auf den Hügelkuppen ab. Bäche speisten den Fluss, an dessen Ufer der West Highland Way noch eine Weile entlangführte, bis er schließlich in die Hügel abbog. Ich überquerte eine sehr schmale Straße und wanderte an ein paar niedrigen Steinhäuschen vorbei, die versteckt hinter Trockenmauern in der Vormittagssonne dösten und den Eindruck machten, als stünden sie hier schon seit Jahrhunderten, bloß dass jetzt keine Pferdekutschen, sondern Pick-ups in den Auffahrten parkten. Gegen elf machte ich auf einem umgestürzten Baumstamm eine erste Pause. Hinter einem Zaun grasten zottelige Rinder.

Abgesehen von den letzten zehn Minuten hatte ich das Gewicht des Rucksacks auf meinem Rücken heute kaum wahrgenommen, was an ein Wunder grenzte, wenn ich an den gestrigen Tag dachte. Nur mein Nacken schmerzte ein wenig, und der Muskelkater war immer noch höllisch. Ich kochte mir einen Cappuccino, aß einen Müsliriegel, und beobachtete, wie andere Wanderer an mir vorbeizogen. Die meisten gingen zu zweit oder in größeren Gruppen. Den einen oder anderen erkannte ich aus dem Pub von gestern Abend, aber Juliette oder die drei Deutschen sah ich nicht.

Ich zog mein Telefon hervor, scrollte unschlüssig durch die Nummern, und rief schließlich Ekat an.

„Mella, Liebes, wie geht es dir, wo bist du?“, klang die vertraute Stimme aus dem Telefon. Im Hintergrund hörte ich monotones Brummen; sie war also unterwegs. Ekat fuhr, den Fotokoffer auf der Rückbank ihres antiken Audis, ständig quer durch Deutschland. Sie arbeitete als freiberufliche Fotografin für verschiedene Magazine und fotografierte gelegentlich Hochzeiten. Man erreichte sie, egal wo sie war, auf dem Handy, da sie aus unerfindlichen Gründen immer, wirklich jederzeit, Empfang hatte. Falk hatte einmal die Vermutung geäußert, dass sie sich in irgendein Diplomatennetz eingehackt hatte, vielleicht mit Hilfe ihres mittleren Sohnes, der als Mathematiker in Frankfurt am Main arbeitete.

Ich erzählte Ekat von meinem gestrigen Tag und Abend, wobei ich großzügig darüber hinweg ging, dass ich beinahe aufgegeben hätte. Wahrscheinlich konnte sie sich das sowieso denken. Dann wollte ich ihr den heutigen Vormittag schildern und stellte fest, dass eigentlich nichts passiert war, außer, dass die Sonne geschienen hatte und ich gelaufen war.

„Aber langweilig war es kein bisschen, Ekat“, sagte ich, selber verwundert.

„Genau das ist es, Mella, das ist die Magie. Du wirst immer weiter laufen wollen. Übung und Nichtanhaften führen zur Ruhe des Geistes. Pass nur auf, dass du keine Blasen kriegst, dann ist alles gut. Hast du die Blasenpflaster eingepackt, wie ich dir geraten hatte?“

„Ja“, log ich, und dann: „Warst du jetzt eigentlich bei Laura? Sie hatte mir noch gesagt, dass du sie besuchen wolltest.“

„Von dort komme ich gerade.“

„Wie geht es ihr? Sie antwortet nicht auf meine Nachrichten.“

„Ach, alles wie immer. Sie fährt ihre Jungs zum Fußball, geht ins Fitnessstudio, oder kocht. Um neun geht sie ins Bett. Heute Morgen hab ich sie gefragt, ob sie eigentlich noch Sex haben, sie und ihr bayerischer Bierbrauer.“

„Was hat sie geantwortet?“

„Ob ich zum Frühstück lieber Weißwurst möchte, oder Müsli.“

Ekat lachte grölend. Ihrer Meinung nach sollten die Menschen grundsätzlich mehr Sex haben. Vögeln für den Weltfrieden, das war ihr Mantra. Unvermittelt spukte mir Falk durch den Kopf. Beim Sex hatte ich gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Da waren diese Kratzer auf seinem Rücken gewesen. Ich erinnerte mich noch genau an den Moment, als ich über die Kratzer strich, ihn gedankenabwesend fragte, was denn das sei, und im selben Moment die Antwort bereits kannte. Etwas in meinem Inneren war damals abgesackt, als hätte sich der Boden unter mir aufgetan, und gleichzeitig waren die Wände des Schlafzimmers auf mich eingestürzt wie in einem Horrorfilm; all das innerhalb von Sekundenbruchteilen.

„Was von Falk gehört in letzter Zeit?“, fragte Ekat. Ich hatte schon lange den Verdacht, dass sie Gedanken lesen konnte.

„Ich hab ihm geschrieben. Warum?“

„Ach, auch wegen deiner Schwester. Vorhin, kurz bevor ich abgefahren bin, hat sie gemeint, dass sie es gar nicht gut findet, dass du ihn und Lilly so lange alleine lässt. Weil Falk doch gerade so labil sei.“

„Was soll der Schwachsinn? Falk und Lilly kommen prima klar!“

„Ich glaube“, tönte Ekats Stimme etwas blechern aus dem Handy, „dass Laura sich einfach nicht vorstellen kann, dass man sich wegen eines Seitensprungs trennt. Gerade wenn ein Kind da ist. Sie würde ihrem Markus alles verzeihen, nur damit die Familie zusammen bleibt.“

„Hm“, machte ich.

„Ja“, sagte Ekat.

„Du hast ihr nichts erzählt, oder?“

„Natürlich nicht. Wie und wann du das tust, wirst du selber entscheiden.“

Wir schwiegen beide einen Moment, dann sagte ich.

„Es gibt keinen besseren Zeitpunkt, etwas anzufangen, als jetzt.“

Bestimmt lächelte sie.

„Mach's gut Melaniaschätzchen.“

„Mach's gut Ekatrinchen, wir hören uns.“

***

Nach dem Telefonat schmierte ich mein Gesicht mit Sonnencreme ein, da meine helle Haut zu Sonnenbrand neigte. Ich überlegte, Falk anzurufen, um ihn daran zu erinnern, auch Lilly regelmäßig einzucremen. Aber die Kleine war jetzt sowieso in der Kita. Heute Abend wollte ich es versuchen, bevor sie ins Bett ging.

Dann dachte ich an Laura, meine Überfliegerschwester. Ja, sie hatte es unseren Eltern nie verziehen, dass sie sich getrennt hatten. Komischerweise war ihre Wut auf meinen Vater noch viel größer als auf meine Mutter, mit ihm redete sie so gut wie gar nicht mehr. Aber wenn einer den anderen betrügt – dann war es doch ganz normal, dass man sich trennte! Vielleicht nur nicht in ihrer schicken bayerischen Vorstadtwelt, wo sich sowieso alle gegenseitig etwas vormachten. Sie konnte den Dialekt ihrer neuen Freundinnen täuschend echt nachäffen. Da sie nur noch selten nach Berlin kam, setzte ich mich so oft es ging alleine oder zusammen mit Lilly, die Lauras Jungs vergötterte, in den ICE nach München. Und wann immer meine Schwester und ich uns sahen, war es wie früher, wenn wir abends, als längst das Licht hätte gelöscht sein sollen, zur anderen ins Bett gehuscht waren, um zusammen unter der Decke zu lesen und dann eingekuschelt einzuschlafen, oder wir später, als Jugendliche, ganze Wochenenden vor dem Fernseher verbracht hatten – Laura hatte mir zuliebe alle Filme, die ich aus der Videothek angeschleppt hatte, mitgeschaut, verwechselte aber bis heute Schlüsselszenen, maßgebliche Charaktere und zeitlose Zitate aus Klassikern wie der Indiana Jones Reihe, den Star Wars Episoden I bis VI, oder Titanic.

Plötzlich vermisste ich sie sehr, und nahm mir vor, sie später ebenfalls anzurufen.

***

In einem winzigen Dorf, am Brunnen auf dem Dorfplatz, legte ich meine Mittagspause ein. Es gab Weißbrot und Käse, beides hatte ich in einem Tante-Emma-Laden erstanden, den ich beinahe übersehen hätte, wenn er nicht im Wanderführer explizit ausgewiesen worden wäre. Ich spülte meine Mahlzeit mit einer eiskalten Dose Cola runter, und machte mich gegen 15 Uhr wieder auf den Weg.

Beim Pub am Ortsausgang hielt ich noch einmal an, um die Wasserflaschen aufzufüllen. Einige Wanderer schickten sich ebenfalls gerade an, den zweiten Teil der Tagesetappe in Angriff zu nehmen. Ich erkannte Juliette an ihrem grellpinken Outfit, die, gefolgt von einer ziemlich dicken Frau, die wohl ihre Mutter sein musste, und einer jüngeren Frau, die humpelte, gerade in den Schatten vor der Wirtschaft trat.

Die drei trugen jeweils nur einen kleinen Tagesrucksack. Wahrscheinlich wurde ihr Gepäck von Unterkunft zu Unterkunft transportiert; im Reiseführer stand, dass die meisten Hotels diesen Service anboten. Ich hob grüßend einen Wanderstock.

„Oh, hi Mella“, rief Juliette erfreut. „Wie läuft es sich?“

„Großartig! Habt ihr euch auch so gut eingelaufen?“

Juliette nickte etwas gezwungen. Wir hatten uns gemeinsam in Bewegung gesetzt, aber schon nach wenigen Schritten blieben ihre beiden Begleiterinnen hinter uns zurück.

„Wir lassen es langsam angehen“, sagte sie entschuldigend.

„Trotzdem müsst ihr mich überholt haben. Ihr seid doch sicherlich schon eine Weile hier, oder?“

Juliette verdrehte die Augen und raunte mir zu:

„Weil wir im Taxi hergekommen sind. Meine Freundin hat sich gestern Abend im Pub den Knöchel verstaucht, und meine Mutter kam heute früh schon den ersten Hügel, in dem Park in Milngavie, kaum hinauf. Jetzt haben wir Mittag gegessen, und die beiden sind wild entschlossen, den zweiten Teil der Tagesetappe zu wandern, aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass sie es schaffen werden.“

Das glaubte ich auch nicht, sagte aber aufmunternd:

„Es sind doch nur noch neun Meilen bis Balmaha.“

„Eben.“ Juliette sah ziemlich unglücklich aus. Dann sagte sie unvermittelt:

„Übrigens hab ich deine Freunde vorhin noch mal getroffen.“

„Die drei Typen aus Berlin? Wann?“

„Gegen elf, gerade, als wir wieder im Stadtzentrum von Milngavie ankamen, um uns ein Taxi zu rufen. Da sind sie uns über den Weg gelaufen. Sie waren unterwegs in Richtung Pub, um sich nochmal mit Craigs Vater zu treffen. Sahen ganz schön schal aus, alle drei.“

„Die werden wahrscheinlich gar nicht erst loslaufen. Ist mir auch egal.“

„Ach so. Du hast ihn aber ganz schön angebaggert, diesen Craig.“

„Quatsch!“

Sie lachte.

„Ich fand ja Mesut echt süß. Leider vergeben. Dafür hab ich dann später einen Spanier kennen gelernt. Der wandert auch alleine. Hat uns vorhin überholt.“ Juliette warf einen kurzen Blick über die Schulter. „Kein Wunder, bei dem Tempo, das wir gerade drauf haben.“ Sie zwinkerte mir zu. „Also lass dich von uns nicht aufhalten.“

„Alles klar, dann mach's gut“, verabschiedete ich mich, und marschierte mit größeren Schritten voran.

Während der Nachmittag weiter fortschritt, schlängelte sich der Pfad durch dichtes Buschwerk langsam aber stetig bergauf, entlang mehrerer Hügelkuppen. Später ging es auf einem Forstweg weiter, der einen Hügel umrundete. Auf der anderen Seite wies wieder ein Schild den Weg. Ich machte eine Trinkpause und bewunderte die gelb blühenden Büsche, die zu beiden Seiten des Weges bis über meinen Kopf in die Höhe wuchsen. Die kleinen Blüten glänzten fettig wie Butter und dufteten süß und frisch, wie Vanillepudding mit frisch gepresstem Orangensaft. Ich sog den Duft ein, dann machte ich ein Selfie von mir inmitten der gelben Pracht, und schickte es an Laura.

Kurze Zeit später traf ich auf einen schwarzhaarigen Mann in einem karierten Hemd, der am Wegesrand saß, den Rucksack neben sich, den Blick auf die nächste Anhöhe gerichtet.

„Weißt du, ob das schon der Conic Hill ist?“, fragte er. Er hatte einen spanischen Akzent.

„Nein, aber das müsste in meinem Buch stehen“, sagte ich.

Gemeinsam sahen wir in meinem Reiseführer nach. Der Spanier, der sich als Pedro vorstellte, drehte die Karte des Streckenabschnitts dreimal im Kreis und schien vergessen zu haben, aus welcher Richtung er überhaupt gekommen war. Also orientierte ich mich anhand der Karte und der Beschreibung, und meinte dann, dass es sich bei der Anhöhe vermutlich tatsächlich um den berüchtigten Conic Hill, den ersten wirklich steilen Anstieg des West Highland Ways, handeln müsse. Der kahle Hügel stellte gleichzeitig auch die Zielgerade vor dem dahinter liegenden Balmaha am Ufer des Loch Lomond, dar.

Pedro fragte, ob wir nicht gemeinsam ein Stück laufen wollten, er habe leider keine Karte mitgenommen. Ich dachte an Juliette und antwortete, dass er sich gar nicht verlaufen könne, er müsse einfach nur dem weißen Sechseck folgen. Dann ließ ich ihn sitzen und wanderte weiter.

Die gelb blühenden Büsche wichen ausgedehnten Wiesen, die sich sanft zu den steileren Hängen des Conic Hill hinauf erstreckten. Schafe weideten in kleinen Grüppchen, und als ich die Anhöhe noch ein Stück weiter erklommen hatte, breitete sich unvermittelt das blau glitzernde Wasser des Loch Lomond hinter der Kuppe des Conic Hill aus. Auf einem steilen Pfad sah ich die bunten Rucksäcke anderer Wanderer und Wandergruppen, die sich langsam hinauf bewegten. Ein kräftiger Wind schob die Wolken über den Himmel, während sich die tief stehende Sonne im Westen bereits dem Horizont näherte.

Der Anstieg war brutal. Nach jedem Schritt war es eine neue Überwindung, den nächsten zu gehen, und der Rucksack schien plötzlich wieder eine Tonne zu wiegen. Auf etwa halber Höhe erwog ich, hier zu campen. Leider war der Abhang so steil, dass an einen Zeltaufbau nicht zu denken war. Nach dreiviertel des Weges wollte ich den Notarzt rufen, weil meine Lunge sich anfühlte, als hätte ich ein glühendes Stück Kohle verschluckt. Nach einer knappen Stunde erreichte ich endlich den Gipfel, und ließ erschöpft den Rucksack vom Rücken gleiten.

Von hier oben hatte man einen gigantischen Blick über den von Wäldern gesäumten, fast 40 Kilometer langen, aber nur etwa 8 Kilometer breiten See, der von unzähligen Flüssen und Bächen gespeist wurde. Auf der Wasseroberfläche spiegelten sich die roten und orangefarbenen Wolken am Himmel.

Ich hatte auf einer steinigen Fläche rechts des Weges angehalten, ebenso wie einige andere Wanderer. Gegenseitig machten wir Fotos von uns mit den Handys, beglückwünschten uns zur ersten erfolgreichen und nun fast geschafften Tagesetappe, und machten uns dann, einer nach dem anderen, an den Abstieg hinunter zum See. Balmaha, ein Örtchen am Ufer gleich unterhalb des Conic Hills, war das Ziel derjenigen Wanderer, die in Hotels übernachteten.

Ich jedoch verließ nach einigen Hundert Metern den Weg und kletterte einen seitlichen Ausläufer des Hügels wieder hoch, bis ich, immer noch weit oberhalb des Sees, einen flachen einigermaßen windgeschützten Platz fand.

Hier baute ich das Zelt auf, und dann kochte ich mir zum ersten Mal eine richtige warme Mahlzeit auf dem Gaskocher, eine Packung Bandnudeln mit Käsesoße.

Pasta in allen Variationen war so ziemlich das einzige, was meine Mutter je gekocht hatte. Seit ihrer aktiven Zeit bei Greenpeace ernährte sie sich vegetarisch, und ich sah die fleischlose, auf Nudeln basierende Ernährungsweise quasi als erblich bedingt an, ähnlich wie meine Cellulitis. Meine Schwester hingegen hatte es sich schon im Alter von acht Jahren zur Aufgabe gemacht, mehrmals die Woche das Abendessen für uns alle zuzubereiten. Leider hatte es ihr niemand gedankt. Mein Vater, der damals noch bei uns wohnte, schien keine Geschmacksnerven zu besitzen, er aß Abend für Abend alles auf, was auf seinem Teller landete, ohne hinterher sagen zu können, ob er Rührei oder Risotto in Weißweinsoße verspeist hatte. Mama schmierte sich nach Lauras liebevoll angerichteten Drei-Gänge-Menüs oft noch ein Käsebrot, angeblich, da sie nicht satt geworden sei, und ich war generell eher mäkelig bei allem, was nicht nach Nudeln schmeckte. Irgendwann hatte ich Laura dabei erwischt, wie sie Fleisch unter die Gerichte mogelte, und fortan hatten meine Mutter und ich uns geweigert, sie weiter für uns kochen zu lassen. Erst bei ihrer eigenen Familie in Bayern konnte sie ihre Leidenschaft voll ausleben.

Unwillkürlich berührte ich das kleine Tattoo auf der Innenseite meines linken Handgelenks. Es war ein winziges schlichtes Herz. Laura hatte dasselbe, wir hatten es uns stechen lassen, als sie 18 geworden war.

Als hätte sie es gespürt, summte mein Handy mit einer eingehenden Nachricht von Laura. Auf mein Selfie bezogen schrieb sie, ich sähe „etwas abgespannt“ aus, und ob das ein Pickel auf meiner Stirn sei. Sie habe außerdem die Flüge von Glasgow aus gecheckt, es gäbe mehrere Direktflüge nach München, und ich könne meinen „Selbstfindungstrip“ auch gerne bei ihr zu Hause machen, das Gästezimmer sei wie immer bereit für mich.

Ich zog den Fleecepulli über gegen den kühlen Wind, und las die Nachricht noch einmal, während die letzten Strahlen der bereits halb hinter dem Horizont verschwundenen Sonne den Loch Lomond in einen See aus flüssiger Lava verwandelten, der sich rot glühend vor den tiefschwarzen Hängen am gegenüberliegenden Ufer ausbreitete.

Mein Kuckuck rief, und wenn ich vorgehabt hatte, Laura anzurufen, so hatte sich dieses Vorhaben nun verflüchtigt.

Erst als ich gegen halb zehn in meinen Schlafsack kroch, fiel mir ein, dass ich vor lauter Ärger über meine Schwester erneut vergessen hatte, Falk und Lilly anzurufen. Morgen, so nahm ich mir fest vor, würde ich daran denken.

Der Wind zerrte heftig am Zelt, trotzdem dauerte es nur wenige Minuten, bis ich einschlief.

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